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Heft 14: Mindesteinkommen – Ausweg aus der Armut? Befreiung von der Lohnarbeit?

1985 | Inhalt | Editorial | Leseprobe

Titelseite Heft 14
  • Februar 1985
  • 120 Seiten
  • EUR 7,00 / SFr 13,10
  • ISBN 3-88534-032-1

Zu diesem Heft

Eine Idee geht um, in Szenen wie in Szenarios, in Initiativen wie in Instituten - nein, kein Gespenst, sondern eine Zauberformel, eine Klappe für alle Fliegen auf einmal: "Garantiertes Mindesteinkommen" - den Einen die pure Befreiung, "Befreiung von falscher Arbeit", das große Ätsch allen Arbeitsmoralisten ins Gesicht, sei's modisch-ökolibertär, sei's klassisch-autonom, was wir schon immer wollten: "Recht auf Faulheit" - mit Lohnausgleich.

Den anderen, die das "Ausgehen der Arbeit" zu Ende soziologisiert haben, wird's ganz postindustriell zumute, ganz warm ums Herz der Post - ... Werte. Wieder andere, grüne und andere Finanzexperten ließen schon ihre Chips heißlaufen und haben die Verschiebung der monetären Massen (auf dem Papier) schon vollbracht: "nicht finanzierbar" oder - ganz konkret-utopisch -: [Formel nicht darstellbar] usw. Ganz andere hatten schon lange Blut gerochen: die Totaloperation des Sozialsystems und ein Minimum plus Flexibilität plus Zwangsarbeit plus privat-käufliche Sicherheit anstelle.

"Seht ihr, wir wußten es doch", sagen wieder andere mit defensivem Zeigefinger, "das kommt vom Entkopplungs-Ausstiegs-Übermut". Ganz vorsichtig und festhalten, festhalten - höchstens ein wenig "sockeln".

Im Ernst, die Debatte um ein "garantiertes Mindesteinkommen" (GMe) hat sich entwickelt und hat Konturen deutlicher werden lassen. Wir wollen sie in diesem Heft der WIDERSPRÜCHE weiterführen, in Fortsetzung der Diskussion über den "Umbau des Sozialstaats" (Heft 12) und zwar durchaus erweitert, als Debatte um "soziale Garantien" - über Geld und Quantitäten hinaus - um Garantien qualitativer Art: "Bedarf", "Mindeststandards", Voraussetzungen für "Teilhabe" - aber "von unten" definiert, als Teil selbstbestimmter Vergesellschaftung und alternativer Hegemonie (vgl. unser Strategiepapier in Heft 11).

GMe, RaE, NES, Demogrant - Mindesteinkommen in verschiedenen Farben

Längst ist die Debatte um ein GMe über das Stadium hinaus, wo man noch mit der provokativen, guten Idee GMe leuchtende Augen oder verkniffene Münder - je nachdem - auslösen konnte. Deutlich ist inzwischen Dreierlei geworden:

Unter GMe laufen verschiedene Modelle mit verschiedenen Implikationen und Realfolgen: Beispielsweise ist an eine "Negative Einkommensteuer" notwendigerweise flexibilisierte Arbeit und (Zwangs)Anreiz zur Arbeit ("Arbeitslose unter Dampf halten" (Gerhardt)) gekoppelt. Ein "garantiertes Staatsbürgergeld" dagegen ist einmal eine riesige Umverteilungsmasse, zum zweiten ein frontaler Angriff auf alle rechten Sparpolitiken und Leistungs-Hegemonien.

Mit dem GMe werden verschiedene Absichten, zumindest in der Schwerpunktsetzung verfolgt: Brücke zum "Ausstieg" aus der Lohnarbeit und Basis für "Eigeninitiative" (polemisch: von Schwarzarbeit bis Alternativprojekt) - gegenüber einem sozialpolitischen Alternativprojekt gegen Ausgrenzung und Erpressung mit Armut.

Hinter dem Vorschlag GMe verbergen sich sehr verschiedene Gesellschaftsbilder, Krisenanalysen und Utopien. Da steht für die einen die Arbeitsmoralität im Zentrum allen ökologisch-sozialpsychologisch-kulturellen Übels und deshalb muß "entkoppelt" werden, koste es, was es wolle (auch wörtlich zu verstehen). Da geht es anderen um die Umverteilung der "ausgehenden" Arbeit und um die Förderung "postmaterieller" Werte; da blühen Dualwirtschaften, Paradiese und alimentierte, informelle Tätigkeiten neben der "banalisierten" Restindustrie (Gorz). Ist dem einen das GMe fast schon seeliger (Dual)Endzustand, so ist es anderen in erster Linie Mittel, Mittel gegen die Krisenerpressung und lediglich (sozialpolitische) Voraussetzung, die Arbeit zu verändern und selbstbestimmt zu vergesellschaften - und zwar nicht unbedingt dual.

Von Prinzipien- und Tigerreitern

Deutlich zeigt die Debatte, wie sich Absichten und politische Herkünfte differenzieren: Sozialpolitiker gegen Ausstiegspropagandisten (nicht zufällig z.T. ehemalige, jetzt "bekehrte" "Helden der Arbeit(er)"). So produktiv die Differenzierung, so riskant sind aber falsche Polarisierungen und daraus resultierende Bornierungen: Daß es beispielsweise den "Sozialpolitikern" (ich überzeichne, sicher) am Ende nur noch um "Sockelungen" (in den bestehenden Sicherungen) geht, aus purer Angst vor rechter Instrumentalisierung weitergehender Perspektiven. Geheiligt sei das Bedarfsprinzip. Die "Sozialpolitker" in der Debatte um ein GMe werden sich fragen lassen müssen, ob sie nicht zu pragmatisch und - das sozialstaatliche Sicherungssystem - verteidigend bloß einige "Bremsen" (gegen Verarmung und Ausgrenzung) einbauen, ob sie die Dimension einer selbstbestimmten, nicht arbeits-zentrierten sozialen Sicherheit, einer anders als über Lohn und Zwang vergesellschafteten Arbeit noch (oder schon) sehen.

Die Ausstiegsfreunde werden sich fragen lassen müssen, wie sie den neoliberralen Tiger: Flexibilisierung von Arbeit, Arbeitsbeziehungen und soziale Sicherheiten reiten wollen: Ob sie ihm sozialstaatliche Leistungsansprüche zum Fraß hinwerfen können, ob nicht das Agreement mit dem gefräßigen Partner: Dir das bürokratische System, dir die diversen Ansprüche und Äquivalenzen und uns die Alimentierung der "Eigeninitiative", schiefgeht und am Ende die Aussteiger mitverspeist werden und mehr an Zwang und Herrschaft entstanden ist, als an "Befreiung" von "Falschem": Arbeitsdienst, sweat-shops, "Hausfrauisierung" der Arbeit und Kommerzialisierung der sozialen Sicherheit und ein Existenzminimum zur Disposition der gerade herrschenden politischen Wetterlagen...

Die Vorstellung beginnt

Klaus-Uwe Gerhardts Beitrag: Eigeninitiative und Sozialpolitik kommt aus der operaistischen Theorietradition und findet sich aktuell im ökolibertären Rahmen wieder. Entsprechend steht das Ziel: Ausstieg aus und Bruch mit der Lohnarbeit stark im Vordergrund. Ein Mindesteinkommen wäre ein gesellschaftlicher Boden für "Eigeninitiative", gegen verstaatlichte Sicherheiten und Interventionismen. In dieser Version, die dem Konzept einer "Negativen Einkommensteuer" zuneigt, werden durchaus Tendenzen zur Flexibilisierung der Arbeit wie der (kolletiv-verrechtlichten) Arbeitsbeziehungen inkauf genommen, wenn sich die "Arbeitszentriertheit" lockert und sich autonome Räume öffnen.

Hier knüpfen die Einwände und Überlegungen von Axel Bust-Bartels' umfassenden Beitrag: Das Recht auf Einkommen - Eine systemsprengende Reform? an. Als Korrektiv gegenüber der üblichen Geschichtslosigkeit (einschließlich Illusionen) in der Debatte greift der Beitrag auf die ältere deutsche, englische und amerikanische Diskussion (und z.T. Praxis) zurück und stellt das "Recht auf Einkommen" in die jeweils verschiedenen Zusammenhänge: Seien es die der Sozialreform, wirtschaftsreformerische Ideen, seien es Reaktionen auf Revolten. Im Anschluß an seinen Versuch, die aktuelle Debatte zu systematisieren, spielt der Autor verschiedene Szenarien: GMe und Folgen durch: mit dem Ergebnis, daß einer konservativen Instrumentalisierung in Richtung Spaltung der Gesellschaft, Flexibilisierung und Privatisierung nur begegnet werden könne, wenn ein GMe als "Sockelung" im Sozialen Sicherungssystem bei gleichzeitiger Zurückdrängung von Kontroll- und Selektionsmechanismen realisiert würde. Gelingen kann eine "soziale Garantie" nur, wenn der Brückenschlag zu "egalitären Traditionen der Arbeiterbewegung", zu Initiativen für eine sozial nützliche Produktion glückt und der Prozeß der Durchsetzung eine "Art Kulturrevolution initiiert".

Reinhard Pfriem: Qualität und Gerechtigkeit meldet gegenüber den Begründungen für ein GMe, die sich in erster Linie die "Befreiung von falscher Arbeit" (Thomas Schmid) auf die Fahnen schreiben, Kritik an. Einleuchtend weist er auf die immanenten Widersprüche der Ausstiegsoption hin: daß ein GMe als Ausstiegssprungbrett ein hohes Sozialprodukt erfordert, das gerade nicht gewollt sein kann; daß nur und wi(e)der (Willen) Verteilungskämpfe gefochten werden, wo es doch um qualitativ veränderte Arbeits- und Lebensformen gehen soll. Doch die Frage bleibt - jenseits aller Kritik der Ausstiegsillusion via Mindesteinkommen -, ob damit das GMe als sozialpolitisches Alternativprojekt (inclusive Übergangsforderungen plus Selbstverwaltungsperspektiven!) erledigt ist?

Dieser sozialpolitischen Seite wenden sich Walter Hanesch's Anmerkungen zur Forderung nach einem GMe zu und sie votieren entschieden gegen ein GMe als Alternative zum bisherigen Sicherungssystem. Hanesch befürchtet, daß entgegen den guten Absichten neue Zwänge zur Arbeit und Verteilungseffekte zuungunsten der neuen und alten Armen (z.B. durch eine Wertschöpfungssteuer, die - auf Preise überwälzt - geringere Einkommen relativ mehr belastet) entstünden. Daneben verweist er auf die politische Schwierigkeit, gerade in der Krise eine "höhere Form von Gesellschaftlichkeit" durchsetzen zu wollen. Gegen die Strategie der Konservativen, sozialstaatliche Besitzstände und Schutzfunktionen und die Einkommen insgesamt abzubauen, setzt Hanesch die Forderung nach übergreifenden Bündnissen zwischen Beschäftigten und Nichtbeschäftigten.

Das gleiche Ziel verfolgt die Fachpolitische Stellungnahme: Arbeitslosigkeit, Ausgrenzung und Armut der AG Armut und Unterversorgung, die wir in diesem Heft ungekürzt dokumentieren. Die Stellungnahme analysiert die "Explosion" einer neuen Armut, welche durch restriktive Sozialpolitik verschärft wird (Aushöhlung des "Bedarfsprinzips" und Pflichtarbeit in der Sozialhilfe) und wie die konservative Politik Krisenopfer ausgrenzt, vor allem die Frauen. Die Autoren fordern von den Gewerkschaften einen Neuansatz in der Armenpolitik. Im Zusammenhang unserer Debatte wird allerdings zu fragen sein, ob das eher defensive Einklagen des Bedarfsprinzips schon Perspektive genug ist, um Bündnisse und gesellschaftliche Kräfte in Bewegung zu setzen.

Kleines Zwischenspiel: Ein Mindesteinkommen ist noch keine Garantie

Überblicken wir die Debatte um das GMe bis hierher, so scheint zumindest klar, daß weder bloße Umverteilungsphantasien (unter neuem Etikett) noch Hoffnungen auf "Befreiung von falscher Arbeit" via Alimentierung perspektivenreich - weder befreiend noch durchsetzbar - sind. Erst eingefügt in ein "Umbau"-Projekt des Sozialstaats (gegen Ausgrenzung) und verknüpft mit einer Perspektive der "alternativen Hegemonien" in Arbeit und Vergesellschaftung wird ein GMe zur "sozialen Garantie". In zwei Richtungen wird eine Weiterentwicklung nötig sein:

Zum ersten werden wir "soziale Garantien" für unterschiedliche Lebenslagen formulieren müssen: Was heißt "soziale Garantie" für die Alleinerziehende, was für den älteren Arbeitslosen, was für den "überflüssigen" Jugendlichen: als Garantie der Teilhabe! Wie können Zwischenschritte und Übergangsforderungen für die jeweils unterschiedlichen Lebenslagen aussehen (von Abschaffung der Arbeitslosenhilfe bis Mindestrente), wie Sicherung (gegen Verarmung und Ausgrenzung) mit Selbstbestimmung verbunden werden?

Zweitens müßten "soziale Garantien" eine "kollektive Tendenz" beinhalten, müßten einen tragfähigen und "passenden" Boden für autonome und gleichzeitig gesellschaftlich getragene Vergesellschaftungsformen der sozialen Bedürfnisse und Sicherheiten darstellen. "Produzentensozialpolitik" war unser Begriff für eine solche Konzeption der Selbstverwaltung des Sozialen, für den "Umbau" der sozialstaatlichen Herrschaftslogik und der Institutionen.

So verstanden kann ein Mindesteinkommen, können die "sozialen Garantien" nur das "Erdgeschoß" des "Umbaus" von sozialer Sicherheit, von Arbeit und Beziehungen errichten.

("Soziale Garantien" so zu präzisieren und weiter zu entwickeln soll Aufgabe der TAGUNG am 16./17.2.1985 in Frankfurt/Main sein - Die "Widersprüche"-Redaktion wird zu dieser Tagung ein Diskussionspapier "Soziale Garantien für unterschiedliche Lebensweisen" vorlegen und im nächsten Heft veröffentlichen.)

Vorstellung, zweiter Teil und Schluß mit Fragezeichen

Um die Qualität von Garantien, um ihren Ort innerhalb des "Umbaus" geht es auch im Beitrag von Niko Diemer: Gesundheit als Garantie und Hegemonie. Eine "garantierte Mindestversorgung" in einem alternativen Gesundheitssystem könnte ein notwendiger "Boden" sein, ist aber nicht hinreichend: Dazukommen muß die Perspektive der Aneignung, der Aneignung der Leiden und Kompetenzen durch die "Produzenten"; dazukommen muß eine "alternative Hegemonie", die Aufweichung ausgrenzender Normalitäten und Rationalität, so daß Leiden und Regression nicht mehr ins Gefängnis eines "Symptoms", in passiv-individuelles Kranksein gezwungen werden müssen.

Wie aber Bögen schlagen zu anderen Hegemonie-Versuchen und wie diese gegen-mächtig werden lassen, gegen-mächtig gegen Spaltung und Erpressung in der Krise, gegen neokonservative Populismen?

Eingeleitet wird das Heft mit dem Beitrag von Hartmut Dießenbacher: Zur äußeren und inneren Kolonialisierung fremder Lebenswelten. Die Geschichte der Sozialpolitik wird hier als Geschichte der Kolonialisierung der fremden "Lebenswelt": Armut geschrieben. Der Zusammenhang zur Debatte um ein GMe ist spätestens dort hergestellt, wo Dießenbacher anschaulich zeigt, welche Sorgfalt die sozialpolitischen Praktiken der "inneren Kolonisatoren" darauf verwandten, ihre Fürsorge an Arbeitszwang, ihre Wohltaten an Pflicht und Askese zu koppeln - kurz: die Hegemonie der Leistungs- und Tauschmoral bei den damaligen, hießigen "Wilden" durchzusetzen.

Und diese Missionare der Arbeitsmoral müssen überaus gründlich und erfolgreich gewesen sein. Warum hätten wir sonst solche Schwierigkeiten in der Debatte über Arbeit und Nichtstun - und das ist die Hinterbühne der Mindesteinkommens-Diskussion! Warum sonst fallen wir in solche Manichäismen beim Nachdenken über Arbeit zurück (Arbeit als nur äußerer Zwang oder Glück als leeres Nichtstun - "banalisiert" - formelle, maschinenförmige Entfremdung oder informelle Dauervergegenständlichung, eine wiederauferstandene, neo-calvinistische Arbeits-Utopie ...); und: warum sonst fallen wir in solche Tiefen anthropologischer Mutmaßungen hinein?

Produzentsein ohne Zwang; Nichtstun ohne Schuld und ohne paternalistischen Beistand gegen den säkularisierten Teufel: Identitätszerfall - etwas, was so schwierig zu denken ist?

Redaktion "Widersprüche", Offenbach, Februar 1984

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