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Heft 104: "Alles schön bunt hier!" Zur Kritik kulturalistischer Praxen der Differenz

2007 | Inhalt | Editorial | Abstracts

Titelseite Heft 104
  • Juni 2007
  • 136 Seiten
  • EUR 11,00 / SFr 19,80
  • ISBN 3-89370-432-3
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Mit Gender als sozialstruktureller Differenzkategorie haben wir uns in den Widersprüchen schon häufiger auseinandergesetzt - so z.B. in unseren Heften 56/57 "Männlichkeiten" aus dem Jahr 1995 und 67 "Multioptionale Männlichkeiten" aus dem Jahr 1998. Beide waren von der Intention getragen, die Frage der "Männlichkeit" als gesellschaftlicher Kategorie kritisch im Kontext von Geschlechterpolitik als Gesellschaftspolitik anzugehen. Mit dem Heft 84/2002 zum Thema "Der oder die Sozialstaat? Doing Gender europäischer Wohlfahrtsregime" haben wir dann die strukturelle Seite des Geschlechterverhältnisses etwas stärker ins Bewusstsein zu rufen versucht und damit ein Thema wieder aufgegriffen, dass schon zuvor im Heft 39/1991 "Neue Mauern in Europa - Soziale Politik in der EG" eine bedeutende Rolle gespielt hat. Schließlich haben wir im Heft 95/2005 "Genders neue Kleider? Dekonstruktivistischer Postfeminismus, Neoliberalismus und die Macht", das Verhältnis aktueller Geschlechtertheorie und Macht zur Diskussion gestellt.

Auffällig ist, dass wir andere soziale Differenzkategorien und deren gesellschaftliche (Re-)Produktion bisher kaum in den Widersprüchen thematisiert haben. So haben wir uns beispielsweise mit Rassismus weitaus weniger auseinandergesetzt als mit Sexismus. Das gilt selbst für das Heft 39/1991 "Neue Mauern in Europa". Zwar versuchten die Beiträge des Heftes 46/1993, "Paradoxien der Gleichheit: Menschenrechte und Minderheiten" dem Rechnung zu tragen, dass die so genannten "Neuen Sozialen Bewegungen" durch Gruppen von Menschen getragen werden, die assoziiert nach besonderen Interessen und Identitäten, sich um spezifische Teilprobleme im Kontext gesamtgesellschaftlicher Problemlagen gruppieren. Schon das Editorial rückte jedoch in den Vordergrund, dass "nach wie vor [...] die Trennung zwischen Produktionsmittelbesitzern und Arbeitskräften Ungleichheit und Unterdrückung [generiert], wenngleich dieses Verhältnis nicht als alleiniger Produzent von Ungleichheit und Differenz anzusehen" sei. Und so verfolgte dieses Heft vor allem das Ziel, auf die Gefahr hinzuweisen, dass eine "Politik, die sich auf moralisch und interessenmäßig begründete Rechtsansprüche beruft", trotz der unbestreitbaren Notwendigkeit, Rechte zu erkämpfen und zu verteidigen, mit dazu beitragen kann, "das Ausmaß zu verdecken, in dem Kapital und Staat, ihren jeweiligen immanenten Gesetzmäßigkeiten gemäß, Fragmentierung und Ungleichheit in der Zivilgesellschaft stetig verschärfen".

Möglicherweise hat die Vernachlässigung anderer Aspekte von Ungleichheit und Differenz in den Widersprüchen auch damit etwas zu tun, dass zumindest implizit in Marxscher Tradition darauf gehofft wurde, mit der Überwindung feudaler und kapitalistischer Verhältnisse auch diese Ungleichheiten aufheben zu können. Jedenfalls war für Marx Rassismus vor allem ein feudales Phänomen: "Die Menschheit erscheint in bestimmte Tierrassen zerfallen, deren Zusammenhang nicht die Gleichheit, sondern die Ungleichheit ist, eine Ungleichheit, welche die Gesetze fixieren. Der Weltzustand der Unfreiheit verlangt Rechte der Unfreiheit, denn, während das menschliche Recht das Dasein der Freiheit, ist dies tierische Recht das Dasein der Unfreiheit. Der Feudalismus im weitesten Sinne ist das geistige Tierreich, die Welt der geschiedenen Menschheit im Gegensatz zur Welt der sich unterscheidenden Menschheit, deren Ungleichheit nichts anders ist als die Farbenbrechung der Gleichheit" (MEW Bd. 1: 115 ff.). Allerdings hat Marx in der Abhandlung zur Judenfrage (vgl. ebd.: 377) zugleich darauf aufmerksam gemacht, dass die Gleichung Jude = Wucher und Schacher durch die politisch-rechtliche Gleichheit nicht gelöst werde. Erst eine soziale Revolution, die die Bedingungen von Wucher und Schacher - also den Kapitalismus - aufhebe, werde diese Gleichung lösen.

Dem folgend hat die Redaktion im Heft 9 von 1983: "Ausländer - Sündenböcke werden gemacht" den "neofeudalen" Rechtszustand und die vergleichsweise "rechtlose Position", in die MigrantInnen gedrückt werden, als Basis ihrer "Sündenbock"-Funktion gesehen: "Wie im Feudalismus haben wir nun eine millionenstarke Menschengruppe, deren einziges gemeinsames Kennzeichen das ist, daß sie minderen Rechts ist. Hauptinhalt dieses fast neofeudalen Rechtszustands ist der Verkauf der Arbeitskraft - aber nur dort, wo es das einheimische Kapital wünscht, die Arbeitsämter es zulassen und sich keine eingeborenen Bewerber finden lassen: auf den gefährlichsten, gefährdetsten und am schlechtest bezahlten Arbeitsplätzen. Und möglichst nur der Verkauf der Arbeitskraft - ohne Schnickschnack wie Familie, gute Wohnung, ausreichende gesundheitliche und soziale Versorgung."

Nach damaliger Ansicht der Redaktion werde 'der Ausländer' in dem Moment "zur Gefahr, zur 'sozialen Zeitbombe' definiert", in dem er "das tut, was alle in unserer Gesellschaft tun, wo er also faktisch das bürgerliche Recht der Gleichheit fordert". Ausländer müssten also in einer vergleichsweise "rechtlosen Position" gehalten werden, weil sie "nur so […] die Sündenbockrolle für die Eingeborenen weiterspielen" könnten. Ebenfalls Marx folgend sah die Redaktion jedoch "die Gleichung: Ausländer = faul, gefährlich, bedrohlich, auch nicht durch formale Rechtsgleichheit gelöst (obwohl das natürlich eine wichtige Voraussetzung ist), sondern durch eine soziale Revolution, die die Besonderheiten der Ausländer und der Eingeborenen 'aufhebt', d. h. im umfassenden Sinne: die Entfremdung".

Die ist aber nicht die einzige Stelle, in der die Redaktion in ihrem damaligen Heftbeitrag Marx paraphrasierend aufgenommen hat. In einer ihrem Aufsatz vorangestellten Textvariante zu einer Stelle aus Marx "Theorien über den Mehrwert" (MEW, Bd. 26.1: 363) schreibt sie: "Ein Philosoph produziert Ideen, ein Poet Gedichte, ein Pastor Predigten, ein Professor Kompendien usw. Ein AUSLÄNDER produziert SÜNDENBÖCKE. Betrachtet man näher den Zusammenhang dieses letzten Produktionszweiges mit dem Ganzen der Gesellschaft, so wird man von vielen Vorurteilen zurückkommen. Der Ausländer produziert nicht nur Sündenböcke, sondern auch das Ausländerrecht und damit den Professor, der Vorlesungen über das Ausländerrecht hält, und zudem das unvermeidliche Kompendium, worin dieser selbe Professor seine Vorträge als 'Ware' auf den allgemeinen Markt wirft. Damit tritt Vermehrung des Nationalreichtums ein [...]. Der Ausländer produziert ferner die ganze Ausländerbehörde und Polizisten, Richter, Staatsanwälte, Sozialarbeiter, Lehrer, Ärzte usw.; und alle diese verschiedenen Gewerbezweige, die ebenso viele Kategorien der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit bilden, entwickeln verschiedene Fähigkeiten des menschlichen Geistes, schaffen neue Bedürfnisse und neue Weisen ihrer Befriedigung. Das Asylbewerberverfahren allein hat zu den sinnreichsten verwaltungstechnischen Erfindungen Anlaß gegeben und in der Produktion seiner Ausführungsbestimmungen eine Masse ehrbarer Beamte beschäftigt."

Dass 'Ausländer' in dieser Weise in unserer Gesellschaft also gleich doppelt vorkommen: "Einmal als konkretes Individuum, zum anderen als Kunstprodukt herrschaftlicher Definitionsmacht, das die Basis für die Projektionsfolie 'Sündenbock' abgibt" war damals Ausgangspunkt des Heftes. In dessen Zentrum stand die Analyse des "herrschaftlichen Konstitutionsprozesses" - "die Produktionsweise dieses realen Phantoms 'Ausländer' und […] der Anteil der Reproduktionsarbeiter" daran. So hat die Redaktion in ihrem eigenen Beitrag an den Beispielen von Schule, Medizin und Sozialarbeit herauszuarbeiten versucht, wie "die Agenturen des Sozialstaats" - getreu "ihrer Funktionslogik: Gesellschaftliche Ursachen parzellieren, individualisieren, personalisieren" - zur Aufrechterhaltung dieser Rolle geradezu "unentbehrlich" sind. Dass Ausländer in diesen Einrichtungen - in der besten Absicht ihrer 'Besonderheit' Rechnung zu tragen - 'sonderbehandelt' würden, trage nicht nur maßgeblich dazu bei, "die Projektionsfolie 'Ausländer'" aufrecht zu erhalten, sondern sei zugleich nur "eine neue Variante der 'heimlichen Methoden'" dieser Agenturen.

Dass die Redaktion nach so langer Zeit sich nun endlich dazu entschlossen hat, dieses Thema erneut aufzugreifen, hat zwei Gründe: Zum einen sind dies die im EU-Rat verabschiedeten Richtlinien zur Gleichstellung benachteiligter Gruppen, welche von der Grundüberlegung ausgehen, dass sich die Frage der Gleichbehandlung nicht nur für einzelne Zielgruppen stellt, sondern die ganze Gesellschaft betrifft. Diese Richtlinien verpflichten die Mitgliedsstaaten, auf nationaler Ebene entsprechende allumfassende Antidiskriminierungsgesetze zu erlassen, die gemäß den An- und Aufforderungen der EU dem "horizontalen" oder "Zielgruppen übergreifenden Ansatz" folgen, sich also gleichermaßen auf Merkmale von "Rasse"/ethnischer Herkunft, Geschlecht, Behinderung und Alter beziehen. Die Bundesrepublik beansprucht dieser Verpflichtung durch das "Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG)" vom letzten Jahr nachgekommen zu sein.

Mit der EU-Initiative einher und über den juristischen und formalen Rahmen hinaus, gehen jedoch auch eine ganze Reihe administrativer Veränderungen auf der Ebene von Organisations- und Personalentwicklung. Diesbezüglich will der Schwerpunkt dieses Heftes die widersprüchlichen Effekte, Möglichkeiten und Begrenzungen analysieren, die dieser horizontale Ansatz als wenig genau gefasste Politik mit universalerem Horizont einerseits und seine Umsetzung beispielsweise in Diversity-Trainings als Instrumente zur Problematisierung und Aufklärung sozialer Ungleichheiten andererseits mit sich bringen.

Die Redaktion ist davon überzeugt, dass nur eine Perspektive, die soziale Verhältnisse als Kontext kultureller und geschlechtlicher Differenzen einbezieht, die konkreten Möglichkeiten, vor allem aber Grenzen solcher Strategien erkennen lässt. Diese können so im Anschluss an Antonio Gramsci als "Kompromiss" nicht im Sinne des Ergebnis' einer versöhnlichen Aushandlung sozial divergierender Interessen in den Blick kommen, sondern als faktische Situation komplexer, widersprüchlicher Artikulationen von Herrschaftsverhältnissen im neoliberalen Kapitalismus, zu denen die verschiedenen Formen sozialer Differenzen und Ungleichheiten konstitutiv zu rechnen sind.

Der andere Hintergrund für das vorliegende Heft ist ein von der FH-Wiesbaden gefördertes Lehrforschungsprojekt, das Annita Kalpaka und Michael May derzeit am dortigen Fachbereich Sozialwesen durchführen. Im Aufgreifen und Weiterführen der Widersprüchediskussion des Heftes 9 von 1983: "Ausländer - Sündenböcke werden gemacht" geht es in diesem Projekt um die Frage, wie in der Ausbildung und der Praxis professioneller Sozialer Arbeit soziale Prozesse der Differenz auf der Ebene von Geschlecht und Kultur dadurch (re-)produziert werden, dass dort Bedürfnisse in spezifischer Weise interpretiert und zu befrieden versucht werden bzw. auf 'abweichende' Formen der Bedürfnisartikulation und -befriedigung reagiert wird.

In diesem Projekt geht es aber nicht einfach bloß um eine Analyse, wie durch Kulturalisierung / Ethnisierung oder auch durch eine vergeschlechtlichende Naturalisierung von Problemsituationen im Rahmen Sozialer Arbeit, eine ideologische Problemverschiebung geschieht, indem z.B. problemkonstituierende Faktoren auf der Ebene von Lebenslagen zu Fragen von Lebensstil im Sinne kultureller bzw. geschlechtlicher Präferenzen umdefiniert werden. Es geht zugleich auch um Möglichkeiten der subjektwissenschaftlichen Erforschung solcher (Re-)Produktionsprozesse von Differenz und um den Umgang mit der Tatsache, dass der Prozess der Erforschung selbst eingebunden ist in den Prozess der Herstellung der zu erforschenden Differenzen.

Zu den Beiträgen im Einzelnen:

In seinem den Schwerpunkt einleitenden Beitrag rekonstruiert Paul Mecheril zunächst die bundesdeutsche Geschichte der Auseinandersetzung um Themen und Topoi wie "Ausländer", "Fremde", "Migration", "Integration", "unsere ausländischen Mitbürgerinnen" etc., sowie die damit verbundenen, häufig partikular und kontextrelativ ausgerichteten regulativen Ansätze und Konzepte. Vor diesem Hintergrund diskutiert er "Missachtungs-" und "Rassismuskritik" als zwei Konzepte, deren regulative Bezugsgröße als universell gedachte Würde oder Integrität der/des Einzelnen sich demgegenüber nicht im Vorrang des partikularen nationalstaatlichen Raums erschöpft.

Im folgenden Beitrag setzt sich Karin Reindlmeier mit Diversity-Ansätzen, Trainings u.ä. kritisch auseinander. Dabei geht es um die Frage, welche politischen Horizonte sich durch diese 'Instrumente' öffnen und welche dadurch geschlossen werden.

Daran anschließend skizziert Michael May den theoretischen Bezugsrahmen des Wiesbadener Projektes. Dieser knüpft in kritischer Weise an den methodologischen Überlegungen Bourdieus an und versucht darüber hinaus eine Vermittlung zwischen den Konzepten von "Hegemonialer Männlichkeit" und "Whiteness" sowie Nancy Frasers Theorie einer Politik der Bedürfnisinterpretation. All diese Konzepte werden auch in ihren Beziehungen zueinander diskutiert, um besonders die herrschaftlichen Aspekte sozialer Prozesse der (Re-)Produktion von und des Umgangs mit Differenz besser in den Blick zu bekommen.

Die methodologischen Überlegungen am Ende dieses Beitrages, mit welchem Recht Forschende sich Urteile über Fragen von Identitätspolitik und Bedürfnisinterpretation anmaßen können, leiten über zu dem von Annita Kalpaka, welcher die methodischen Überlegungen des Wiesbadener Projektes skizziert. Im Vordergrund stehen dabei Forschungsmethoden, die auf dem Hintergrund subjektwissenschaftlicher Methodologie die 'Beforschten' als Mitforschende gewinnen wollen im Interesse der Erweiterung ihres Handlungsspektrums und im Sinne der AdressatInnen ihrer Arbeit.

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