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Heft 7: Lebenssatt – Altsein und älterwerden

1983 | Inhalt | Editorial | Leseprobe

Titelseite Heft 7
  • Juni 1983
  • 152 Seiten
  • EUR 7,00 / SFr 13,10
  • ISBN 3-88534-025-9

Zu diesem Heft

Aber als sichtbarste Hoffnung bleibt bei alldem der zentral steuernde Einfluß des Lebens in einer gesund gewordenen Gesellschaft auf die Krankheiten des Geboren- und Erwachsenseins selber, vorzüglich auf deren Verhütung, und auf die Lebensdauer. Ein weiter Weg bis dahin und einer, der vielleicht, was das heikle Fleisch angeht, noch auf lange Sicht sehr zufriedenstellend zurückgelegt werden kann. Innerhalb der Leistungsfähigkeit zum kapitalistischen Betrieb wird er zweifellos nicht zurückgelegt; denn Gesundheit ist etwas, das genossen, nicht verbraucht werden soll. Schmerzloses, langes, bis ins höchste Alter, bis in einen lebenssatten Tod aufsteigendes Leben steht aus, wurde stets geplant. Wie neu geboren: das meinen die Grundrisse einer besseren Welt, was den Leib angeht. Die Menschen haben aber keinen aufrechten Gang, wenn das gesellschaftliche Leben selber noch schief liegt.

Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, II. Band

Unsere Idee, ein Heft zum Thema "Lebensatt" zu machen, ist von verschiedenen Interessen gespeist. Zu diesem Thema kam einiges zusammen: Interesse, aktuelle Tendenzen in dieser Gesellschaft zu analysieren und Interesse, sich Gedanken über eigenes Alter, Älterwerden, Leben im eigenen Alter zu machen.

Die Gruppe "der" Alten - die gegenwärtig allein schon zahlenmäßig an Bedeutung gewonnen hat - gehört in der jetzigen Krise zu den gesellschaftlichen Gruppen, die mit Sparmaßnahmen überzogen werden, für die das soziale Netz des BRD-Staates rauhere Formen annimmt. Was in dieser Zeitschrift bisher unter dem Begriff der "Spaltung der Gesellschaft" diskutiert wurde, was als abstrakter Begriff für einen ganzen Haufen von vielfältigen Entwicklungen steht, das kann am Beispiel der Alten dargestellt werden. Der Begriff kann einen, wenn er mit sozialen Schicksalen gefüllt ist, erschrecken: Die Alten werden von Bundesregierungen zum Kostenfaktor einer volkswirtschaftlichen Rechnung erklärt. Somit unterliegen auch sie in einer Zeit, wo Sanierung der Wirtschaft zum Willen einer Volksgemeinschaft erklärt wird, der Sparwut von Politikern und Verwaltungen. Zudem zählen die Alten zu denen, die in diesem "Wiederaufbau" nicht mehr so kräftig zupacken können wie es sich ein dynamischer Arbeitsminister wünscht. Das heißt auch, daß sie im betrieblichen Bereich verstärkt ausgegrenzt werden. Das Kapital hat sich genug verausgabte Arbeitskraft angeeignet und schiebt die ausgenutzte, verbrauchte an den Rand. Die Verjüngungskur des Kapitals geht auf Kosten derer, die dieses Tempo nicht mithalten können.

Die regierungsamtliche und betriebswirtschaftliche Reduktion der Alten auf Kostenfaktoren, Produktionsfaktoren erscheint - wenn sie so offen wie derzeit ausgesprochen wird - als zynisch. Doch sie gehört zum Alltag dieser Gesellschaft. In Äußerungen gegenüber Frühinvaliden, vorzeitig Entlassenen, Rentnern, deren Renten weniger werden, den Witwen, die am wenigsten bekommen, steckt ein Stück der Wahrheit darüber, was Alter in dieser Gesellschaft heißt: "Ein Leben lang abgeplagt - und dann zum alten Eisen" - "Die hat ja eh ned viel gearbeitet - ihr Mann hat für sie verdient." An diesen Äußerungen zeigt sich erstens, daß das, was man im Alter an Versorgung (in Form der Rente) bekommt, davon abhängig ist, ob man früher Lohn für Arbeit bekommen hat und wie hoch der war. Und zweitens zeigt sich, daß v.a. die Art der Arbeit als Wert zählt, die in Form der Lohnarbeit geleistet wird.

"Alter" - so wie es heute bei uns auftritt, ist genauso wenig naturgegeben wie "Jugend". Alt ist man oder wird man endgültig dann, wenn man aus dem Produktionsprozeß ausgeschieden wird oder nicht mehr für ihn taugt. Oder warum wird im Gesundheitswesen mit Menschen, die die "Altersgrenze" überschritten haben, nachweislich davon ausgegangen, daß eine völlige Rehabilitation bei ihnen eh zwecklos ist: sie "lohnt sich nicht", weil der alte Mensch keine anwendbare Ware Arbeitskraft mehr werden kann! Indem die Arbeitsfähigkeit von Alten nicht mehr den Normen der kapitalistischen Leistung und Produktivität entspricht, werden auch die anderen Fähigkeiten von Alten gemäß der Entwertungslogik definiert: zum allgemeinen Bild des Alters in unserer Gesellschaft gehört: Alte haben weniger Bedürfnisse, Alte können weniger, Alte bauen ab, Alte können genauso wenig wie Kinder wirklich selbständig entscheiden. (Von derartigen Urteilen sind Politiker und graue Präsidenten im öffentlichen Bewußtsein selbstverständlich ausgenommen.) Gegen diese Entwertungslogik gibt es Tendenzen, wie sie z.B. im Bild des tatkräftigen Seniors erscheinen. Dieses Bild ist aber selber geprägt von kapitalistischer Logik: vermarktbar, ewig-jung für abgesonderte kreative Beschäftigung und für den Warenkonsum. Das Verhältnis gegenüber Alten, sie aufzuteilen in eine ignorierbare Normalschicht und in eine andere, der menschlich-intellektueller Respekt zukommt, findet sich sogar bei Linken. Auch bei ihnen gibt es die berühmten Alten: am beliebtesten sind welche mit intellektuell aufgearbeiteter Kampferfahrung oder die weisen Philosophen.

Also: Alte dürfen bei uns nicht mehr arbeiten, weil die kapitalistische Arbeit einem in den Jahren wirklich Sinne, Muskel, Hirn und Nerv aussaugt.

Also: Alte werden bei uns auch nicht mehr für so voll genommen. Sie werden allgemein entwertet. In anderen und früheren Gesellschaften waren/sind es dagegen gerade Alte, die anerkannt sind. Alte, die Wissen tradieren, die Erfahrungen vermitteln, die in der Lage sind, weise Entschlüsse zu fassen. Diese Fähigkeiten werden immer unwichtiger, je mehr die kapitalistische Vergesellschaftung fortschreitet, die Fähigkeiten von Individuen immer mehr nur Moment kapitalistischer Verwertungsprozesse werden, die Tradierung gesellschaftlichen Wissens institutionalisiert wird.

Wie immer beim utopiesuchenden Blick auf vergangene oder existierende andere Gesellschaftsformen besteht die Gefahr beschränkter Wahrnehmung und Romantisierung. Nicht-kapitalistische Gesellschaften sind bzw. waren keineswegs das Paradies für alte Menschen. Die Unterschiede in Lebensmöglichkeiten, d.h. auch der Möglichkeiten, den Lebensabend zu verbringen, sind/waren bestimmt durch Macht und Stand. Verlust der Arbeitsfähigkeit kann auch in nicht-bürgerlichen Gesellschaften zum Ausstoß aus der Gesellschaft führen. Marx sagte, daß mit der Verwertung der Sachenwelt die Entwertung der Menschen in direktem Verhältnis zunimmt. Das Schicksal von Alten in der modernen bürgerlichen Gesellschaft drückt aus, was "Schicksal" für die Mehrheit dieser Gesellschaft - unabhängig vom biologischen Lebensalter -ist: Reduktion auf Ware Arbeitskraft und Entmenschlichung, Entwertung. Es verweist uns auch darauf, daß wir uns bei Utopien oder Spinnereien über ein anderes Alter, über eine andere Gesellschaft, über eine andere Arbeit Gedanken machen müssen. Dies sollte bei der Beurteilung von jetzt gelebten versuchten Alternativen im Alter nicht vergessen werden.

Aber mit diesen Gedanken ist noch nicht alles gelöst. Es bleibt ein Faktum: Alter wird schnell mit Tod in Verbindung gebracht. Dies entspricht der Erfahrung und wird wohl auch in einer anderen Gesellschaft so bleiben. In einer Gesellschaft, in der selbstbestimmt-freies, gesellschaftlich-geselliges Leben und Arbeiten möglich ist, ist vielleicht das möglich, was mit "lebenssattem Tod" gemeint ist: daß man sich hinlegen und sterben kann, ohne das Gefühl zu haben, etwas versäumt zu haben, daß man all seine Bedürfnisse hat auskosten können, daß alles geregelt ist und die anderen auch ohne einen selber gut weiterleben können.

Oder gilt eher die pauschale Meinung eines von Annette Humpe im Fernsehen interviewten Punk, der sagte: "Der Tod ist ein Skandal."

Und wie ist es nun mit uns selber? Sind wir nicht auch solchen Entwertungen unterworfen oder haben zumindest Angst vor ihnen? Gut, die Erfahrung, daß eigene Qualifikationen durch Einführung moderner Produktionstechnologien entwertet werden und man nutzlos wird, macht - noch - keiner von uns. Aber diese Gefühle, nicht gefragt zu sein, nutzlos zu sein, bestimmte Kriterien der Jugendlichkeit und Fitheit nicht mehr zu erfüllen, kennt ihr die nicht? Auf der privaten Ebene als Mutter/Vater oder älterer Kumpel erfährt man, daß Junge von Älteren/Erwachsenen nichts hören wollen. Haben wir etwa davor Angst? Davor, daß Jüngere sich von Älteren nichts sagen lassen wollen. Haben wir das nicht selber schon gehört und nicht akzeptiert: "Jetzt glaub uns doch, wir haben da die und die Erfahrung gemacht...". Solche Argumentationen sind doch nichts anderes als der Versuch, mit dem Verweis auf die Erfahrungen der Erwachsenen die Erfahrungen (eigene, neue) bei den Jungen zu verhindern. Schlimm wird das unter Umständen für eine Generation der 68er und Nachfahren, die das der eigenen Eltern- und älteren Generation gegenüber erlebt hat. Denn ihre politischen Erfahrungen, Erkenntnisse, Perspektiven sind doch schließlich was anderes, als was die andere ältere Generation zu sagen wußte. Und wenn man dann noch vorgeworfen bekommt, selber zur Institution geworden zu sein... Sind das Zeichen dafür, "alt" zu werden, "alt" geworden zu sein - oder steckt da nicht mehr dahinter? Ist es vielleicht so, daß bestimmte Erwachsene der Neuen Linken den Jugendlichen, gemessen an den früher propagierten Zielen, wie etablierte, satte, versorgte Normalbürger vorkommen?

Überhaupt, warum ist die Linke, zumindest die Neue, so sehr auf eine Generation begrenzt? Wie ist das eigentlich in anderen Ländern. In der BRD spielt der Faschismus eine entscheidende Rolle. Von ihm wurde die linke Opposition fast ausgerottet. Und die anderen, die ihn - bereitwillig, begeistert oder nicht - überstanden, waren für die nachfolgende Generation kein Gesprächspartner. Die Mehrheit verdrängte die Faschismuserfahrung im Wiederaufbau. Zu den wenigen, die auf gelebten Widerstand zurückgreifen können, ergaben sich Anknüpfungspunkte, aber selbst das war aufgrund anderer politischer Traditionen oft nur schwer möglich. Wenn Linke dann - wie so oft - in andere Länder voller Neid blicken, so läßt sich zwar feststellen, daß bestimmte Teile der Linken dort altersdurchmischt sind, doch die Brüche sind trotzdem da: wer will sich schon ewig vom Verweis auf die demokratische Einheit in der resistenza oder resistance von schwungvollen Sprüngen abhalten lassen? Aber auch auf dieser Ebene deuten sich neue Verhältnisse an. Erlebt man die neuen sozialen Bewegungen, so läßt sich feststellen, daß viele Jugendliche, aber auch zunehmend Alte in den Konflikten Partei ergreifen und initiativ werden. Und diese Konflikte um Atomenergie, umwelt- und menschenfeindliche Großprojekte, "Nach"-Rüstung sind keineswegs altersspezifisch! Die Generation, die auffälligerweise fehlt, ist die zwischendrin. Und während die Alten (wieder) munter werden, breitet sich bei Teilen der älteren Neuen Linken Resignation aus. Die Realität der sozialen Bewegungen straft jedenfalls die staatstreuen Meinungsmacher Lügen, die mit dem Verweis auf die vielen "jugendlichen Rowdies" (in Polen genauso wie an der Startbahn West) und die "paar Vorzeigebürger" der älteren Generation die gesellschaftliche Breite des Widerstands denunzieren wollen.

Wenn wir an uns selber denken und allgemein festgestellt haben, daß die Krise Leute an den Rand drängt, Alte rauswirft, so können wir doch auch feststellen, daß viele Junge oder Mittelalte gar nicht "rein"kommen. Dadurch kommen Rollenmuster durcheinander, denn für viele ist es gar nicht mehr möglich, die von Altersgruppen vor ihnen erlangte "erwachsene Statussicherheit" zu bekommen. In wesentlichen Teilen wird sie auch abgelehnt: Familienorientierung, Karriere etc. Aber was heißt das für solche Zuschreibungen wie jung und alt? Wird man dadurch früher älter, "baut man ab", weil man so rasch mit Perspektivlosigkeit konfrontiert ist oder bleibt man ewig (manchmal komisch) jung, ist immer auf der Welle, experimentierfreudig?

Auf die meisten der hier angedeuteten Probleme gehen die Artikel ein: Allerdings haben wir - u.a. aufgrund anderer Herangehensweise an das Thema und aufgrund anderer Darstellungsformen - in diesem Heft Lücken lassen müssen. Eine besteht - leider - in der Auseinandersetzung mit aktueller Regierungspolitik (was die Rentenproblematik angeht, verweisen wir nochmal auf den Text von J. Valgueza in Heft 4/5, S. 45 ff.). Auch die Situation älterer Arbeiter(innen) im Betrieb ist etwas kurz behandelt. Doch waren wir nicht in der Lage, Schwächen zu überwinden, die auch innerhalb der Gewerkschaften fatalerweise zu finden sind. Auch dort klafft eine Lücke, wenn es um alte Arbeiter(innen) im Betrieb geht. Vielleicht können ja unsere Lücken ebenso wie die Ausführungen zum Schwerpunktthema Leser(innen) zu Äußerungen provozieren.

Redaktion "Widersprüche", Offenbach, Juni 1983

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