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Heft 4/5: Spaltung der Gesellschaft – Packeis und Seelenwärme

1982 | Inhalt | Editorial | Leseproben: 1 & 2

Titelseite Heft 4 und 5
  • Dezember 1982
  • 208 Seiten
  • EUR 7,00 / SFr 13,10
  • ISBN 3-88534-023-2

Rentnertod

Für einen Tag stand er in den Schlagzeilen. Senon S., ein ehemaliger Arbeiter bei den Conti-Werken in Hannover. Zwanzig Jahre lang hatte er seine Arbeit als Stanzer und dann in der Metallvorbereitung so verrichtet, wie es von einem guten deutschen Arbeiter erwartet wird. Die Firma bestätigte ihm sogar schriftlich: "Ehrgeizig, aufgeschlossen, anstrengungsbereit, aufrichtig, kameradschaftlich." Dann wurde er von einem Tag auf den anderen zur Ausschußware. Wegen Herzbeschwerden meldete sich Senon krank. Eine Besserung des Leidens trat nicht ein. Er beantragte eine Erwerbsunfähigkeitsrente. Für eine begrenzte Zeit wurde ihm dann von der Landesversicherungsanstalt eine monatliche Rente von knapp über 1.000 DM bewilligt. Ein Jahr später lehnte die LVA dem 53-jährigen, herzkranken Senon S. eine Weitergewährung der Rente mit der Begründung ab, er könne sich "durchaus wieder im Berufsleben zurechtfinden". Gegen diesen Bescheid widersprach Senon mit allem was er hatte - mit seinem Leben. Am 24. August 1982 verbrannte er sich vor dem Betonschloß der Landesversicherungsanstalt.

Bei den heutigen Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt einem über fünfzigjährigen, schwer herzkranken Arbeiter bürokratisch knapp zu bescheinigen, er könne sich im "Berufsleben schon wieder zurechtfinden", ist ein an dem Verbrennungstod des Arbeiters mitverantwortlicher Zynismus. Nicht viel humaner ist auch die Rechtfertigung der Continental Werke, die aus seiner Arbeitskraft jahrzehntelang ihren Profit geschlagen haben. Er hätte ja, so die Werksleitung, wieder bei uns anfangen können. Daß er sich auf dieses Angebot hin nicht gemeldet hat, ist dann seine Schuld.

Damit hat sich der Kreis wieder geschlossen. Die Arbeiter sind selbst schuld, wenn sie den Leistungen nicht mehr folgen können, wenn sie erkranken, wenn sie arbeitslos werden, wenn sie vorzeitig eine Rente beantragen, wenn sie sich kaputtsaufen oder in letzter Konsequenz selbst verbrennen. Es sind Fälle für die Psychiatrie oder die Sozialarbeit. Die Firmenbosse, die Behörden, die Versicherungen waschen ihre Hände in Unschuld. Das Leben ist nun mal so. Leistung zählt. Wem das nicht paßt, der hat schließlich bei uns noch die Freiheit, sich zu verbrennen.

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