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Heft 24: Kultur und Technik

1987 | Inhalt | Editorial | Leseprobe

Titelseite Heft 24
  • Oktober 1987
  • 112 Seiten
  • EUR 7,00 / SFr 13,10
  • ISBN 3-88534-042-9

Horst-Dieter Zahn

Kultur und Technik in konservativen Strategien
Kulturelle Folgen der Modernisierung

Vom Kulturpessimismus zur Technokratie

Die Stellung, die vom mainstream der deutschen Konservativen heute zur technischen Modernisierung eingenommen wird, kann nicht verständlich sein ohne Kenntnis eines grundlegenden und traumatischen Wandels (1). Die Ideengeschichte des deutschen Konservatismus nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist geprägt von den Anstrengungen, den Erfordernissen des katastrophal herbeigeführten politischen Wandels gerecht zu werden und unter diesen veränderten Vorzeichen dennoch die Kontinuität von Fragestellungen, Themen und Zielen zu wahren. Der Konservatismus hatte die Zerstörung der Weimarer Republik mitgedacht, -geplant, -betrieben, war also nach dem 2. Weltkrieg diskreditiert. Außerdem waren bereits im Dritten Reich die Hoffnungen, die er in eine revolutionäre Erhebung der "Volksgemeinschaft" gesetzt hatte, tief enttäuscht worden. Nur wenn man das Ende des Dritten Reiches als Trauma des darin verwickelten Konservatismus begreift, lassen sich bestimmte Argumentations-Figuren und ihre Widersprüche angemessen verstehen (2).

Hans Freyer, Konservativer der "Revolution von rechts" und einer der führenden Soziologen in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, hat die Wende im Verhältnis des Konservativismus zur technischen Moderne so beschrieben:

"...jede Stellungnahme, auch die scharf kritische, habe die Grundstruktur der hochtechnisierten und hochrationalisierten Gesellschaft als unüberspringbare Wirklichkeit anzuerkennen...". Damit entfielen aber auch

"...einige der Haltungen, die die frühere Kulturkritik grade in ihren großen Formen eingenommen hat: das Ethos des Warnens, die Mahnung zur Umkehr, schon die Mahnung zum Einhalten. An ihre Stelle tritt der Entschluß, die Eigengesetzlichkeit der industriell-bürokratischen Lebensordnung unvoreingenommen zu studieren und sie als die Ausgangslage anzuerkennen, von der aus nur nach vorn gedacht werden kann." (3)

Martin Greiffenhagen hat jener neuen Konzeption, die in den 50er und zu Anfang der 60er Jahre herausgebildet wurde, den Namen "technokratischer Konservatismus" (4) gegeben. Dafür stehen prominente Namen wie Hans Freyer (5), Ernst Forsthoff (6), Arnold Gehlen (7) und Helmut Schelsky (8).

Dies waren die Standpunkte des erneuerten Konservatismus, der wieder einmal auf der Seite des Bestehenden, zum erstenmal aber auch an der Spitze der Fortschrittsdynamik zu stehen meinte:

- Man bejahte ein technisch reduziertes Erbe der Aufklärung und hoffte auf eine ökonomisch-institutionelle Struktur (Technokratie), die die egalitären und emphatischen Verheißungen der Aufklärung für immer obsolet machen sollte.

- Man suggerierte (sich) ein Ende der Geschichte. Klassenkampf, Bürgerkrieg, subversive kulturelle Moderne und historische Alternativen zur kapitalistischen Produktionsweise und bürgerlichen Gesellschaft sollten in der sachzwanglogischen und wohlfahrtsspendenden Dynamik des wirtschaftlichen und technischen Fortschritts untergehen.

- Man war vom Siegeszug der industriellen Moderne überzeugt. Technik und Wissenschaft sollten nicht nur eine weitgehend konfliktfreie Selbstintegration der Gesellschaft bewirken; sie schienen auch imstande, nahezu jedes gravierende oder eventuell neu entstehende gesellschaftliche Problem zu lösen.

Die legitimatorischen Eigenschaften dieser Ideologie in der Periode des "Wirtschaftswunders" liegen auf der Hand. Der Mythos der Industrie, den sie verkündete, verband massenwirksam Wünsche und Augenschein, er versprach Verdrängung der Vergangenheit bzw. rechtfertigte sie.

Der deutsche Konservatismus hat sich mühsam, aber entschieden zu einer affirmativen Haltung gegenüber der technischen Moderne durchgerungen. Er ist damit nicht mehr imstande, Ausdruck oder gar Motor von Protest gegen die Auswirkungen der technischen Modernisierung zu sein. Dieser Standortwechsel enthält aus historischen und politisch-psychologischen Gründen auch Momente von Selbst-Suggestion; vor allem die Hoffnung, daß Klassenkampf und kritische Kultur - d.h. Arbeiterbewegung und linke Intellektuelle - als ernstzunehmende Gefahr für den Bestand der bürgerlichen Gesellschaft für immer ausgeschaltet seien. Aus eben diesen Gründen, wegen des nachwirkenden traumatischen Anlasses für diesen Standortwechsel und der trügerischen Selbstgewißheit dieser "technokratischen Wende" ist sie von einem symbolischen und jedenfalls für Außenstehende schwer verständlichen, ungleich hohen Wert. Für die Sicherung des Kulturzusammenhangs - gemeint als Ensemble der kulturellen Übereinstimmungen, das diese Gesellschaftsordnung zusammenhält - an den Schnittpunkten von industrieller Moderne und Kultur hat der deutsche Konservativismus einen aus seiner Geschichte verständlichen, quasi überempfindlichen Nerv.

"Vor diesem Hintergrund wird klar, daß die in den sechziger Jahren verwandelte Szene - mit der Erneuerung einer militanten Gesellschaftskritik und einer auf ganzer Breite mobilgemachten Aufklärungstradition, mit einer antiautoritären Bewegung, mit einem neuen Aufbruch der Avantgarde in der Bildenden Kunst und einer ästhetisch inspirierten Gegenkultur - alles zum Leben erweckte, was die konservativen Theoretiker totgeglaubt hatten." (9)

Die tiefgehende Irritation, die die Protestbewegung bei den Konservativen auslöste, kann hier nicht nachgezeichnet werden; ebenso wenig wie die längere Phase der Verarbeitung dieser Entwicklung - obwohl damit Meinungen deutlicher würden, die sie in den öffentlichen Debatten um die neuen Technologien etwa ab der zweiten Hälfte der 70er Jahre vertraten. Die Konservativen brauchten einige Zeit, um ihre theoretisch-konzeptionell festgefahrene Position zu überwinden. Es galt für sie, offensichtlich verlorengegangene kulturelle Hegemonie und den einschneidenden Verlust der Regierungsmehrheit zu verarbeiten. In diesem Prozeß wurden Traditionen wiederbelebt, gleichzeitig aber auch auf veränderte Problemkonstellationen und einen gewandelten sozialen und kulturellen Hintergrund bezogen.

Den technokratischen Konservativen mußte die mangelnde "Akzeptanz" der neuen Technologien im Gefolge von Frauen-, Ökologie- und Friedensbewegung sowie der Alternativkultur als besondere Herausforderung erscheinen. Die Anpassung an das "Schicksal" (10), zu dem ihnen die Technik geworden ist, kann nicht ein bißchen vollzogen werden, sie muß vollständig sein. Die massenhafte Wiederkehr von Kulturkritik, von Zweifeln an den "Segnungen" des Fortschritts - und ausgerechnet in Begriffen und Bildern, die gerade nicht eindeutig links waren, sondern aus dem Arsenal des konservativen Kulturpessimismus stammten - mußte die Konservativen mit großer Besorgnis erfüllen. Das Phänomen war insofern verunsichernd, als sie sich auch mit ihrer eigenen Geschichte konfrontiert sahen.

Das, was sie für eine gefährliche Infragestellung der modernen Technik hielten, stand freilich auch in engem Zusammenhang mit den neuen gesellschaftlichen Bewegungen und mit den politischen Herausforderungen, die von diesen ausgingen. Mußte die mangelnde "Akzeptanz" hier nicht besonders gefährlich sein in Kombination mit der Gefahr der "Unregierbarkeit" und dem "Wertwandel"?

Konservatismus als "politischer Arm der Kulturindustrie"?

Zu einzelnen konservativen Gefahrenmeldungen und ihrem dramatischen Gestus bilden die Stellungnahmen etwa von Lothar Späth (11) oder die Diagnosen der württembergischen Kommission "Zukunftsperspektiven gesellschaftlicher Entwicklungen" (12) einen bemerkenswerten Kontrast - indem sie nämlich, was in konservativer Tradition vor allem unter dem Aspekt der Systemgefährdung gesehen wird, differenzierter, nüchterner und auch unter dem Aspekt der Systemerhaltung betrachten (13). Ihre Einschätzung des Wertwandels und der damit verbundenen kulturellen Fragen ist außerordentlich interessant und Kernstück einer der reflektiertesten konservativen Positionen.

Wolfgang Zapf hat sie auf einem Kongreß der Landesregierung von Baden-Württemberg so zusammengefaßt (14):

"Wir beobachten in unserem alltäglichen Leben, in Arbeit, Familie und Freizeit, eine Fülle scheinbar widersprüchlicher Tendenzen: eine selbstverständliche Inanspruchnahme technischer Geräte und komplizierter Infrastrukturen, aber zugleich eine steigende Skepsis gegenüber der Großtechnologie. Wir beobachten die Ausbreitung der Massenkultur, aber zugleich ein intensives Interesse an der Vergangenheit, an historischen Ausstellungen, an Stadtsanierung. Wir beobachten einen Rückgang der beruflichen Mobilität, aber zugleich steigendes Engagement in Familien, Vereinen, Kirchen und Nachbarschaften. Wie kann man sich einen Reim auf all diese widersprüchlichen Tendenzen machen? Wir in der Kommission gingen davon aus, daß die meisten Bürger sehr wohl Fähigkeiten zur Problemlösung besitzen. Wenn man davon ausgeht, ergibt sich eine sehr handgreifliche Erklärung aller dieser Widersprüche. Wir nennen es den Pragmatismus der Alltagskultur. Auf den beschleunigten sozialen Wandel, auf die steigende Anonymität von Großstadtorganisationen, auf die steigenden Belastungen der Zivilisation reagieren die Menschen ganz lebensklug und vernünftig mit Kompensationen. Sie versichern sich zum Beispiel wieder ihrer historischen Herkunft. Sie suchen ein neues Gleichgewicht zwischen Beruf, Familie und Freizeit. Sie suchen, da sie ständig mehr Entscheidungen zu treffen haben, ein größeres Maß an Selbstbestimmung.

Wir sehen also im Wertewandel nicht schwarzmalerisch den Verfall der Arbeitsmoral oder den hedonistischen Individualismus, sondern durchaus lebenskluge Reaktionen auf Veränderungen in Arbeitswelt, in Familie, in Freizeit..."

Ausgangspunkt der Überlegungen der Kommission ist ein Begriff der "Krise der Industriekultur", der Entscheidendes wegläßt. Denn mit ihm werden weder strukturelle Massenarbeitslosigkeit noch potenzierte ökologische Zerstörung, weder wachsende Rüstungsproduktion noch Auspowerung der Dritten Welt bezeichnet. Man muß all dies ja nicht unbedingt in fragwürdige Zusammenbruchs-Hoffnungen oder -Spekulationen einfügen und kann dennoch mit guten Gründen nach Bedingungen für eine grundlegende Alternative fragen. Indem die Krise aber reduziert wird auf den abnehmenden Grenznutzen bestimmter Lebensvollzüge, ist jeder kritische Bezug auf das Ganze der Gesellschaft, auf ihre historischen und fundamentalen Grundlagen, aus dem Blickfeld. Auch wenn man die Frage nach radikalen Alternativen beiseite läßt und nur nach strukturellen "Verbesserungen" fragt, ist man vor diesem Hintergrund immer schon auf ganz bestimmte Verkürzungen festgelegt:

Es geht wesentlich um Folgen ökonomischer Prozesse und politischer Herrschaft. Sodann um individuelle oder gruppenspezifische Verarbeitungs- und Reaktionsweisen dieser Folgen. Schließlich um deren Reduktion auf Kultur.

In dem Kommissionsbericht haben die individuellen, gruppenspezifischen, alltagskulturellen und auch die politischen Reaktionen auf das, was man den "abnehmenden Grenznutzen des zivilisatorischen Fortschritts" nennt, den Vorrang des Interesses okkupiert. Es geht nicht um eine Kritik dieses Fortschritts, sondern um die Frage, welche Motive in der Kritik enthalten sind und ob von ihnen möglicherweise Gefährdungen des Bestehenden ausgehen. Insoweit steht man in jener Tradition des konservativen Denkens, in der, seit es Industrie gibt, für das zentrale Problem gilt, daß "der Mensch" hinter der Entwicklung zurückzubleiben drohe (15). Wenn also Verschiebungen in den Wertorientierungen vergleichsweise nüchtern untersucht werden; wenn die gespreizte Abwehr und die schrille Klage ausbleiben, die man sonst so oft von Konservativen hören kann, wenn traditionelle Bindungen lockern oder gar in Zweifel gezogen werden - dann sollte man sich nicht täuschen. Nur den "Einstellungsänderungen" wird Vernunft attestiert, die sich in eine den Imperativen der technologischen Modernisierung folgenden Rationalisierung der Kultur einfügen lassen (16). Dies ließe sich im einzelnen an den Analysen von Wertwandel, Alternativkultur usw. in dem Kommissionsbericht aufzeigen. Vollends deutlich wird es aber, wenn man den Kontext betrachtet, in dem dort jeweils die beiden Pole der angestrebten "Wertsynthese" verwendet werden: Die Akzeptanzwerte beziehen sich auf die vornehm umschriebenen Grundstrukturen und institutionellen Grundlagen der Gesamtgesellschaft, die Selbstverwirklichungswerte entfalten sich in der Alltagskultur. Akzeptanz ist dann im Zweifelsfall doch ganz einfach Anpassung und Unterordnung; sie wird zum Wert befördert und gewissermaßen kulturell veredelt zur "Kultur der Akzeptanz" all dessen, "was nicht zu unserer Disposition steht" (S. 35). Und dazu zählen nicht nur die "Kontingenzerfahrungen", sondern eben auch (eine sehr weit gefaßte) "Sachabhängigkeit" von der arbeitsteilig organisierten naturwissenschaftlich-technischen Kompetenz und die "gesellschaftliche Modernisierung" insgesamt mit der ihr inhärenten Interessen- und Machtstruktur und Entwicklungsrichtung.

Die individuellen, gruppen- und schichtenspezifischen Verarbeitungen von Krisenerfahrungen werden daraufhin betrachtet, ob sie Verhaltensweisen und normative Orientierungen hervorbringen, die Anpassungs- und Rationalisierungsleistungen darstellen. Und man wird fündig. In der wachsenden Vielfalt von Alltagskultur und in den "Ausläufern" bzw. breiten Impulsen der neuen sozialen Bewegungen finden sich neue Einstellungen, Bedürfnisse, Lebensstile, die in diesem funktionalistischen Sinn interpretiert werden.

Privatisierung: das wieder gestiegene Bedürfnis, angesichts einer als übermächtig empfundenen Fülle von Risiken, Gefährdungen und Problemen Trennmauern zwischen Privatsphäre und Gesellschaft zu errichten.

Religiosität: Suche nach neuen religiösen Erfahrungen. Versuche der Übertragung religiöser Erfahrungen auf Politik.

Pragmatismus: Nüchterner alltagspraktischer Umgang auch mit den Auswirkungen jener Entwicklungen und Verhältnisse, die konfliktorisch und weltanschaulich fundamental "aufgeladen" sind.

Konservativismus: Im breiten Alltagsbewußtsein scheinen mittlerweile Einstellungen zu dominieren, die bislang nur in politisch-expliziter Gestalt von konservativ-liberalen Kräften vertreten worden waren. Die Beweislast hat sich umgekehrt: Nicht mehr das Bestehende hat sich zu rechtfertigen - es hat vielmehr eine Art Voraus-Bonus -, sondern jede Reform, von Umfangreicherem zu schweigen, hat vorab sorgfältig Auswirkungen und Nebenwirkungen auszuweisen; beim geringsten Verdacht, es könnte vielleicht doch schädigende Wirkungen geben, soll besser alles so bleiben wie es ist.

Individualisierung: Die Ambivalenz der "Selbstverwirklichungswerte" (s.o.) muß nicht die Konsequenz haben, daß die einzelnen womöglich mehr denn je, wo sie sich in einem Dilemma befinden, die "Schuld" bei Strukturen, der Politik, ganz bestimmter Politik oder wem sonst suchen, d.h. weitergehende Ansprüche an Gesellschaft und Politik richten. Denkbar - ja, aus konservativer Sicht: wünschenswert - wäre auch, daß die Individuen in Konfliktlagen sich selber die Schuld geben bzw. sie als eigenes Problem und sonst gar nichts begreifen. Jedenfalls erhofft man sich eine Verlagerung gesellschaftlicher Probleme in die Individuen.

Es ist hier nicht wichtig, in welcher Weise diese Einstellungen empirisch kombiniert auftreten und wie sie sozial und kulturell vermittelt und differenziert sind. Man muß nur konzedieren, daß hier wertvolle Beobachtungen vorliegen. Man vergleiche etwa zum "Wertewandel" das pauschale Klagen geistig unbeweglicher Konservativer wie auf der anderen Seite die Lobpreisungen der "postmaterialistischen" Mittelschichten (17).

Der funktionalistisch vorgehende Konservatismus (18) hat in einem technischen Sinn durchaus Feingriffe der Analyse parat, die zu differenzierender Erkenntnis befähigen und genau das auf einer praktisch-politischen Ebene realisieren helfen können, was er "Segmentierung und Spezialisierung" von "postmaterialistischen" Orientierungen nennt.

Die Beobachtung zunehmender, vielfältiger werdender kultureller Aktivitäten und anschwellenden öffentlichen Räsonnements über Kultur scheint unstrittig. Ebenso scheint unstrittig zu sein, daß Kultur gerade deswegen an Bedeutung gewinnt, weil immer mehr Lebensbereiche von der Dynamik des Wachstums und der Umwälzung des Produktionsprozesses erfaßt werden. Linke und konservative Theoretiker sind sich - bei Unterschieden en detail - wohl einig, diesen Prozeß als einen der kulturellen Freisetzung und diese wiederum als widersprüchliche zu verstehen; sie ist gleichermaßen eine Enteignung, ein Verlust wie auch ein Freiwerden, ein Gewinn. Weitere Übereinstimmungen besagen, keine der Teilkulturen, keines der sozialen Milieus sei stark genug, den Lebenszusammenhang als ganzen zu strukturieren; Weltbilder pluralisieren sich und die Wahl von Lebensstilen, die Entwicklung von Orientierungen werde selber eine zu erlernende kulturelle Praxis (19).

Mit dieser Ausdehnung und Differenzierung, mit dem Bedeutungsgewinn von Kultur sind gleichzeitig aber die Schwierigkeiten gewachsen, über das Wahrnehmen und Beschreiben hinauszukommen und zu begreifen. Schon von daher ist die Neigung verständlich, im Zweifelsfall in den großen Topf "Kultur" zu stecken, was sich eindeutiger Beurteilung nicht rasch erschließt. Ganz zu schweigen davon, daß im common sense von Politik und Medien das Adjektiv "kulturell" schon an sich einen positiven Wert hat. Dieser Sachverhalt wirkt mit am Schleier der Verwirrung und Beschönigung, der über dem Wesensgehalt des neokonservativen Vorhabens liegt: Die Erneuerung einer affirmativen Kultur (20).

Die Kulturindustrie in den entwickelten kapitalistischen Ländern hatte aus den kulturrevolutionären Erscheinungen der Protestbewegung verwertbare Konsumgewohnheiten und Lebensstile gemacht, sie bedient, neu zusammengesetzt und reproduziert - ein Prozeß, der nichts mit Betrug und Manipulation, aber viel mit den Eigenschaften dieser hochmodernen Industrie und der Ambivalenz jener kulturrevolutionären "neuen Unmittelbarkeit" zu tun hat. Dennoch war ein politischer Radikalismus (21) aus dieser Bewegung am Leben geblieben; weder ihre sektiererische Entwicklung aus inneren Widersprüchen heraus noch die politische Repression oder auch die teilweise Integration in das reformerische Modernisierungsprojekt der SPD konnten ihn ganz verzehren. Wie schief das Bild vom "langen Marsch" auch sein mag - es bezeichnet immerhin die gesellschaftliche Ausbreitung linken Denkens, linker Politik und Kultur gerade auch in die bedeutsamen Bereiche der Öffentlichkeit, der Kultur und von Bildung und Wissenschaft. Neben den explizit politischen Ausdrucksformen dieser Verbreiterung entwickelten sich auch politisch-kulturelle "Zwischenformen", Verhaltensweisen, Lebensstile und Bewußtseinsformen, die nicht mehr ausdrücklich und eindeutig "politisch" sind. Mit dem von der Protestbewegung eingeleiteten und ihren Nachfolgern und Ausläufern entwickelten neuen, erweiterten Begriff von Politik, der auch Persönliches, Alltägliches und all jene im traditionellen Politikverständnis (der Rechten wie Linken) ausgesparten Bereiche und Probleme enthält, wird diese Entwicklung als Stärke und Offensive verstanden. Sie enthält allerdings auch ein retardierendes Moment und die Gefahr der Selbstblockade, die sich unter bestimmten gesellschaftlichen und politischen Bedingungen entfalten können. Dann wäre aus der Stärke freilich Ideologie und Selbsttäuschung geworden.

Eines der Momente des Neokonservatismus, das die Vorsilbe "Neo" rechtfertigt, ist nun, daß er zunächst in der Analyse, dann im öffentlichen Reden, dann in den verschiedenen Politiken eine Fähigkeit erlangt, die bis dahin nur der Kulturindustrie eigen war. Mit einem gewagten Bild könnte er in dieser Hinsicht sogar als deren "politischer Arm" bezeichnet werden: Es ist die Fähigkeit, in den Prozessen der kulturellen Freisetzung auch in den widersprüchlichen, ja selbst in den zunächst subversiv erscheinenden Momenten Tendenzen der Segmentation und einer sozusagen doppelten Freisetzung auszumachen und zu nutzen. Doppelte Freisetzung meint, daß gerade das "moderne" Bewußtsein, dessen verschiedene Aspekte als "postmaterialistisch", "narzißtisch" und wie auch immer bezeichnet werden, in sich fragil ist. Seine Orientierungen können dem gleichen Verschleiß unterliegen, dem es seine Entstehung verdankt. Unter diesen methodischen Vorzeichen untersuchen Neokonservative, wie bereits dargestellt, reale gesellschaftliche Veränderungen. Ihr "Erfolg" läge darin begründet, daß ihre Grundvoraussetzung gewissermaßen gar nicht mehr massenrelevant Anstoß erregt: Die Dynamik des Industriesystems und deren Imperative stehen für sie außer Frage. Selbstverwirklichungs-Bedürfnisse werden von ihnen nicht mehr als Gefährdung begriffen, wenn und weil sie als verstümmelte sich artikulieren. Das Individuum, dessen Entfaltung ihnen so angelegen ist, soll aus dem "stahlharten Gehäuse der Hörigkeit" nicht entweichen, als das Max Weber die kapitalistische Arbeit und ihre Kulturbedeutsamkeit bezeichnete (22). Indem Freiheits- und Entfaltungsdrang in der Arbeit allenfalls sozialtechnisch verkürzt auf human relations, in anspruchsvollerer Mitgestaltung auf wenige Privilegierte beschränkt bleiben soll, indem also Arbeit als zentrale Kategorie und Perspektive menschlicher Freiheit und Universalität außerhalb jeder Kritik steht, erweist sich, was als Kultur in der Freizeit besteht, als halbiert. Und nicht nur das: Im Prokrustes-Bett der "Lebenswelt" soll nicht länger gestreckt oder abgeschnitten werden, was nicht paßt, Kultur soll heute in einzigartiger Geschmeidigkeit und Vielfalt bei diesem Einpassen der Individuen den Zwang verhüllen, es ihnen verinnerlichen und automatisieren. Das könnte "Industrialisierung des Bewußtseins" heißen.

Die Kunst des Möglichen

Es ist fahrlässig, den Neokonservatismus hierzulande unter einer Formel à la "Verkabelung und Abendland" abzuhandeln, d.h. ihm einen blinden Technik-Optimismus und holzschnittartig-vorgestrige Gesellschaftspolitik zu unterstellen.

Im Bewußtsein dieser Einschränkung sollen hier nun aber doch kurz die "technischen Utopien" der Neokonservativen (23), ihre Hoffnungen dargestellt werden, die sie aus den Eigenschaften der neuen Technologien und deren Dynamik herleiten. Und zwar unter dem Gesichtspunkt ihrer Kulturbedeutsamkeit und politisch-psychologischen Dimension.

Oskar Negt hat das innovatorische Potential des Konservatismus als "Kunst des Möglichen" beschrieben:

"Als ausgesprochene Künstler des Möglichen schaffen sie nichts Neues, aber sie sind klug genug, Altes fortwährend in Neues umzumünzen und auch die geringste Chance wahrzunehmen, das Verfügungsmonopol über die technischen Entwicklungspotentiale nicht zu verlieren, sondern daraus für sich selbst politisches Kapital zu schlagen, mit dem Pfund zu wuchern, das ihnen mit den neuen Technologien zufällt." (24)

Unter diesem Gesichtspunkt sind die neuen Techniken in doppelter Weise Grundlage konservativer Politik:

Als stofflicher Reichtum und symbolisch sind sie selber öffentlich und bekunden Macht und Dauer des Bestehenden; sie wirken wesentlich dabei mit, Vorstellungen dessen, was nur eben möglich sei, zu prägen.

Sie sind Fluchtpunkt und Refugium. Die Orientierung an der Kapitalverwertung - und die ist der Motor einer keineswegs eigendynamischen Technikentwicklung - ist unverzichtbares und verläßliches Kriterium für neokonservatives Denken und Handeln und gibt ihm ein Selbstbewußtsein und eine Stärke, die eventuelle Gegner erst mühsam herstellen müssen. (Ebenso wie diesen Gegnern erst durch ein Gegenprodukt, d.h. eine überzeugende Alternative, die wirkliche Widerlegung der Beschränktheit gelingen kann, die in dieser "Kunst des Möglichen" liegt.)

Mit der Bedeutung der technologischen Modernisierung in neokonservativer Strategie und mit ihrer Kulturbedeutsamkeit eng verknüpft ist ein Umstand, der bezeichnenderweise in einem Großteil technikkritischer Literatur kaum angemessen reflektiert wird: Neue Technologien sind nämlich auch als "gigantische, realitätsmächtige Sicherheitssysteme" zu verstehen, "die mit einem je eigenen Versprechen der Angstreduktion und Leidvermeidung ausgestattet sind" (25). Ein Moment der Erklärung dafür liegt in der Geschichte der Naturbeherrschung, die als Verringerung der Bedrohungen durch äußere Natur dazu beiträgt, daß die in der Kulturentwicklung abverlangten Verdrängungsleistungen zunehmen. Neurotische Ängste und Unsicherheitsgefühle verallgemeinern sich; es bildet sich eine Spirale von Sicherheitsbedürfnissen und -angeboten. Neue Technologien sind in diesem Sinn für die Neokonservativen selber Sicherheitsversprechen und sie werden als solche öffentlich dargestellt. Es handelt sich dabei in den seltensten Fällen um Taktik oder Verstellung, sondern in der Tat um Überzeugung. Technische Utopien bestreiten in neokonservativen Entwürfen einer Gesellschaft der Zukunft den Part der Veranschaulichung; und wenn es auch aufschlußreich ist, sich mit ihnen zu befassen, so haben sie doch mit den bisher bekannten technischen Utopien eher die Dürftigkeit und Fragwürdigkeit rein technischer Mittelsteigerung gemein (26).

Die verschiedenen Theorien der "Informationsgesellschaft" können hier nicht so umfangreich dargestellt und diskutiert werden, wie es die Vielfalt der Ansätze, einzelne Nuancen in der Theoriebildung und die Spannweite der Probleme erforderten. Es kann nur um die eben dargelegten Aspekte gehen.

Die "Informationsgesellschaft" wird verstanden und propagiert als eine, in der mit Hilfe neuer Technologien und der durch sie bewirkten Veränderungen des gesamtgesellschaftlichen Arbeitsprozesses der Widerspruch von Ökonomie und Ökologie überwunden werden kann, in der die Entfremdungsphänomene der Industriegesellschaft ebenso hinfällig sein sollen wie der Klassenkampf. Dann verheißt sie auch Dezentralität, d.h. die Wiederbelebung durchschaubarer, kleiner Einheiten, die Renaissance alter Werte, eine weitere Spannung kultureller Vielfalt und Kreativität sowie einen Gewinn an gesamtgesellschaftlicher Planungskapazität und -Rationalität.

Ein durchgängiges Argumentationsmuster reduziert Gesellschaftliches auf Technisches und zwar zweimal: zuerst, indem die verschiedensten "Mißstände" der "Industriegesellschaft" (nun verstanden als Vorläufer der "Informationsgesellschaft") überwiegend als technische "Sachzwänge" erklärt werden, dann, indem aufgrund der neu entwickelten Technologien die Befreiung von diesen Sachzwängen angekündigt wird (27).

Ein Großteil der Verheißungen der "Informationsgesellschaft", insbesondere jene, die die "Industriekultur" auf ein höheres Niveau bringen sollen, wird mit begrifflichen Neukonstruktionen begründet, die wiederum auf materiell-technischen Veränderungen fußen.

Da ist zuerst und in unserem Kontext nur äußerst knapp eine "ökologische Naturbeherrschung" zu nennen, die sich auf naturwissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt (ökologischer Verflechtungen) und auf eine "zweite Phase der Naturstoffchemie" (Biotechnologie) (28) stützt. Mit deren Hilfe - flankiert natürlich von Politik - hofft man, das aufzulösen, was man mit dem Begriff "kultureller Umweltkonflikt" bereits seiner politischen "Verkleidung" entledigt hat. Übrig bleibt eine ökologische Einstellung, der auch Lothar Späth seine Sympathie nicht versagen mag:

"Offenbar hat die stark leistungs- und erfolgsbezogene Industriekultur mit ihrem Hang zu schematisierten Gliederungen und Abläufen von einem gewissen Stadium der Perfektion an individuelle 'Gegenwehr' hervorgerufen - Akte der Selbstbehauptung einer postmodernen Irrationalität. Dabei ist der Begriff der Irrationalität frei von jeder abwertenden Klassifizierung; er besagt, im Gegenteil, daß nach Jahrzehnten einer Verstandeskultur im Gefolge aufklärerischer und merkantilistischer Zivilisationstendenzen nunmehr die vernachlässigte emotionale Seite wieder verstärkt in das kulturelle Geschehen eingebracht wurde." (29)

Gerade auf die Eigenschaften der neuen Technologien stützen sich solche Überlegungen. Die Veränderungen entzögen sich den Blicken ("da sie in der Erde und im Weltraum stattfinden");

"Das vertraute Bild des zivilisatorischen Lebensumfeldes bleibt also im wesentlichen unangetastet, ja es hat die Chance, sich durch sinnvolle Nutzung alter Industriebrache wieder ein Stück zu regenerieren." (30)

Den "Traditionsbewußten" würde das Arrangement mit den neuen Technologien also leicht; die Mobilität sei durch die Entwicklung der Informationstechnik auch nicht mehr so wichtig, mithin könne Seßhaftigkeit sich neu bilden. Dazu dann noch die "ökologische Vorsorge" mit Hilfe "kybernetischer, biotechnischer und festkörperphysikalischer Entwicklungen" - mit all dem ist der "Informationsgesellschaft" möglich, was ihre Vorläuferin nicht schaffen konnte, die "Versöhnung von Ökonomie und Ökologie" (31). All dies verdankt sich der "Grundeigenschaft dieser Technologien,

die sie zur Synthese von Ökonomie und Ökologie befähigt, ... ihr Leistungsprinzip: Sie sind um so erfolgreicher, je größer der Quotient zwischen immaterieller informationsverarbeitender Kapazität und dafür erforderlichem Materialeinsatz ist. Sie tendieren also, bis zur absoluten physikalischen Grenze, in Richtung 'Entmaterialisierung' ". (32)

Der Purzelbaum, den die technische Utopie hier in Richtung "Entmaterialisierung" schlägt, leitet über zum Begriff der Information. Es gibt die These, Information würde Steuerungsinstrument und als solches erst neben Geld und Recht treten, dann diese womöglich verdrängen. Davon soll hier nicht die Rede sein, ebensowenig von den sozialstatistischen und -empirischen Versuchen, Informationsbe- und -verarbeitung zur Schlüsselkategorie der Dienstleistungsbranche und die Gesellschaft zur "Dienstleistungsgesellschaft" (33) zu machen - obwohl auch hier technische Utopien und Projektionen eingehen. Das Irrationale konservativer technischer Utopien ist hier doch eher in dem Sicherheitsversprechen zu sehen, das für sie von neuen Informations- und Kommunikationstechnologien ausgeht, mit denen man endlich des Problems der Komplexität Herr werden kann:

"Das zahlenmäßige Anwachsen von Menschen und Gütern und die zunehmende Arbeitsteilung steigern den Informationsbedarf überproportional. Das bewältigen wir aber nur mit Informationstechnik, weil die wachsende Zahl der Beziehungen, also die steigende Komplexität, anders gar nicht durchschaut und beherrscht werden kann." (34)

Dabei haben aufgeklärte Geister längst erkannt, daß die Bewältigung von Informationsflut kein Problem von Massenspeichern, Verarbeitungs- und Übermittlungsgeschwindigkeit ist. Es entsteht bei größer werdenden Datenmengen der "Goldwäschereffekt": Man muß immer mehr Sand waschen (sprich: Daten erheben, sortieren usw.), um doch immer weniger Gold (sprich: Erkenntnisse) zu erhalten. Dennoch läßt sich am häufigen Gebrauch der "Informations"-Metapher bei Festreden und Debatten aller Art erkennen, wie sehr in ihr das Leid vielleicht gerade konservativer Politiker zum Ausdruck kommt. Liebhabern eines politischen Dezisionismus und rigider Maßnahmen muß angesichts der hohen Komplexität dieser Gesellschaft und ihrer Widersprüche der Sinn doch immer wieder nach Vereinfachung stehen. Am Rande sei noch bemerkt, daß neben den fragwürdigen Versuchen einer erkenntnistheoretisch und gesellschaftswissenschaftlich überhöhten Definition von Information, die sich immerhin um Präzision bemühen, im politischen "Geschäft" gerade mit den Unscharfen und der Mehrdeutigkeit des Wortes spekuliert wird. Da wird dann gern in Kauf genommen, daß Information oft eigentlich als das verstanden wird, was man - wenn schon, denn schon - als "Informationsgewinn" bezeichnen müßte. Oder es klingt das schöne Wort vom "informierten Bürger" an. All dies kommt zusammen zu einer vielstimmigen affirmativen Rede, die neben anderem gerade von der entscheidenden Verwechslung kündet und lebt: Rationalität wird mit Verfahrensweisen und Eigenschaften der mikroprozessorgestützten elektronischen Datenverarbeitung vermengt (35).

Die hier genannten Bestandteile von technischen Utopien, Projektionen und Gesellschaftsentwürfen sind zwar auch von den Grundbedingungen einer "politischen Psychologie der Technik" geprägt, sie sind aber keine massenwirksamen Mythen. Dies liegt nicht so sehr daran, daß ihre stofflich-materiellen Eigenschaften zur öffentlichkeitswirksamen Identifikation nicht taugten oder deshalb weniger in der Lage seien, sich mit dem Rohmaterial der unterdrückten Triebwünsche, Träume und Phantasien der Menschen zu verbinden. Die gegenwärtige Verallgemeinerung von Krisen in den kapitalistischen Ländern, Massenarbeitslosigkeit, Umweltzerstörung, Kriegsgefahr, gesellschaftliche Zerrissenheit haben den Mythos des technischen Fortschritts gedämpft. In den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften (in der Bundesrepublik in durchaus spezifischer Weise) ist er in sich gebrochen, ambivalent und fragmentiert. Die verschiedenen Bruchstücke von Fortschrittsmythos und Zukunftsangst, von Alltagserfahrung und Hörensagen, öffentlicher Rede und Ideologie haben sich, so scheint es, auch pluralisiert und individualisiert; sie werden kulturindustriell (und das schließt Alltags- und Massenkultur ein!) in ihren widersprüchlichen Momenten reproduziert, bestätigt, bearbeitet, verändert. Bisher scheint diese Auseinandersetzung um Zukunft, Technik, Lebenssinn, Umwelt usw. objektiv - ohne daß dies geplant wäre - über den Horizont der "Sachzwänge" der technologischen Modernisierung nicht hinauszuführen. Historische und fundamentale Alternativen sind auch in den angstvollen und den an die technischen Visionen negativ fixierten Kritiken ausgeschlossen.

Kultivierte Technik und konservative Industriekultur

"Technik als Kraftlieferant..., Sinnverstärker..., Kommunikationserweiterer..., geistiger Routinearbeiter..., Superlandwirt..., Tausendsassa" - die "Perspektiven einer kultivierten Technik" haben eine merkwürdig anmutende Sterilität, wenn man sie zu konkretisieren versucht. Dabei kommt dann heraus, man könne demnächst zur "Bananenernte nach Finnland" fahren oder brauche sich mit dem Nachbarn nicht wegen des Rasenmäher-Lärms zu streiten, denn man könne biotechnologisch für immer gestutzten Rasen kaufen (36). In diesem Sinn meint "kultiviert" nicht mehr als den Warenglanz, der uns gegenwärtig schon leuchtet. Die technischen Utopien, die in der Vergangenheit noch einen der Realität von Mühsal und Unterdrückung spottenden Zug hatten, sind heute jammervoll langweilig. Das liegt auch daran, daß die neuen Technologien nur eine geringe Repräsentationskraft haben. Die künstlerische Spannung, die von der emblematischen Kraft der Maschine ausging - Ruhe und Geschwindigkeit, Stillstand und Kraft in einem - kann ein Computer nicht auslösen. Jameson hat über das Fernsehen verächtlich bemerkt, daß es "eher implodiert, als daß es wirklich etwas ausdrückt" (37). Technisch-utopisch in neokonservativen Entwürfen ist eher das Verschwinden. Man hofft auf Ent-Materialisierung, auf Unsichtbarwerden, sei es von Lärm, sei es von Klassenkampf. Insofern das gewohnte Bild zum Produktions-Begriff das Hervorbringen, das sinnlich eindrucksvolle Heraus-Prozessieren ist, mag es richtig sein, diese "neuen Maschinen" als "Maschinen der Reproduktion" (38) zu bezeichnen. Dort, wo sie in der Kunst dargestellt werden, kann man oft von "High-Tech-Paranoia" sprechen. Krebsgeschwüre oder Labyrinthe weltweiter, tödlicher Verschwörungsapparate, dargestellt als verwirrende mehrdimensionale Netzwerke, sind Grundmuster der Bilder und Formen dieser "untauglichen Versuche ... durch die Darstellung avancierter Technologie die unfaßbare Totalität des Weltsystemes zu denken" (39).

"Unterhalb" der künstlerischen Subkulturen und "Gemeinden" oder - wenn man die kulturelle "Pluralität" nicht-hierarchisch versteht - "neben" ihnen bleibt von "kultivierter Technik" tatsächlich nur noch die "zynische Parodie des Gedankens der Selbstverwirklichung" (40). Wo die Kommission "Zukunftsperspektiven..." noch abgewogen und wohlgesetzt von "Bürgersinn" und "Dispositionsfreiheit" spricht und sich kein Beleg für die etwas bildungsbürgerlich-säuerlich anmutende Befürchtung finden läßt, in Wahrheit wollten die Neokonservativen das Land bloß mit Elektronik überschütten - da plaudert Lothar Späth ganz munter drauflos:

"In der Tat kennzeichnet ja nichts die neuen Informations- und Kommunikationstechniken so sehr wie ihre ungeheuer rasch voranschreitende Öffnung neuer, individuell nutzbarer Optionen. Bereits heute gestalten Hunderttausende mit Videorecordern und Computerspielen ihr eigenes Fernsehprogramm." (41)

Hier haben wir einen Tiefpunkt neokonservativen Argumentationsniveaus: die Wahrheit und der kulturelle Glanz ergeben sich aus den Verkaufszahlen.

Der konservative Entwurf einer Industriekultur geht von der Zerstörung von Öffentlichkeit aus.

Schon im affirmativen Begriff des "Pragmatismus der Alltagskultur" ist ein Konstituens von Öffentlichkeit ausgeschlossen - die prinzipielle Möglichkeit der diskursiven Verständigung über das gesellschaftliche Ganze. Die "Problemlösungsfähigkeit" der kulturell tätigen Bürger soll auf Kompensation, das "Problem" vorab auf den Horizont der Verarbeitung von gesellschaftlicher Modernisierung beschränkt bleiben.

Die "Pluralität der Lebensstile" und die "Vielfalt" der Alltagskulturen sollen einen Wesensgehalt der kulturellen Moderne eskamotieren: universalistische Moral. Diese läßt "nur solche Normen gelten..., die jeweils die wohlerwogene und ungezwungene Zustimmung aller Betroffenen finden könnten." (42) Das hieße wiederum: Öffentlichkeit.

Die Etikette "Nähe", "Dezentralisierung", gar "partizipatorische Demokratie" (43) kleben auf Mogelpackungen. Neue Bereiche von Dispositionsfreiheit und Transparenz werden dem "mündigen Bürger" je mehr offeriert, je weiter er von gesellschaftlich dominierenden Entscheidungs- und Machtstrukturen entfernt ist (44). Ausgeschlossen von dieser "direkten" Demokratie ist, was a priori als "zustimmungspflichtig" definiert wurde. Ein kritischer Begriff von Öffentlichkeit dagegen kennt keine "letzten", der rationalen Überprüfung entzogenen gesellschaftlichen Verhältnisse.

Ist Öffentlichkeit dergestalt konzeptionell ausgeschlossen, so ist dies in Stein gehauen, vorweggenommen, Form geworden in den Großstädten. Ich meine damit nicht den Zustand der Plätze und einen emphatischen Begriff von Öffentlichkeit. Angesichts der Vergesellschaftung und der multinationalen Verflechtungen sind Vorstellungen von Versammlungen tausender von Menschen, die sich mit diesen Strukturen irgendwie auseinandersetzen, ein rührender, aber hilfloser Versuch der Verdeutlichung. Ich meine eher die räumlichen Funktionstrennungen, das Zerschneiden verschiedener Lebensbereiche, die Öffentlichkeiten schon in einem bescheideneren Sinn, als Zusammenkommen verschiedener kultureller Sphären und Erfahrungen, selbst dort erschweren, wo Menschenmassen angesammelt sind. In der Aggregation von "Ebenen", verschiedenen Verkehrsadern und Baukomplexen, die selber wiederum stadtähnliche Aggregationen vorstellen sollen, bildet sich zudem etwas heraus, was in gewisser Weise das Unsichtbarwerden und die Allgegenwart von Herrschaft ausdrückt. Jameson hat dies den "postmodernen Hyperraum" genannt. Diesem sei es gelungen,

"die Fähigkeiten des individuellen menschlichen Körpers zu überschreiten, sich selbst zu lokalisieren, seine unmittelbare Umgebung durch die Wahrnehmung zu strukturieren und kognitiv seine Position in einer vermeßbaren äußeren Welt durch Wahrnehmung und Erkenntnis zu bestimmen. Und so meine ich, daß die beunruhigende Diskrepanz zwischen dem Körper und seiner hergestellten Umwelt ... selbst als Symbol und Analogon für ein noch größeres Dilemma stehen kann: die Unfähigkeit unseres Bewußtseins (zur Zeit jedenfalls), das große, globale, multinationale und dezentrierte Kommunikationsgeflecht zu begreifen, in dem wir als individuelle Subjekte gefangen sind." (45)

Konservative Industriekultur zeichnet sich auch aus durch Urbanität als Applikation und durch eine Erneuerung repräsentativer Kunst. Zu den genannten Tendenzen, die eh auch in eine solche Richtung weisen, kommen simple Erwägungen hinzu, die sozusagen ihren technologiepolitischen Ursprung haben.

"Während Sie und andere noch über das Thema Subventionen diskutieren, sage ich Ihnen voraus, daß es in den neunziger Jahren die kulturelle Infrastruktur sein wird, von der Standortentscheidungen abhängen." (46)

Durch die Galerien streifen die IBM-Manager, den Klängen der Sinfoniker lauschen die Nixdorf-Ingenieure, in der Oper trifft sich High-Tech-Personal, bei Mode- und Design-Shows, asiatischen Varietes, alternativem Straßentheater, beim Avantgarde-Ballett sind die Angestellten der Multis zu Gast. So sehen es die um Arbeitsplätze, vor allem in High-Tech, konkurrierenden Oberbürgermeister. Der Liberale Wolfram Engels, Herausgeber der Wirtschaftswoche, hat dafür den passenden Namen genannt: High Culture. Dieser Zweig der Kultur kann so Service für Betreiber und Nutznießer der technologischen Modernisierung bieten, während ihre anderen Abteilungen für die Bewältigung ihrer Folgen und Opfer zuständig sind.

Die Konservativen lassen sich feiern als die Wieder-Entdecker des Urbanen. Zu dieser Urbanität scheint zunächst ein durchaus provinzielles Element zu gehören: Neureiche und Parvenüs möchten allenthalben wieder ihre Bälle haben. Und selbst dem Argument für ein neues Hochhaus, es müsse gebaut werden, da die Großstadt XY sonst den Anschluß an den Weltmarkt verlieren könne, haftet etwas von der Unsicherheit an, die Emporkömmlinge nicht abzuschütteln vermögen. Dann gehört zu dieser Urbanität eine große Portion Sauberkeit. Die Plätze werden gepflastert, Unterführungen bewacht und vergittert, die Landstreicher, Prostituierten, Ausländer aus den Zentren verdrängt.

In öffentlichen Bauten, in den öffentlichen Kunstobjekten fehlt Kritik, Distanz. Sie sind nicht authentisch - wenn man denn daran festhielte, "daß authentische Gestaltung in die gegebenen Produktions- und Lebensverhältnisse verstrickt sein muß" (47). Die Versteinerungen und Verwüstungen will man designen lassen. Vom Erscheinungsbild her nur Applikation und Design sind auch die Gruppen der urbanen Schickeria, die sich selbst inszenieren und dabei sich selbst wie ihre Zuschauer beobachten. In der städtischen Industriekultur treten zusammenhanglose Zitate, verselbständigte Parodien und Kopien von Originalen, die es niemals gab, an die Stelle aktueller Geschichte, lebendiger und kritischer Erinnerung. Warenfülle ersetzt die Schönheit, als schön gilt bereits das weniger Häßliche. "Das künstliche Paradies ist deutlich ein städtisches Paradies" (Henri Lefebvre).

In der Folklorisierung und Musealisierung der Industriekultur profitiert der Neokonservatismus von und konzeptualisiert etwas, das er nicht geschaffen hat: Da ist zunächst der Funktionsverlust von öffentlichen Einrichtungen wie Brunnen, Backhäusern, Märkten, Viehtränken und von Sitten und Bräuchen, die an mittlerweile verfallene Traditionen, soziale und ökonomische Strukturen gebunden waren. Sodann ein "Bedarf an Geschichte",

"aber kein nur theoretischer und sich an der Einsicht in Geschehnisabläufe befriedigender Bedarf, denn stets geht es ja konkret-praktisch um das Zurückholen von Vergangenem und das Festhalten von Vergehendem ... und dies läßt sich als Bedarf nach kultureller Stabilität interpretieren und zur beschleunigten Vernichtung von Geschichte bzw. Geschichtlichem in Beziehung setzen, die für die Gegenwart genauso charakteristisch ist wie alles pflegerisch-konservierende Bemühen." (48)

Peter Assion referiert in seiner Betrachtung von Hermann Lübbes Deutung des "modernen Historismus" (Lübbe scheint auch der Autor des hier erwähnten II. Kapitels des Berichts der Kommission "Zukunftsperspektiven..." zu sein, war zum mindesten aber deren Mitglied) dessen Erklärungen, die "fortschreitende Zerstörung vertrauter Stadt-, Dorf- und Landschaftsbilder und überhaupt des Gewohnten und Gültigen: den Verlust der Anmutungsqualität des Vertrauens und den Hinfall der Verbindlichkeit von Werten, Normen und Traditionen." Assion fährt fort:

"Dieser Kulturschau könnte man zustimmen, blieben bei Lübbe nicht die sozialen Implikationen ausgespart in einer Weise, daß ein letztlich ursachenneutraler Prozeß von indifferenter Allgemeingültigkeit beschrieben wird.

Um es auf den Punkt zu bringen: Der Fortschritt produziert die sozialen Anpassungsschwierigkeiten nicht einfach als unvermeidliche Nebenfolge, sondern genau in dem Maße, in dem die bestehenden Verhältnisse die soziale Identität der Ursachen und Wirkungen des ständigen Wandels verhindern und einen Kulturprozeß gesamtgesellschaftlicher Übereinkunft, ohne verzögerte Reaktionen und fortbestehende "Ungleichzeitigkeiten", nicht zulassen." (49)

Diesem Einwand gegen Lübbes Konzeptualisierung des "modernen Historismus" ist nichts hinzuzufügen. Über die weitverbreitete Traditionsrhetorik unserer Zeit, die Renaissance der Feste und Bräuche, die Wiederbelebung von Folklore, alltags-, regional- und ortsbezogene Geschichtsprojekte, Nostalgien aller Art braucht nicht die Nase gerümpft zu werden. Solche Traditionsbedürfnisse sind legitim. Sie sind aber nicht imstande, das Unmögliche zu erreichen: die kulturellen Verhältnisse zu stabilisieren. Der Neokonservatismus vertuscht dies Unvermögen. Traditionswelten und Paradoxien wie die Schaffung neuer Traditionen bilden nur die Kulisse, hinter der der Abbau des geschichtlich Gewachsenen um so rascher betrieben wird. Kompensatorischer Historismus vernichtet Geschichte, gerade auch, wo er geschichtlich tönt und sie politisch funktionalisiert.

Der Neokonservatismus unternimmt den resignativen und zynischen Versuch einer Erneuerung und Befestigung kompensatorischer Kultur. Darauf gibt es keine andere Antwort als das Beharren auf "integraler Humanität". Die Perspektive einer grundlegenden Veränderung des Systems der gesellschaftlichen Arbeit ist darin eingeschlossen.

Anmerkungen

  1. Es gibt bisher keine ausführliche historische Analyse dieser für den deutschen Konservatismus zentralen Frage, allenfalls einzelne Untersuchungen, die spezifische historische Umstände und einzelne Personen bzw. geistig-politische Strömungen behandeln oder aber sie von anderen Fragestellungen aus streifen. Hinweise geben außer den weiter unten zitierten Schriften: KLUGE, T., Gesellschaft, Natur, Technik. Zur lebensphilosophischen und ökologischen Kritik von Technik und Gesellschaft, Opladen 1985
    STERN, F., Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland, München 1986
    DESSAUER, F., Streit um die Technik, Frankfurt am Main 1956
    SIEFERLE, P., Fortschrittsfeinde? Opposition gegen Technik und Industrie von der Romantik bis zur Gegenwart, München 1984
  2. Bspw. der militante Antikommunismus. Er stellt unter den genannten Aspekten auch eine Möglichkeit dar, sich mit den Siegern (Westmächte) zu identifizieren und im Kampf gegen den alten-neuen Feind "Bolschewismus" Schuld abzuarbeiten und zu verdrängen. Ähnlich die Anpassungsbewegungen an die parlamentarische Demokratie. Elitetheoretisch begründete Verachtung demokratischer Partizipation und der "Parteiendemokratie" wurden beibehalten. Vgl. GREBING, H., Konservative gegen die Demokratie. Konservative Kritik an der Demokratie in der Bundesrepublik, Frankfurt am Main, bes. Teil II ("Darstellung und Kritik der Topoi konservativer Demokratie-Kritik")
  3. FREYER, H., Das industrielle Zeitalter und die Kulturkritik, in: Bertelsmann-Lesering, Sonderdruck, Wo stehen wir heute?, Gütersloh 1960
  4. GREIFFENHAGEN, M., Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland, Frankfurt am Main 1986, S. 316 u.f.
  5. Im Begriff des "sekundären Systems" hat er diese Revision systematisch begründet - FREYER, H., Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Stuttgart 1956 - und den "Ernst des Fortschritts" in der stellenweise eindrucksvollen kultursoziologischen Abhandlung "Schwelle der Zeiten", Stuttgart 1960, in das Bild des Katarakts gekleidet. Dazu und generell zum "technokratischen Konservatismus" SAAGE, R., Rückkehr zum starken Staat? Studien über Konservatismus, Faschismus und Demokratie, Frankfurt 1983 und ders., Zur Aktualität des Begriffs "Technischer Staat", in: Gewerkschaftliche Monatshefte 1/86, 37. Jg., S. 37 u.f.
  6. Dieser Staatstheoretiker ließ seinen autoritären, harten Institutionalismus auf die "Industriegesellschaft als harten Kern des heutigen sozialen Ganzen" fußen. FORSTHOFF, E., Der Staat der Industriegesellschaft. Dargestellt am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., München 1971
  7. Gehlens negative Anthropologie legitimiert die Anpassung des Menschen an soziale und technische Superstrukturen (Institutionen) als einzig möglichen kulturellen, strengen Schutz vor dem ihm innewohnenden "Chaos". GEHLEN, A., Anthropologische und sozialpsychologische Untersuchungen, Hamburg 1986, S. 59
  8. SCHELSKY, H., Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, Köln und Opladen 1961
  9. HABERMAS, J., Die Kulturkritik der Neokonservativen in den USA und in der Bundesrepublik, in: ders., Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt am Main 1985, S. 44
  10. ALTMANN, R., Der wilde Frieden. Notizen zu einer politischen Theorie des Scheiterns, Stuttgart 1987, S. 250 - 252
  11. SPÄTH, L., Wende in die Zukunft. Die Bundesrepublik auf dem Weg in die Informationsgesellschaft, Hamburg 1985
  12. Kommission "Zukunftsperspektiven gesellschaftlicher Entwicklungen", Zukunftsperspektiven gesellschaftlicher Entwicklungen, erstellt im Auftrag der Landesregierung von Baden-Württemberg, Stuttgart 1983. Bezeichnend übrigens das dem Bericht vorangestellte Spinoza-Wort: "Nichts belächeln, nichts beweinen, auch nichts verwünschen, sondern erkennen".
  13. In dieser Betrachtung geht es nicht um die Herausarbeitung von Nuancen, Differenzen, Widersprüchen zwischen verschiedenen konservativen Richtungen.
  14. Staatsministerium Baden-Württemberg (Hg.), Zukunftschancen eines Industrielandes. Kongreß der Landesregierung Baden-Württemberg am 13. und 14. Dezember 1983, Freudenstadt 1983, S. 31
  15. Daß in der ökologische, grünen und alternativen Technikkritik heute die Uralt-Metapher vom hinter der technischen Entwicklung zurückbleibenden Menschen in den verschiedensten Varianten auftaucht, kann als Indiz für deren Beschränktheit genommen werden. Denn ob aus diesem Bild nun Anpassungsleistungen des Menschen oder aber Klagen über Tempo und Folgen des industriellen Fortschritts gefordert werden - Basis beider Argumentationsrichtungen ist eine unvermittelte Entgegensetzung von Industrie- und Kultursystem. Beide haben sich damit abgefunden, daß es aus dem ehernen Gehäuse der Lohnarbeit keinen Ausweg gibt.
  16. Ähnlich verhält es sich mit der "neuen Sicht der Dinge" bei Biedenkopf. Zunächst einmal betont er verdächtig oft, daß es um einen "Umbruch des Denkens" gehe. Sodann definiert er diesen so, "daß es nicht die Menschen sind, die sich ändern müssen, sondern die gesellschaftlichen und staatlichen Einrichtungen, die wir uns geschaffen haben." BIEDENKOPF, K., Die neue Sicht der Dinge, München 1985, S. 48. Von diesen Änderungen ausgenommen ist dann aber alles, was als konstitutiv für eine "freiheitliche Wirtschafts- und Sozialordnung" angesehen wird...
  17. Ein Beispiel gibt JOACHIM GIEGEL, "Fröhliches Katastrophenbewußtsein. Zur Politik der sozialberuflichen Mittelschicht", in "links" Nr. 203, Februar 1987, 19. Jahrgang, S. 25
  18. "Einmal geschieht die Sicherung alter Werte nie ohne Seitenblick auf das Industriesystem und seine motivationellen Bedürfnisse ... Der Konservative versucht natürlich, eine solche funktionale Deutung abzuwehren, indem er behauptet, die von ihm bevorzugten Einstellungen seien an sich wertvoll ... Nicht Inhalte als solche sind es, um deren Erhaltung es dem Konservativen geht, sondern ihre stabilisierende Wirkung. Der Konservative wird zum funktionalistischen Soziologen..." GREIFFENHAGEN, M., a.a.O., S. 380
  19. EBERHARD KNÖDLER-BUNTE spricht von "erweiterter kultureller Reproduktion". Gesellschaftliche Normen und Leitbilder, in: Die neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 2, Februar 1987, 34. Jahrgang, S. 130
  20. Das Nicht-Ernstnehmen von Kritik, indem sie auf Kultur im Sinn von Lebensstil reduziert wird, ist im übrigen kein Monopol der Konservativen. Peter Glotz ist mit der Rede von den "zwei Kulturen" Vorreiter eines solchen Verfahrens der Reduktion gewesen.
  21. Diese Entwicklung trägt gewiß allgemeine Züge, hier ist aber nur die in der Bundesrepublik angesprochen.
  22. WEBER, M., Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 1963, S. 203
  23. Leider kann hier der reizvollen und interessanten Frage nicht nachgegangen werden, inwieweit die noch vorherrschenden Muster links-grün-alternativer Technikkritik in ihrer dichotomischen und reduktionistischen Technik-Fixierung hinter dem neokonservativen Reflexionsvermögen zurückbleiben. Zum nun folgenden knappen Abriß technischer Utopien und Projektionen würde dann auch die Kritik ihrer Gegenstücke gehören, der Horror-Visionen vom Orwell-Staat, perfekter Überwachung, Informatisierung der Kommunikation, Mediatisierung des Alltags, des Zugriffs der "kalten" Technik usw.
  24. NEGT, O., Lebendige Arbeit, enteignete Zeit. Politische und kulturelle Dimensionen des Kampfes um die Arbeitszeit, Frankfurt/New York 1984, S. 97
  25. A.a.O., S. 235
  26. Sie zeigen jedoch auch wie in einem Brennglas reale gesellschaftliche Zustände. Vgl. EWEN, E. u. S.T., The Bribe of Frankenstein, in: MOSCO, V. u. WASKO, J. (Ed.), The Critical Communications Review, Vol. I: Labor, The Working Class, and the Media zu den Utopien des 18. Jahrhunderts und der Entstehung der amerikanischen Filmindustrie. Bribe (= Bestechung) spielt auf den Film "The Bride of Frankenstein" (Frankensteins Braut) an. Die Maschinerie und insbesondere die moderne Kulturindustrie wird, anspielend auf diese technische Utopie, als zugleich monströs und verheißungsvoll bezeichnet. Vgl. auch MENNINGEN, J., Filmbuch Science Fiction, Köln 1980. Vgl. die Broschüre der AKTION GEMEINSINN, Droht uns die Zukunft? Kultivierte Technik für Mensch und Natur, Bonn 1985, eine wahre Fundgrube für technische Utopien; man möchte hinzufügen, in ihrer postmodernen Form, dem Fragment. Zu deren Dürftigkeit lese man etwa das Kapitel 7. "Automaten zum Liebhaben". Die Phantasie reicht wohl aus, um sich Fahrkarten-Automaten vorzustellen, die mit Bildschirm und Dialogfähigkeit ausgestattet und einfach zu bedienen sind. Warum aber soll es denn "im Jahre 1985 + X" überhaupt Fahrkarten und Geldautomaten geben?
  27. Bevorzugtes Beispiel dafür ist die Arbeitszeit. Grob: Früher bei der "Groß"- und "Zentraltechnik" = starre Arbeitszeit, heute, angesichts der technisch möglichen Flexibilisierung der Fertigung = individualisierte, frei gestaltete Arbeitszeiten. So bei GEISSLER, H., Für einen Fortschritt ohne Inflation der Ängste, FAZ, 29.8.1986, Nr. 199 u. auch die Kommission "Zukunftsperspektiven...", a.a.O., S. 167 bis 171 oder SPÄTH, L., a.a.O., S. 74 - 137
  28. SAMMET, R., Die Chemie in den achtziger Jahren - Aufgaben und Aussichten, Rede (des Vorstandsvorsitzenden der Hoechst AG) am 4. März 1980 vor dem Wirtschaftspresseclub in Düsseldorf. Ludwig Trepl hat aufgezeigt, daß die Kritik an Umweltzerstörung zwar nicht obsolet wird durch "ökologische Modernisierung", daß diese - und damit mindestens eine Entdramatisierung oder auch eine (gesteuerte) Dramaturgie der ökologischen Krisen - aber ohne weiteres im Kapitalismus realisierbar ist. Ökologie taugt nicht als gesellschaftspolitisches oder philosophisches Dach für Emanzipation. TREPL, L., Natur im Griff, in: HAMMAN, W. u. KLUGE, T. (Hg.), In Zukunft, Berichte über den Wandel des Fortschritts, Hamburg 1983
  29. SPÄTH, a.a.O., S. 81
  30. A.a.O., S. 82
  31. A.a.O., S. 84/85
  32. A.a.O., S. 86
  33. S. dazu HACK, L., Bestens bedient. Das Schlagwort von der Dienstleistungsgesellschaft und die plattgeklopften Klassenstrukturen, in: "links", Nr. 203, Februar 1987, 19. Jahrgang
  34. WINNES, R., Bildungsziele in der Industriegesellschaft, in: Vortragsreihe des Instituts der Deutschen Wirtschaft, Nr. 3, 21.1.1986, Jg. 36. Winnes ist Direktor der Daimler Benz AG
  35. Auf eine vergleichsweise anspruchsvolle und bildungspolitisch interessante Indienstnahme des Informationsbegriffs kann ich nur beiläufig hinweisen. Vgl. HAEFNER, K., Die neue Bildungskrise, Hamburg 1985. Gegen Haefners "Trennung des Bildungsideals von der Arbeitswelt", vgl. AHLHEIM, K., Neue Technik und Kulturarbeit, Bad Heilbronn 1986, S. 36 u.f.
  36. AKTION GEMEINSINN, a.a.O., S. 22
  37. JAMESON, F., Zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus, in: HUYSSEN, A. u. SCHERPE, K. R. (Hg.), Postmoderne, Zeichen eines kulturellen Wandels, Hamburg 1986, S. 79
  38. Ebd.
  39. A.a.O., S. 81. Volker Fischer beschreibt, wie sich in der Architektur, vor allem aber in der avancierten Produktgestaltung, Affirmatives, Katastrophenstimmung, aber auch Dissimulatio-Motive mischen. High-Tech wird verwandt, auftragsgemäß, dabei aber hinterfragt. FISCHER, F., Technologie als Fetisch. High-Tech in Architektur und Design, in: KLOTZ, H. (Hg.), Vision der Moderne. Das Prinzip der Konstruktion, München 1986, S. 66 f
  40. MEURER, B., Schönheit. Zur Debatte industrieller Gestaltung, in: HAMMAN, W. u. KLUGE, T., a.a.O., S. 132
  41. SPÄTH, L., a.a.O., S. 43/44. Es schließen sich an dieses Zitat wolkige Hinweise an, daß man über die "sozialen und kulturellen Folgewirkungen" noch nichts Genaues wisse.
  42. HABERMAS, J., a.a.O., S. 50
  43. AKTION GEMEINSINN, a.a.O., S. 15
  44. "Das politische Handeln also nicht nur die Angelegenheit einiger weniger, sondern stärker auf die einzelnen Bürger verteilt und diese somit nicht nur (!) das Material des Geschehens ... Natürlich (!?) könnte dies nicht für alle politischen Bereiche gleichermaßen zutreffen." AKTION GEMEINSINN, ebd.
  45. JAMESON, F., a.a.O., S. 89. Er schließt daran die These vom Schwinden der "kritischen Distanz" an, die auf eine Ausbreitung, gleichzeitig aber einen Substanzverlust von Kultur abzielt. Er fordert eine neue pädagogisch-politische Kultur, "die das Subjekt mit einem neuen und erweiterten Sinn für seinen Standort im Weltsystem ausstattet." S. 99
  46. LOTHAR SPÄTH laut Wirtschaftswoche vom 25.7.1986
  47. MEURER, a.a.O., S. 133
  48. ASSION, P., Historismus, Traditionalismus, Folklorismus. Zur musealisierenden Tendenz der Gegenwartsliteratur, in: JEGGLE/KORFF/SCHARFE/WARNEKEN (Hg.), Volkskultur in der Moderne. Probleme und Perspektiven empirischer Kulturforschung, Hamburg 1986, S. 355
  49. A.a.O., S. 356

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