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Heft 15: Mut zur Bildung – Der Aufklärung verpflichtet

1985 | Inhalt | Editorial | Leseproben: 1 & 2

Titelseite Heft 15
  • Juni 1985
  • 112 Seiten
  • EUR 7,00 / SFr 13,10
  • ISBN 3-88534-003-X

WIDERSPRÜCHE-Redaktion

"Mindesteinkommen" als soziale Garantien

Mindesteinkommen, unabhängig von Lohnarbeit, würde ... bedeuten, sich von der "Leitfigur" der sozialstaatlichen Sicherheit, dem Lohnarbeiter - und dessen Arbeitsfähigkeit - unabhängig zu machen. Andere gesellschaftliche Tätigkeiten: Hausarbeit, Ausbildung, sinnvolle und selbstbestimmte Tätigkeit, jenseits herrschaftlich anerkannter Produktion, müßten von der "Sozialen Garantie" abgesichert werden. (Redaktion WIDERSPRÜCHE, 1984, S. 126).

These l

Mindesteinkommen ist kein Hebel zur generellen Befreiung, noch Hebel zur Veränderung der Arbeit, weder Hebel zur Befreiung von Herrschaft, noch Hebel zur Durchsetzung einer alternativen Gesellschaftlichkeit.

Anders ausgedrückt: Ein Mindesteinkommen, selbst wenn es genügend hoch bemessen sein sollte, garantiert noch keine sinnvolle Teilhabe an anderen gesellschaftlichen Prozessen als dem der (verbesserten) Konsumtion - Spaltungen und Ausgrenzungen werden evtl. "nur" versüßt. Erst die Verbindung von je nach Geschlecht, Alter und Lebens- bzw. Klassenlage unterschiedlichen Interessen an der Teilhabe an gesellschaftlichen Gestaltungsprozessen mit einer entsprechenden finanziellen Absicherung macht die politische Brisanz garantierter Mindestabsicherung aus, zumal so "Tagesforderungen" und "Utopie" verbunden werden können.

These 2

Obwohl die publizierten Modelle zum Mindesteinkommen sich als systemkritisch verstehen, bleiben sie doch in einem eigenartigen Ökonomismus und einem unreflektierten Etatismus befangen.

Ein expliziter Ausgangspunkt aller Argumente für die Einführung eines Mindesteinkommens ist der ungeheure Reichtum unserer Gesellschaft, der es grundsätzlich gestatten würde, allen Gesellschaftsmitgliedern ein zumindest finanziell ausreichendes Leben zu gewährleisten (Schmid, 1984, S. 8, Gerhardt/Weber, 1984, S. 18, Opielka, 1984, S. 51). Ein weiteres gemeinsames Kennzeichen ist die These, daß nur das garantierte Mindesteinkommen eine offensive Forderung gegen den Sozialabbau, gegen die Entrechtlichung (Vobruba, 1983), gegen Zwangsarbeit und gegen ein kollabierendes Versicherungssystem ist. Egal, ob man nun ein Mindesteinkommen in Form einer negativen Steuer (Gerhardt/Weber, 1984) oder in Form eines allgemeinen Grundeinkommens (Garantiertes Bürgergehalt, Opielka 1984) für sinnvoller hält (das erstere erleichtert evtl. die Finanzierung, das zweite verspricht einen radikaleren Bruch mit allen bisherigen Vorstellungen von Lohnarbeit), in beiden Fällen soll ein derartiges Unternehmen über den "Staat" laufen - in der Regel über das Finanzamt. Beide Modelle tendieren auf diese Weise zu einem eigenartigen "Ökonomismus" und zu einem unreflektierten "Etatismus".

"Ökonomismus"

Es wird sogar ausdrücklich betont, daß erst auf der Basis einer finanziellen Mindestabsicherung die Teilnahme an einem "richtigen" Marktmodell möglich sei (Hausmann 1984, S. 94). Die Hoffnung, daß sich auf einer derartigen Marktfreiheit schon das richtige entwickeln würde, z.B. Teilhabe an alternativen Projekten, Emanzipation der Geschlechter, ökonomische Absicherung des "informellen Sektors", ein menschenwürdiges Leben im Alter usw., bleibt zunächst nichts als unbewiesene Hoffnung. Dagegen gibt es eine ganze Reihe von ebenfalls plausiblen Annahmen, daß nämlich bestehende geschlechtstypische Rollenfixierungen bestehen bleiben (Schreyer 1984), daß ein mit größeren Rechten ausgestatteter Lohnarbeitssektor (Tarifverträge, Arbeitsschutz, geregelte Arbeitszeiten usw.) einen zweiten Sektor mit vor allem Dienstleistungscharakter, der billig und alternativ vor sich hinwurschtelt, hervorbringt (vergleiche Hanesch, der hierzu eine Reihe gewichtiger Argumente bringt, 1984).

Darüberhinaus betont Schreyer, daß ein Mindesteinkommen, von dem man tatsächlich leben könnte, ein steigendes Bruttosozialprodukt zur Voraussetzung hätte. Eine Paradoxie also, wenn man den gesellschaftsverändernden Anspruch des Mindesteinkommens voraussetzt. "So gesehen, stellt eine Mindesteinkommenspolitik eine Wohlfahrtsstrategie dar, die von dem lebt, was sie verhindern soll" (1984, S. 7).

"Etatismus"

Als hätte es nie eine kapitalismuskritische Sozialstaatsanalyse gegeben, wird der "Staat" zum scheinbar neutralen Verteiler von Mindesteinkommen. Daß in Zeiten der Krise, der verschärften sozialen und Klassenauseinandersetzungen die Reduktion der sozialen Versicherungsmodelle auf ein einziges Modell dieses schnell zum Spielball von Machtinteressen machen würde, mag dabei noch der "politische Kampffaktor" sein; schwerwiegender scheint es jedoch zu sein, daß nicht in Ansätzen Überlegungen angestellt werden, wie in einem Gesellschaftssystem, in dem Verteilungsfragen Machtfragen sind, auf einmal riesige Finanzmassen - per Einsicht? - umverteilt werden sollen. Lediglich Axel Bust-Bartels weist auf diese Frage in seiner sehr differenzierten Darstellung der Mindesteinkommensproblematik hin: "Würde das Recht auf Einkommen heute als sozialstaatliches Geschenk von oben eingeführt, so wäre die Gefahr relativ groß, daß sich die weitere gesellschaftliche Entwicklung in die eben angedeutete problematische Richtung bewegt" (1984, S. 54). (Er meint damit die Verdrängung sogenannter Problemgruppen vom Arbeitsmarkt, die Möglichkeit weiter zunehmender Vereinzelung, die Verfestigung der Spaltungen, Ausgrenzungen insgesamt auf einem höheren Niveau).

Ebenfalls bleibt die Frage nach dem politischen Subjekt, das ein derartiges Mindesteinkommen durchsetzen könnte, unbeantwortet. Das Jonglieren mit Zahlen aus dem Bruttosozialprodukt legt nahe, daß dieses Subjekt die Parlamente sein könnten, in denen entsprechende Gesetze verabschiedet werden. Auch diese Vorstellung erscheint naiv. Es fehlt im Ansatz eine Perspektive, die Nicht-Arbeitende und Arbeitende strategisch vereint. Wenn zu diesem Problem keine Vorstellungen erstellt werden, ist die Gefahr groß, daß die im "formellen Sektor" Beschäftigten eine Rechtsentwicklung durchmachen, die in Teilen der Gewerkschaften und der SPD schon jetzt auszumachen ist. Die Arbeitenden brauchen ja Gründe, weshalb sie bereit sein sollten, die Nichtarbeitenden zu "alimentieren".

These 3

Die positiven Effekte einer Entkopplung von (Lohn-)arbeit und Einkommen können nur dann genutzt werden, wenn sie Garantien auf allseitige Teilhabe an gesellschaftlichen Gestaltungsprozessen enthalten.

Vor dem skizzierten Hintergrund ist auch kritisch zu bewerten, was Opielka (1984) im Anschluß an Vobruba (1984) und Matzner (1982) als Entkoppelung von Lohnarbeit und Einkommen bzw. der Abkopplung des Einkommens von der Lohnarbeit beschreibt. Vobruba (1984) weist nach, daß mit der Ausdehnung des Sozialstaats auf immer weitere Lebensbereiche zunehmend mehr Lebenssituationen (Kindheit, Krankheit, Alter) nur noch indirekt an die Lohnarbeit gekoppelt sind, daß es umgekehrt also eine historisch immer weiter fortschreitende Entkoppelung von Arbeit und Einkommen gibt. Da das Versicherungssystem die im Produktionsbereich vorfindlichen Einkommensunterschiede nur reproduziert (geringeres Einkommen = geringere Rente), schlägt er vor, statt des Versicherungsprinzips Teilhaberechte einzuführen. Ähnlich wie in der Krankenversicherung jeder unabhängig von seinem Beitrag Anspruch auf gleiche Heilbehandlung hat, sollte auch in anderen Versicherungssystemen (bzw. Äquivalenten dazu) stärker "final" und nicht mehr "kausal" gedacht werden und entsprechende Sicherungen des Einkommens z.B. in Ausbildung und Alter vorgesehen werden.

Ein Mindesteinkommen würde diese Entkopplung total machen und damit unterstreichen, daß die Lebenssituationen und Lebensbereiche außerhalb der Lohnarbeit von gleicher gesellschaftlicher Bedeutung und in einem anderen Sinne auch sehr produktiv sind.

Die Ablösung der Versicherungsprinzipien durch ein Recht auf Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen wäre ein grundsätzlicher Bruch mit der bisherigen Logik des Sozialstaates und von daher sehr zu unterstützen: Jeder Mensch in dieser Gesellschaft hat ein Anrecht auf menschenwürdige Existenz und auf Teilhabe an der Gestaltung der Gesellschaft.

Allerdings scheint es unlogisch und unproduktiv, das Recht auf Teilhabe in einen Gegensatz zur Lohnarbeit zu stellen, wie Opielka das tut (1984).

Lohnarbeit ist immer noch die zentrale Form der Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen. Nur wenn man Lohnarbeit gleichsetzt mit allen Übeln dieser Welt und NichtLohnarbeit als Befreiung von diesen Übeln (vergl. Opielka 1984, S. 56), ergibt die Entgegensetzung einen Sinn. Es ist hier nicht der Platz, auf diese Problematik weiter einzugehen, aber ist die bezahlte Arbeit in alternativen Projekten keine Lohnarbeit? Ist nur die gegen Bezahlung geleistete Arbeit "Lohnarbeit", für die Versicherung und Steuern bezahlt werden? Hier scheint einiges durcheinanderzugehen. In jedem Fall unterschlägt die kulturkritische Sichtweise von Lohnarbeit deren Doppelcharakter: Sie ist nie nur abstrakte Arbeit zur Steigerung des Mehrwertes bzw. zu dessen gesellschaftlicher Erhaltung; sie ist auch immer konkrete Arbeit: Bearbeitung von Materialien, Kooperation, Kontakt mit anderen - wenn auch unter herrschaftlicher Perspektive. Und von diesem Doppelcharakter sind auch Arbeiten in alternativen Projekten nicht "befreit".

Genausowenig wie der Arbeiter, der morgens zur Arbeit geht, in der Arbeit kein anderer Mensch ist als in seinem Freundes-, Familien- und Wohnbereich, genausowenig sollte die Teilhabe an Lohnarbeit wichtiger oder geringer gewertet werden als die Teilhabe an anderen gesellschaftlichen Bereichen. Nur vom Standpunkt des Kapitals aus sind diese Bereiche weniger "wert". Vom menschlichen Standpunkt ist die Aneignung von "Umwelt" in vielfache gesellschaftliche Bereiche eingebettet. Der Ausschluß aus diesen Bereichen hat häufig nicht weniger schwerwiegende Folgen als der Ausschluß von (Lohn-)arbeit. Die Teilhabe an Lern- und Ausbildungsprozessen, die nicht die Identität zerstören, sondern fördern, ist genauso wichtig wie die Teilhabe an humanen Wohn- und Infrastrukturbedingungen. Erst auf der Basis materieller Sicherheit können sozial gelingende und befriedigende Beziehungen aufgebaut werden und ist Teilhabe an politisch eingreifendem Handeln subjektiv häufig erst möglich und mit einer dauerhaftigen Perspektive verbunden. Unter diesem Aspekt ist es müßig, nach dem ursächlichen oder dem wichtigsten Bereich zu suchen. Allerdings wissen wir aus Untersuchungen sowohl von Arbeitenden als auch von Arbeitslosen, daß in der weitaus größten Mehrheit unserer Gesellschaft Identitätsbildung noch immer über Arbeitsprozesse läuft. Dies wird sich aber auch erst ändern können, wenn in anderen Lebensbereichen äquivalent-positive Erfahrungen der Bestätigung und der wechselseitigen Anerkennung laufen können.

These 4

Soziale Garantien, die individuelle und kollektive Teilhabe an gesellschaftlichen Gestaltungsprozessen ermöglichen, orientieren sich nicht an in DM ausdrückbaren Mindestsummen, sondern an den unterschiedlichen Interessen und Bedürfnissen der jeweiligen Lebens- und Klassenlagen.

Das Bestechendste an der Forderung nach einem garantierten Mindesteinkommen als individuellem Rechtsanspruch auf gesellschaftliche Teilhabe ist ganz sicherlich die damit verbundene Autonomie des Individuums. Der Jugendliche kann in Ruhe "daddeln", ohne daß ein kulturkritischer Pädagoge ihm folgenreich das Etikett "antriebsarm" aufkleben könnte. Überhaupt wäre mit der Durchsetzung einer derartigen Forderung einer Vorstellung ein Riegel vorgeschoben, die davon ausginge, mit einer Mindestsicherung Zwangsarbeit, Zwangspädagogik und Zwangstherapie - und seien letztere noch so subtil - miteinander zu verbinden (vergl. Heiner 1979).

Bleibt es allerdings bei dieser Vorstellung, dann ist damit die Gefahr des oben schon kritisierten "Marktmodells" verbunden.

Natürlich gibt es dem Jugendlichen, der DM l .000,- im Monat zur Verfügung hat, die Möglichkeit, eine Menge damit anzufangen. Aber was passiert, wenn er nicht zusätzlich seine Identität fördernde, seinen Wunsch nach Anerkennung, Aktivität und Lebensfreude entsprechende Bedingungen vorfindet? - Natürlich fällt es einer Frau leichter, sich aus den ökonomischen Zwängen einer kaputten Ehe zu befreien, wenn sie ein ausreichendes Einkommen ohne Diskriminierung bezieht. Aber sind damit schon die Bedingungen für die Erziehung ihrer Kinder verbessert?

Natürlich ist der Bruch im Leben eines Werkzeugmachers, der wegen Automation entlassen wird, weniger schwerwiegend, wenn er keine Angst vor der sozialen Rutschbahn haben muß. Wie aber soll er in Zukunft seine erworbenen Fähigkeiten einsetzen, wenn ihm die Bedingungen dazu fehlen?

Natürlich bleibt der alten Frau der entwürdigende Gang zum Sozialamt erspart, weil sie nun endlich eine ausreichende Rente bekommt. Aber gelingt es ihr dadurch, aus ihrer Isolation herauszukommen?

All diese Fragen lassen sich nur beantworten, wenn man die konkreten Lebenslagen und Bedürfnisse - wie herrschaftlich definiert diese auch immer sein mögen - nicht auf finanzielle Mittel reduziert, sondern in den Kontext der Teilhabe an gesellschaftlichen Gestaltungsprozessen stellt.

Eine Strategie, die eine derartige Teilhabe als Möglichkeit (und eben nicht als Zwang) anbietet, haben wir "Produzentensozialpolitik" genannt (vergl. Redaktion Widersprüche, 1984). Dort hatten wir Produzentensozialpolitik definiert als Form und Inhalt gesellschaftlicher Projekte, "die hilfreich, aber nicht beherrschend sind; individuell zureichend, aber nicht parzellierend; Lebenszusammenhänge stützend, aber nicht kompensatorisch; und die wirkungsvoll, aber nicht herrschaftlich funktional sind" (S. 131).

Das bedeutet, daß zunächst die Beteiligten an einem Projekt selbst bestimmen, was Inhalt ihres Projektes ist (das ist nur scheinbar banal!). Weiterhin müssen diese Projekte Krisen und Probleme, die nur scheinbar individueller Art sind, kollektiv und öffentlich bearbeiten sowie die Macht zur Definition dessen, was denn das Problem sei, auch finanziell und organisatorisch zu bestimmen haben. Nicht zuletzt müßte die interne Arbeitsteilung, der Umgang mit Experten, so gestaltet sein, daß sie herrschaftlicher Differenzierung widerstrebt. Wir hatten eine derartige Form von Produzentensozialpolitik am Beispiel der Frauenhäuser erläutert. Die gleichen Kriterien aber wären anzuwenden z.B. bei Projekten zur Ausbildung von Jugendlichen, bei Projekten alternativer Produktion und Energieversorgung, bei Projekten der Krankenselbstverwaltung, bei Projekten für ein Leben im Alter.

These 5

Soll die Realisation eines Mindesteinkommens nicht ein Tauschgeschäft mit den Konservativen werden nach dem Motto: Tausche Bürokratien gegen Mindestsicherung (die nach Friedman und Engels eher noch unter der Sozialhilfe liegen dürfte), so ist die Forderung nach sozialen Garantien mit politischen Perspektiven auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen zu verbinden. Es ist das Kunststück fertigzubringen, das bisherige System der sozialen Sicherung zugleich zu verteidigen, zu kritisieren und zu überwinden.

These 5.1

Mindesteinkommen als soziale Garantie müssen das bisherige Sicherungssystem verteidigen, absichern und sockein; kurz: angestrebt wird eine Grundsicherung minus Herrschaft.

Zwischen 1956 und 1974 wurden die sozialen Sicherungssysteme (Rentenversicherung, BSHG, AFG, BAFÖG u.a.) ausgebaut. Schon bei den ersten Krisenerscheinungen wurden gerade die Regelungen abgeschafft, die sich angeblich in der Krise erst bewähren sollten. Statt eines zunächst noch abstrakten Ziels wie Mindesteinkommen hinterherzurennen, ist es sinnvoll und notwendig, das bisherige System der sozialen Sicherung zu verteidigen und z.T. sogar auszubauen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Gesamtheit der sozialen Sicherungssysteme - bei aller Kritik - schon jetzt an einer Differenziertheit der sozialen Lagen orientiert ist, die bei einer Pauschalisierung in Richtung Mindesteinkommen verlorenginge.

  • Sozialhilfe: Zunächst ist die Idee des Warenkorbes zu verteidigen und die Richtung eines Warenkorbes "von unten" zu erweitern. Die politische Brisanz, die darin liegt, daß dieser Warenkorb ein Leben ermöglichen soll, das der Würde des Menschen entspricht (BSHG), sollte nicht hinter prozentualen Auf- und Abrundungen verschwinden. Weiter wäre zu fordern, die Vergabe von Sozialhilfe zu entdiskriminieren, sowie eine Ausrichtung der Höhe nicht nach den untersten Lohngruppen, sondern nach dem Durchschnittslohneinkommen (vergl. Hoffmann/Leibfried 1980) zu bestimmen.
  • AFG: Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und unbegrenzte Gewährung der Arbeitslosenunterstützung, die nicht unter einem bestimmten Mindestbedarf liegen darf.
  • Rentenversicherung: Mindestrente und eine aktivierende und aktive Absicherung des Lebens im Alter (der Gesetzentwurf der Grünen zum Bundespflegegesetz scheint in diese Richtung zu gehen, vgl. TAZ vom 22.12.1984).
  • Gesetzliche Krankenversicherung: Einbeziehung aller Lohnabhängigen in die gesetzliche Krankenversicherung, Abschaffung der Privatkassen, Abschaffung der "Selbstbeteiligung".
  • usw. (bitte selbst ergänzen).

Insgesamt geht es darum, in all diesen Bereichen nicht mehr zu unterschreitende Sockelbereiche und -beträge zu schaffen, die unabhängig vom Einkommen oder von bisherigen Versicherungsleistungen gezahlt werden. Sockelung wäre also ein erster Schritt zu einem Mindesteinkommen, das an dem jetzigen System ansetzt - und das dem diskriminierenden und stigmatisierenden Zugriff herrschaftlicher Apparate entzogen ist.

Aber nicht nur auf dieser Ebene wäre anzusetzen. Angestrebt werden müßte eine Politisierung der Selbstverwaltungsgremien der gesetzlichen Versicherungsträger (im nächsten Jahr sind Sozialwahlen!). Auch wenn real in den Selbstverwaltungseinrichtungen nicht sehr viel entschieden wird, gilt für eine Teilnahme an ihnen jedoch prinzipiell die gleiche Argumentation wie für die Teilnahme an Wahlen im bürgerlichen Staat überhaupt.

Derartige Strategien der Sockelung und der Repolitisierung der sozialen Sicherung haben zugleich den Vorteil, daß alle Forderungen unter dem Aspekt der sozialen Garantien zusammengefaßt werden können. So wird vermieden, daß eine Gruppe gegen die andere ausgespielt wird.

These 5.2

Mindesteinkommen als soziale Garantien an gesellschaftlichen Gestaltungsprozessen dürfen nicht nur defensiv auf Absicherung gerichtet sein, sondern müssen auch kollektive Möglichkeiten gesellschaftlicher Produktivität anstreben. Also: Grundsicherung plus Produzentensozialpolitik.

Geht man die lange Liste von Kritikern der Psychiatrie, fortschrittlichen Gesundheitsgruppen, Elterninitiativen, Frauengruppen, Gewerkschaftsgruppen für alternative Produktion und Konversion, Arbeitslosengruppen, Projektgruppen für alternative Energie usw. durch, so fällt auf, daß alle - wenn auch mit unterschiedlicher Benennung - eine gemeinsame Forderung aufstellen: es sollen Gelder und Mittel zur Verfügung gestellt werden, die es diesen Gruppen ermöglichen, selbstbestimmt und in Kooperation mit anderen zu arbeiten und zu leben. Diese Forderung nach Verfügung über kommunale oder regionale z.T. auch bundesweite Fonds haben nichts von der Naivität der Forderung nach Umverteilung über das Finanzamt sondern stellen einen direkten Angriff auf das Herz des Sozialstaates dar: auf die diskriminierende und kontrollierende Vergabe von Geldern für gesellschaftlich notwendige Zwecke. Wie immer auch derartige "kommunale Verfügungsfonds" im einzelnen aussehen, in ihrer Grundstruktur müßten sie weit über die jetzigen Alimentationen alternativer Projekte hinausreichen ("Berliner Modell"). Grundsätzlich müßte es möglich sein, alle gesellschaftlich sinnvollen Projekte damit zu finanzieren. Was dabei jeweils gesellschaftlich sinnvoll heißt, ist Gegenstand eines kollektiven Auseinandersetzungs- und Politikprozesses und nicht mehr individuelle Entscheidung. Die Finanzierung derartiger Projekte hätte sich an den Tarifrahmen der Gewerkschaften zu orientieren, damit nicht durch Billigangebote z.B. im Handwerksbereich eine gesellschaftliche Kostenumverteilung nach unten passiert.

Auch hier wäre anzusetzen an den schon vorfindbaren Finanzierungs- und Verteilungsmodalitäten. In derartigen kommunalen Verfügungsfonds wären Mittel aus der Wirtschaftsförderung, aus Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen usw. umzuverteilen. In Verbindung mit einer sozialen Sockelung hätte jeder Mensch die Möglichkeit der Wahl zwischen individueller Absicherung und Mitarbeit in einem derartigen Projekt.

These 5.3.

Soziale Garantien als nicht unterschreitbare Sockelbeträge und soziale Garantien als Teilhabe an gesellschaftlichen Fonds ermöglichen perspektivisch den Bruch mit der herrschenden Form der Vergesellschaftung. Die Betonung der Produktivität aller gesellschaftlichen Bereiche steht im Widerstreit zur Reduktion kapitalistischer Produktivität auf den "Wert", sprich: die Lohnarbeiterfigur mit allen ihren ideologischen materiellen Attributen. Letztlich: Grundsicherung plus antihegemoniale Orientierung.

Eine alternative Sozialpolitik, die den kapitalistischen Produktionsbereich unberührt ließe, würde zu systemkonformer Kosmetik.

Viele bisher skizzierte Aspekte lassen sich auch auf den kapitalistischen Produktionsbereich analog anwenden. So entspricht der Sockelung die Forderung nach einem Mindestlohn, um so branchenspezifische und regionale Ausgrenzungen und Abkoppelungen vom durchschnittlichen Lohnniveau zu verhindern. Die Forderung nach gesellschaftlichen Fonds (die durchaus finanziell gesamtgesellschaftlich gespeist werden müßten) könnte "Arbeitende" und "Nichtarbeitende" unter gemeinsamen Forderungen vereinen und so beiden Gründe für ihre wechselseitige Anerkennung geben. Einer systemkonformen Dualisierung des Arbeits- und Produzentenmarktes könnte damit widerstanden werden. Weiterhin müßte eine derartige Strategie eingebunden sein in die Frage der Arbeitszeitverkürzung und der Arbeitsumverteilung.

Unter diesen Aspekten gewinnt die Forderung nach sozialen Garantien eine grundsätzliche Bedeutung. Sie stellt die hegemoniale Struktur des Sozialstaates infrage. Diese Hegemonie basiert auf der parzellierenden, diskriminierenden, ausgrenzenden und individualisierenden Funktion der Organisationsform des Sozialstaats.

Eine Strategie des Bruchs mit den herrschenden Gegebenheiten könnte die soziale und politische Phantasie antihegemonialer Politik beflügeln. Warum sollten aus gesellschaftlichen Fonds z.B. nicht auch Schulen, gemeinwesenorientierte, nicht diskriminierende Sozialarbeit, warum nicht Wohnungsbau und Renovierungsprojekte finanziert werden? (Ansätze gibt es ja schon). Insgesamt stünde damit die Organisation des Sozialstaats zur Debatte - und Organisationsfragen sind Machtfragen. Die Frage nach der Qualität sozialstaatlicher Versorgung würde ganz anders gestellt werden und könnte sich offensiv auf Fragen der Ambulantisierung der Gesundheitsversorgung, der Psychiatrie usw. ausdehnen. Es würden damit also Themenbereiche berührt, die in der bisherigen Diskussion um das Mindesteinkommen entweder nicht oder nur als zu verteilendes Finanzvolumen zur Debatte gestanden haben. Nicht zuletzt würde die Forderung nach Sozialen Garantien die herrschende Sozialstaatslegitimation infrage stellen, ohne aber bisher erkämpfte und erworbene kollektive Rechtssicherheiten aufzugeben.

Literatur

  • Bust-Bartels, Axel: Recht auf Einkommen, in: aus politik und Zeitgeschichte, B 28/84, 1984, S. 39-54, erweitert in: WIDERSPRÜCHE, Heft 14, S. 25-53
  • Gerhardt, Klaus-Uwe; Weber, Arnd: Garantiertes Mindesteinkommen. Für einen libertären Umgang mit der Krise, in: Schmidt, Thomas (Hrsg.), Befreiung von falscher Arbeit, Berlin 1984, S. 18-67; vergl. Gerhardt, Klaus-Uwe, Eigeninitiative und Sozialpolitik, in: WIDERSPRÜCHE, Heft 14, S. 61-69; Hanesch, Walter: Einkommenssicherung in der Krise, in: Schmid, Thomas (Hrsg.), a.a.O. S. 121-142, erweitert in: WIDERSPRÜCHE, Heft 14, S. 77-83
  • Hausmann, Ulrich: Was ist ökonomisches Handeln? Argumente für die Einführung der Marktwirtschaft, in: Schmid, Thomas (Hrsg.), a.a.O. S. 86-98
  • Heiner, Maja: Die "Grünen" und die Sozialarbeit - Perspektiven einer zukünftigen sozialen Arbeit aus der Sicht der ökologischen Bewegung, in: Neue Praxis, Heft 2, 1979, S. 147-161
  • Hoffmann, Albert; Leibfried, Stephan: Historische Regelmäßigkeiten bei Regelsätzen - 100 Jahre Tradition des Deutschen Verein? in: Neue Praxis, Heft 3, 1980, S. 253-284
  • Matzner, Egon: Der Wohlfahrtsstaat von morgen, Frankfurt/M./New York 1982
  • Opielka, Michael: Mit Mindesteinkommen kann manches gemeint sein, in: Kommune, Heft 9, 1984, S. 33-57, vergl. auch: ders. in: WIDERSPRÜCHE, Heft 14, S. 55-59
  • Schmid Thomas: Einleitung: Industrie ohne Glück - Argumente für eine blockübergreifende Abrüstung der Arbeit, in: ders. (Hrsg.), a.a.O., S. 7-17
  • Schreyer, Michaele: Zum Behagen und Unbehagen beim Thema Mindesteinkommen, Masder (Bonn 1984)
  • Vobruba, Georg: Entrechtlichungstendenzen im Wohlfahrtsstaat, in: Voigt, R. (Hrsg.), Abschied vom Recht? Frankfurt/M. 1983
  • Vobruba, Georg: Die Entkopplung von Arbeit und Einkommen, WIDERSPRÜCHE, Heft 12, 1984, S. 79-88
  • WIDERSPRÜCHE-Redaktion: Verteidigen, kritisieren und überwinden zugleich! in WIDERSPRÜCHE, Heft 11, 1984, S. 121-135

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