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Heft 87: Selbsttechnologien - Technologien des Selbst

2003 | Inhalt | Editorial | Abstracts | Leseprobe

Titelseite Heft 87
  • März 2003
  • 104 Seiten
  • EUR 11,00 / SFr 19,80
  • ISBN 3-89370-377-2

Zu diesem Heft

Wie der Prometheus-Mythos erzählt, gilt sich die Menschheit als ihr eigener Schöpfer. Vielleicht war dies schon der erste Schritt in Richtung Selbsttechnologie. Zumindest ist die menschliche Gattung darauf angewiesen, im Zusammenhang mit der eigenen physischen Reproduktion ihre natürlichen Lebensbedingungen durch Arbeit verändern und gestalten zu müssen. Mit Notwendigkeit muss sie sich so auch auf die in dieser Weise objektivierten Lebensformen und -inhalte beziehen. Michael Winkler sieht darin das Problem beschrieben, das die Erfindung von Erziehung zu lösen beansprucht. Die Arbeitskraft muss als Arbeitskraft erst einmal konstituiert werden. Und dazu gehört, dass Individuen in und vermittels der Arbeit auch auf sich selbst einwirken, und diese "Selbsttechnologien" stets in entsprechende übergreifende Verhältnisse der Produktion herrschaftlich eingebunden sind. Winkler hat gefordert, dass eine Theorie der Erziehung gerade den dialektischen Zusammenhang zwischen den historischen Prozessen gesellschaftlicher Reproduktion und jenen "Semantiken" rekonstruieren müsse, mit welchen Erziehung zu einer sozialen Wirklichkeitskonstruktion wird und sich dann auch in entsprechenden Handlungsformen umsetzt.

Eine Semantik der "Machbarkeit des Menschen" entwickelte sich in diesem Kontext jedoch erst stärker im Rahmen der entstehenden Welt der Moderne und der für sie charakteristischen Vorstellung der Gestaltbarkeit von Welt und Gesellschaft. Vorherrschend war dabei zunächst einmal noch eine sehr stark geistig und ethisch geprägte Auffassung von Arbeit. Zwar stellte der Erfolg Newtons, alle materiellen Wechselwirkungen auf das Wirken von Kräften zu reduzieren, das Aristotelische Konzept grundsätzlich in Frage, die Entstehung zweckmäßiger Strukturen und komplexer Organisationen im Begriff von Entelechie als die sich im Stoff verwirklichende Form zu begreifen. Dennoch hielt die geisteswissenschaftliche Pädagogik noch bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts an der Annahme eines entsprechenden Formtriebes fest. Als zielstrebige, vollendende Tätigkeit oder Kraft, die als Prinzip jede Entwicklung bedinge, könne die individuelle Entelechie des jugendlichen Seelenlebens in ihrer Entfaltung zwar durch ungünstige gesellschaftliche Umstände gehindert und abgelenkt, nicht jedoch wesentlich beeinflusst werden.

Im Rahmen des Newtonschen Universums verschiedener Bewegungsquellen und seinen reversiblen Mechanismen wurden zwar nun auch Maschinen entwickelt, welche die Ähnlichkeit zwischen der Natur und dem Vermögen der Vernunft, diese Naturvorgänge zu spiegeln, geradezu beschworen. Arbeitsfähig waren diese aber nur, wenn sie durch eine Außenquelle angetrieben wurden. Geradezu paradox illustrierten sie damit das Prinzip einer selbstbewegenden Kraft und Zeugungsfähigkeit, das sie gerade nicht verkörpern konnten. Leibniz hat dies so gefasst, dass im Unterschied zu den durch Menschenkunst gebauten Maschinen, die nicht in jedem ihrer Teile Maschinen seien, "die Maschinen der Natur, d.h. die lebendigen Körper, () noch in ihren kleinsten Teilen, bis ins Unendliche hinein, Maschinen" seien. Nicht nur die Urheber der Automaten des 18. Jahrhunderts waren damit noch hoffnungslos in dem befangen, was Hermann von Helmholtz dann als "mimetischen Irrtum" bezeichnete: dem Glauben, dass tierische und menschliche Körper Apparaten entsprächen, die sich kräftig und anhaltend bewegten, ohne dass jemand sie jemals aufziehen oder anstoßen müsste.

Durch Helmholtz Erkenntnisse "Über die Erhaltung der Kraft" wurde dann die rein mechanisch als Kraftaufwand begriffene "Arbeitskraft" zur Grundlage aller Materie und Bewegung in der physikalischen Welt. Materielle Gestalt gewann dies in einer neuen Art von Technik. Dampf- und Selbstverbrennungsmaschinen mussten als "Motor" nicht mehr von außen angetrieben werden. Vielmehr wurden sie durch innere, dynamische Prinzipien geregelt, welche Kraftstoff in Wärme und Wärme in mechanische Arbeit umwandelten. Zugleich wurde nun auch die Natur als ungeheure Kraftmaschine gesehen. Ja, der dem Kraftaufwand gleichgesetzte mechanische Begriff von Arbeit wurde in den Rang eines universalen Naturprinzips erhoben, das auch den arbeitenden Körper assimiliert und durch diesen veranschaulicht werde.

Damit gewann die Analogie von Mensch bzw. Tier und Maschine erst ihren eigentlich "modernen" Ausdruck. Der zu Folge sei die Art, wie Wärme und Kraft gewonnen werde, bei allen drei gleich. Von Maschinen unterschieden sich die "lebenden Motoren" nur durch die Zwecke und die Weise, zu welchen und in welcher sie die gewonnene Kraft weiter benützten. So erschien vermittels der Konvertibilität aller produktiven Tätigkeiten - des Körpers, der Technik, wie auch der Natur - nun auch die menschliche Gesellschaft und die von ihr hervorgebrachte Technik mit dem Kosmos durch eine ununterbrochene Kraftkette verbunden.

Auch der Versuch des Taylorismus, arbeitende Körper einer rationalen Ingenieursintelligenz zu unterwerfen, basierte auf diesem Modell des Körpers als thermodynamischer Maschine, die Energie in Arbeit umwandelt. Und von daher zielte Taylors Rationalisierung des Körpers nicht zuletzt darauf, durch Erhaltung dieser Energie mit Hilfe systematischer Einsparungen die Produktivität zu steigern. Schon Marx hat diesen Versuch, die Arbeitenden in einer automatisierten Fabrik zum Verzicht "auf ihre unregelmäßigen Gewohnheiten" zu bringen, als Teil der erbarmungslosen Transformation von lebendiger Arbeit in Kapital analysiert.

Darauf aufbauend hat Foucault in seinen disziplinaranalytischen Arbeiten jene "Mikrophysik der Macht" nachzuzeichnen versucht, mit deren Hilfe danach gestrebt wird, Lebenszeit in Arbeitszeit zu synthetisieren. Er hat verdeutlich, dass um Menschen - wie Marx es genannt hat - mit der "unveränderlichen Regelmäßigkeit des großen Automaten" zu identifizieren, diese erst einmal an den Ablauf eines solchen Produktionsprozesses fixiert werden müssen z.B. dadurch, dass Zeit und Raum in feste Schemata eingefügt werden.

Selbst in vielen pädagogischen Diskursen herrschten bis weit in die 70er Jahre hinein Semantiken vor, die Erziehung in dieser Weise technologisch zu begreifen und zu strukturieren versuchten. In der DDR geschah dies paradox genug im Anschluss an die Marxsche Analyse des Arbeitsprozesses. Dabei wurden Entsprechungen gesehen zwischen Erzieher und Arbeiter, zwischen dem Ziel der Erziehung und dem Zweck der Arbeit, zwischen dem Zögling bzw. Lernenden und dem Arbeitsgegenstand und zwischen den Erziehungsmitteln und den Arbeitsmitteln. Durchaus vergleichbare Unterscheidungen von "Strukturmerkmalen" fanden sich jedoch auch in der bundesrepublikanischen "lerntheoretischen" Didaktik, die sich dann später etwas treffender "lehrtheoretisch" genannt hat, und ebenso in der "systemtheoretischen Didaktik".

Noch weitgehend geprägt von solchen an der Newtonschen Mechanik orientierten Semantiken sind bis heute z.B. die Verhaltenstherapie bzw. die systematische Verhaltensmodifikation im Rahmen von Erziehung und Sozialer Arbeit. Allerdings haben sich im psychotherapeutischen Kontext mit der Psychoanalyse dann doch auch Semantiken zu verbreiten begonnen, die den mit der Thermodynamik verbundenen Wechsel von den mechanischen Kräften zur Sprache der Kraft selbst mit nachvollzogen haben. Nicht umsonst bevorzugte Freud eine an entsprechenden "KApparaten" orientierte Sprache. Seine Konzepte von nicht zu unterdrückenden unbewussten Kräften und sein darauf aufbauendes Modell des neurotischen Konfliktes, die schon sehr bald auch Eingang in erziehungswissenschaftliche Diskurse fanden, weisen deutliche Analogien zu den thermodynamischen Erkenntnissen und Maschinen auf.

Parallel zu den Verschiebungen in der Akkumulationsweise hin zum Dienstleistungssektor tauchten dann ab Ende der 80er Jahre in den pädagogischen Diskursen vermehrt auch Semantiken auf, die Erziehung, Soziale Arbeit und sogar Bildung als soziale Dienstleistungsproduktion zu begründen versuchten. In dieser neuen Semantik wird die Erkenntnis aufgegriffen, dass in Bezug auf den Produktionsprozess sozialer Dienstleistungen der/die KundIn zumindest so etwas wie ein "externer Produktionsfaktor" ist. Vor dem Hintergrund des "uno-actu-Prinzips" der "Dienstleistungsökonomik", welches das gleichzeitige Zusammenwirken von Produzierenden und Konsumierenden - und damit die tendenzielle Auflösung solcher Kategorien - als wesentliches strukturierendes Moment von Dienstleistung betont, wurde ein Begriff von "Responsivität" entwickelt. Damit wurde die wechselseitige Annäherung von adressatenspezifischen Vorstellungen und professionellem Handeln sowie ihr Zusammenwirken im Problembearbeitungsprozess als entscheidendes Kriterium für eine Effektivität von Pädagogik, Sozialer Arbeit und Therapie ausgewiesen.

Sicher ist mit der sog. Dienstleistungsgesellschaft die arbeitszentrierte Gesellschaft noch nicht an ihr Ende gekommen. Und selbst die in jüngster Zeit Verbreitung findenden Idee einer Informationsgesellschaft wird daran nichts ändern - so enthusiastisch darin auch Computer als Vorboten einer Welt ohne Arbeit gefeiert werden mögen. In der zweifellos sich verändernden, gleichwohl aber nach wie vor arbeitszentrierten Gesellschaft bahnt sich jedoch ein grundlegender Wandel der Semantiken an, mit welchen nun weniger Erziehung in einem traditionellen Sinne als vielmehr Stützung von Selbstsozialisation zu einer sozialen Wirklichkeitskonstruktion wird und sich dann auch in entsprechenden "Selbsttechnologien" umsetzt. Dabei gerät der disziplinarische Aspekt in dem Maße aus dem Blickfeld, wie sich im Zusammenhang mit den skizzierten Veränderungen in der Akkumulationsweise auch das Denken über Arbeit und deren Charakter selbst wandelt. Wurde im Taylorismus der Körper bereits auf ein Element in der Umwandlung von Kraft reduziert, so scheint nun Arbeit gänzlich ihre Materialität und Räumlichkeit zu verlieren. Wenn damit die disziplinarische Unterordnung des Körpers unter äußerlich gesetzte Normen anscheinend schon für diejenigen obsolet wird, die als Dienstleister tätig sein werden, so erst Recht für jene zukünftige Spezies, die Roboter nicht mehr so sehr kontrollieren, als vielmehr auf geradezu symbiotische Weise mit ihnen als eine Art "Denk- und Entscheidungsmaschine" verbunden sein sollen.

Die Forderung Foucaults, zu analysieren, wie Techniken der Herrschaft sich der Prozesse bedienen, in denen Individuen auf sich selbst einwirken, und umgekehrt Selbsttechnologien in Zwangs- und Herrschaftsstrukturen integriert werden, gewinnt damit eine neue Qualität. Dem will dieses Heft der Widersprüche sich von verschiedenen Seiten her nähern.

Zu den Beiträgen im Einzelnen

Zunächst einmal wagt es Folker Fichtel noch einmal einen Schritt zurückzugehen vor die Epoche der Selbsterfindung des modernen Subjekts in der frühen Neuzeit. Er folgt dabei Foucault, der in den beiden kurz vor seinem Tod erschienen Teilbänden seines Werkes "Sexualität und Wahrheit" sich mit lebenspraktischen Handlungen und Wissensgebieten im Hinblick auf die Sexualität in der Antike beschäftigt hat. Nicht mehr die Formen, mit denen die "Macht" den Diskurs bestimmt und über seine Regeln auf das Subjekt einwirkt, standen dabei im Mittelpunkt seines Interesses, sondern die konkreten Handlungsstrategien und Lebensgestaltungsmöglichkeiten, mit denen sich das Subjekt selbst konstituieren kann. Für Foucault stellte dies ein erster Schritt da, "die lange Geschichte" jener "Künste", "Selbsttechniken" und "Selbsttechnologien" "in Angriff zu nehmen", mit denen die Menschen "nicht nur die Regeln ihres Verhaltens festlegen, sondern sich selber zu transformieren, sich in ihrem besonderen Sein zu modifizieren und aus ihrem Leben ein Werk zu machen suchen, das gewisse ästhetische Werte trägt und gewissen Stilkriterien entspricht". Was Foucault in dieser Weise ausführlich für die Antike vorgelegt hat, wegen seines Todes aber lediglich fragmentarisch weiter verfolgen konnte, versucht nun Folker Fichtel an einigen ausgewählte Phänomenen des 15. Jahrhunderts fortzuführen. Dabei geht er der Frage nach, anhand welcher moralischer Problematisierungen und entlang welcher Diskurslinien die Menschen des späten Mittelalters den Bezug zu sich Selbst gestalteten. Überdeutlich wird so, dass das "Selbst" als Träger eines "Selbst-Bewusstseins" keine überzeitliche und überkulturelle anthropologische Konstante ist, sondern sich in dieser Weise erst nach und nach in der Form herausbildete, wie wir es mit unserer heutigen Begrifflichkeit voraussetzen.

Auch Stefanie Duttweiler knüpft mit ihrer These, dass erst die Koppelung von Unterwerfung und Identität im Medium des Körpers den Prozess der Subjektwerdung ermöglicht, an Foucault an. Ihre Überlegungen zum Körper als Medium der Subjektivierung beziehen sich jedoch nicht auf moralische Problematisierungen. Vielmehr arbeitet sie in einer Untersuchung aktueller Ratgeber und Wellness-Magazine jene Technologien des Selbst heraus, die - in den Worten Foucaults - "es den Individuen ermöglichen, mit eigenen Mitteln, bestimmte Operationen mit ihren eigenen Körpern, mit ihren eigenen Seelen, mit ihrer eigenen Lebensführung zu vollziehen, und zwar so, das sie sich selber transformieren, sich selber modifizieren und einen bestimmten Zustand von Vollkommenheit, Glück, Reinheit, übernatürlicher Kraft erlangen". Zugleich zeigt sie jedoch, dass es gerade diese Steigerung der Handlungs-, Bewegungs- und Leistungsfähigkeit sowie die Plausibilisierung in der körperlichen Erfahrung sind, die das Selbst heute in zwanglosem Zwang auf den Weg bringen. Anhand der drei unterschiedlichen Modi von "Body-Consciousness", "Fitness" und "Wellness", die Subjektivierung auf je spezifische Weise in körperlicher Erfahrung verankern, typisiert sie entsprechende Vermittlungsformen einer Bewegung von Selbstunterwerfung mit jener Produktivität des Körpers, die dieser erst in eben dieser Unterwerfung zu gewährleisten vermag.

Mit dem Modus "Body-Consciousness" ist schon die Brücke zum nächsten Beitrag geschlagen. Hier gehen Gustl Marlock und Michael May in einer gemeinsamen Diskussion jener Konjunktur selbsttechnologischer Konzepte in der gegenwärtigen Therapieszene weiter nach. Ihr Beispiel ist die Entwicklung des "Neurolinguistischen Programmierens (NLP)". Da viele Praktiken der Gestalttherapie bruchstückhaft in das NLP eingegangen sind, richtet sich der Fokus dabei vor allem auf die Transformation von existentialistischem Selbstbezug in Selbsttechnologie. Diese analysieren sie nicht nur aus einer therapeutischen Binnenperspektive heraus. Vielmehr betrachten sie den damit verbundenen Paradigmenwechsel auch vor dem Hintergrund gesamtgesellschaftlicher kultureller Veränderungen.

Zu diesem gesellschaftlichen Rahmen gehört ganz zentral der Arbeitsmarkt, für den sich heute Menschen per Eigen-Marketing fit zu machen haben. Letzteres ist Thema des eher polemisch gehaltenen Beitrags von Christine Resch: "Politik als Aufputschmittel oder: Wir machen aus Ihnen eine ICH AG!" In diesem geht sie der Herkunft des durch die Hartz-Kommission bekannt gewordenen Begriffes der Ich-AG nach und kritisiert nicht nur die entsprechenden politischen Vorschläge, sondern auch jene Trainingsprogramme, aus dessen Kontext er entstammt.

Zum Abschluss des Schwerpunkt-Teiles beziehen Fabian Kessl und Michael Lindenberg in essayistischer Form die Figur des Unternehmers der eigenen Arbeitskraft auf den wissenschaftlichen Nachwuchs. Deutlich herausgearbeitet werden in dichten Beschreibungen geradezu prototypischer Situationen die Preise, die auf dem steinigen Weg zum "Wissenschaftsunternehmer" zu zahlen sind und zwar nicht nur von den entsprechenden Aspiranten.

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