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Heft 29: Politische Bildung

1988 | Inhalt | Editorial | Leseprobe

Titelseite Heft 29
  • Dezember 1988
  • 96 Seiten
  • EUR 7,00 / SFr 13,10
  • ISBN 3-88534-047-X

Andreas Gruschka

Kritische Theorie und Pädagogik
Eine Begegnung und ihre Folgen

Begegnung

Wenn man dazu aufgefordert ist, die Wirkung von etwas auf etwas anderes, insbesondere in geistig verfaßten Dingen zu objektivieren und man dabei nicht auf strenge empirische Daten rekurrieren kann, ist man auf zweierlei angewiesen, was in diesem Hause (*) einmal gar nicht so niedrig im Kurs stand: auf die kritische Reflexion unter dem Gesichtspunkt eigener Zeitgenossenschaft. Das Kritische wendet sich zunächst gegen ein "On-dit". Man hat sich nämlich angewöhnt zu sagen, Kritische Theorie habe einmal eine große Wirkung auf die Pädagogik gehabt und hinzugefügt wird, daß Kritische Theorie in der klassischen Form heute kein Thema mehr sei. Eine solche These wird zuweilen noch von solchen Pädagogen bedauernd vorgetragen, die sich selbst einmal von Kritischer Theorie haben befruchten lassen. Ich möchte die These energisch bestreiten. Beginnen will ich diesen Widerspruch mit zwei Erfahrungen meiner eigenen Zeitgenossenschaft.

1974 veranstaltete die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaften in Salzburg ihren vierten Kongreß. Das Oberthema dieses Kongresses war bestimmt durch den Begriffswandel in der Pädagogik: nun ging es um Sozialisation und nicht mehr, wie es 'funktional-äquivalent' zehn Jahre früher vielleicht geheißen hätte, um die "Einwirkung der kulturellen Mächte auf den Lehrplan". 1974 begehrten einige Traditionalisten gegen die Themenstellung auf, denn Sozialisation, das war nicht ihre, sondern die Begrifflichkeit der Sozialwissenschaften. Dieser Einwand verfing damals nicht, die Pädagogik war als Erziehungswissenschaft modern und offen geworden.

In einer der Arbeitsgruppen reflektierte ein Matador der Bildungsreform über sein neuestes Stück, über das strategische, systemkritisch gemeinte Lernen in der Gesamtschule. Meine vorsichtige Problematisierung, woher der politisierende Bildungssoziologe die Sicherheit nehme, daß in einer Gesamtschule qualitativ anderes entstehen könne als in anderen Schulen, nämlich systemkritisch gerichtete Bildung statt Halbbildung, wurde überraschend für mich gekontert. Ich erntete ein Grinsen und wurde mit dem Kommentar: "Ja, ja, Adorno, ich hab schon verstanden!" in die Ecke gestellt, in der mein Argument unbeantwortet schmoren durfte. Die von einem wichtigen Protagonisten der Schulreform erhoffte Systemkritik und die Kritische Theorie der Gesellschaft paßten in dem Augenblick nicht zusammen, wo letztere zitiert wurde, um ersteres zu problematisieren.

Zehn Jahre später hatte ich das Vergnügen, das Referat desselben Kollegen in Heidelberg einzuführen, das er über den Zusammenhang von kommunikationstechnischer Grundbildung und Allgemeinbildung zu halten hatte. In dem Thema kamen wiederum brennglasartig zwei Anteile des gewandelten Zeitgeistes zum Ausdruck: noch war hier die Spur der Modernisierung zu spüren (Computer und Schule), das Thema wurde aber ganz traditionell gebrochen, nämlich durch den erneuerten Diskurs um Bildung und Allgemeinbildung. Im Referat wurde das Allgemeine der neuen Technologien schnell festgestellt und ihre kritische Nutzung sowie Kontrolle postuliert. Dieses geschah nun nicht in der Form "strategischen Lernens" oder unter Zuhilfenahme von sozialisationstheoretischen Begriffen und Konzepten, sondern - merkwürdig - in einer bildungsphilosophischen Überhöhung: Wir müssen geistig innehalten und uns der Dialektik der Aufklärung bewußt werden, die gerade an dem Symptom der kommunikations-technischen Entwicklungen studiert werden muß. Nach wie vor konnte der Sozialisationsforscher mit Adornos Theorie der Halbbildung nicht viel anfangen, was ihn aber nicht daran hinderte, nunmehr mit mahnendem Finger positiv auf Adorno zu rekurrieren.

Ein zweites Beispiel kommt politisch anders daher, besitzt aber eine ähnliche Pointe. Als wir Anfang der siebziger Jahre in Münster begannen, das Postulat einer kritischen Didaktik in eine handlungsorientierte Curriculumentwicklung umzusetzen, diskutierte mit uns ein Kollege, der berüchtigt dafür war, am schnellsten die neuen Themen und Approaches aufzugreifen und zu wechseln. Bei einer Diskussion schlug ich vor, das Theorie-Praxis-Problem handlungsorientierter Curriculumentwicklung mit Blick auf Adornos großen letzten Aufsatz aus den "Stichworten" politisch und methodologisch zu diskutieren. Mir wurde darauf geantwortet, daß dies nicht viel bringe, denn Adorno, das sei reine Philosophie! Man müsse mit sozialwissenschaftlich gehaltvollen Kategorien arbeiten, vielleicht könne man Habermas nutzen, nicht aber Horkheimer und Adorno; das sei zudem Theorie, die zu begründen versuche, warum man nichts tun könne. So waren wir nicht überrascht, in einem entsprechenden Konzeptvorschlag dieses Kollegen, die Curriculumentwicklung mit Hilfe der Luhmannschen Systemtheorie strukturiert zu bekommen; wohlgemerkt 1971, lange bevor einige in der Zunft der Erziehungswissenschaft der Soufflierkunst von Luhmann und Schorr erlegen waren.

Anders als mein erster Gewährsmann entstammt dieser zweite aus der guten alten geisteswissenschaftlichen Pädagogentradition. Sein Plädoyer für Luhmann hatte etwas von der Übersollerfüllung in puncto Versozialwissenschaftlichung der Pädagogik.

Vergangenes Jahr feierten wir in Münster im Schülerkreis den 60. Geburtstag unseres 1983 verstorbenen Lehrers Herwig Blankertz. Mein Beitrag bestand darin, den interessanten Vorgang aufzuklären, warum Herwig Blankertz, der die Kritische Theorie klassischer Ausprägung immer wieder zitierte, der die Texte Adornos und Horkheimers bewunderte, es versäumt hatte, sich voll auf diese einzulassen (s.u.). Zu meiner großen Überraschung erhielt ich für diese Distanzierung vom eigenen Lehrer gerade von jenem Kollegen Zustimmung, der fünfzehn Jahre zuvor mit Adorno nichts hatte anfangen können. Nun bekannte er freimütig, es ginge in der gegenwärtigen Phase darum, die kritische Aufklärung über das Verhältnis von Pädagogik und Gesellschaft, dabei auch die radikale Selbstaufklärung zu betreiben. Kritische Theorie in ihrer klassischen Gestalt biete das hervorragende Instrumentarium für eine solche Analyse. Nichts sei dringender gefordert angesichts der Apologie der Reformer gegenüber ihrem eigenen Scheitern. Der Beitrag der pädagogischen Theorie zur Ideologie, zur Dialektik der Aufklärung, die keineswegs als Betriebsunfall betrachtet werden dürfe, als das Umschlagen eines gut Gemeinten in ein Schlechtes oder schlecht Genutztes, sondern als der inhärente Beitrag der pädagogischen Theorie der Bildungsreform zur fatalen Rationalisierung der pädagogischen Lebenswelt, zur Expertenkultur auf der einen und zur Kolonialisierung auf der anderen Seite. In dieser Rede schwang heftig ein moralischer Vorwurf mit. Mit unseren Modellen einer kritische Pädagogik haben wir die Lehrer entmündigt und uns selbst vor der Kritik an unseren Gestaltungsphantasien vorbeigemogelt. Mir ging es in meinem Vortrag eigentlich nur darum, immanent zu verstehen, warum mein Lehrer die Kritik an der Pädagogik im Zweifelsfall immer in Richtung praktischer Pädagogik und nicht in Richtung Kritik aufgegriffen hatte, dagegen wollte mein Kollege mit Hilfe Kritischer Theorie nun eine neue Ethik des Schreibens über Pädagogik begründen.

Ich sagte zu Beginn, viele reden so, als ob der Einfluß der Kritischen Theorie auf die Pädagogik überholt sei, in Wahrheit scheint es so zu sein, daß sie in aller Munde ist. Ich könnte meine Beispiele beliebig fortsetzen. Es gehört heute fast schon zum guten Ton, in Texten, in denen der Zusammenhang von Pädagogik und Gesellschaft zum Thema gemacht wird, auch auf die "Dialektik der Aufklärung" zumindest hinzuweisen. Was vordem einigen wenigen "kritischen Pädagogen" vorbehalten war, macht nun immer weiter ausgreifende Runde. Zwar spricht sich herum, daß einige derjenigen, die sich vor ca. 20 Jahren positiv auf Kritische Theorie bezogen, heute sich damit nicht mehr so gerne identifizieren lassen, dafür sind aber viele andere neu hinzugekommen.

Vergangen ist der technokratische Forschrittsglaube derjenigen, die an der Bildungsreform bestimmend beteiligt waren und der ist beerbt durch eine tiefe Skepsis, ob viele der Instrumente, die für den Fortschritt ersonnen worden sind, ihn wirklich sicherstellen können. Was Mitte der sechziger Jahre nicht galt, scheint heute eingetroffen zu sein, für die zentralen bildungsphilosophischen und gesellschaftstheoretischen Topoi der Kritischen Theorie ist der "Zeitgeist" günstig geworden.

Steht also eine Wirkung der Kritischen Theorie erst noch aus? Erstmals günstige Zeiten für die Rezeption der klassischen Kritischen Theorie? Da der Zeitgeist eine weitgehend intellektuellen Moden unterworfene Angelegenheit ist, kann es so sein, ja wird es wahrscheinlich so sein, daß die Erinnerung an die 'Dialektik der Aufklärung' bloß ein vielsagender oder viele Bedeutungen suggerierender Referenzpunkt bleibt.

Vielleicht hilft zur Beantwortung der aufgeworfenen Frage, näher darauf einzugehen, unter welchen Voraussetzungen Kritische Theorie damit rechnen kann, von Pädagogen ernsthaft rezipiert zu werden.

Vorzeit der Berührung

Sie mögen nun erwarten, daß ich die Rezeptionsgeschichte in einer Reihe von Phasen gliedere. Da ich aber große Bedenken gegen diese Art der Historisierung hege (deren Folgen kann man daran studieren, wie schlecht sie der Kritischen Theorie bekommen ist), unterlasse ich das. Im folgenden werde ich nur kurz die Vorzeit der Berührung behandeln, gehe dann näher auf diejenigen ein, die sich von den Schriften beeindrucken ließen, ohne freilich ausführlich genug die interessanten Differenzen innerhalb der als "kritische Pädagogen" apostrophierten Gruppe von Professoren zu kennzeichnen.

Genauso wie die Kritische Theorie kein Thema in der bundesrepublikanischen Nachkriegstheoriengeschichte darstellt, bevor sie durch den Protest ab Mitte der sechziger Jahre wachgeküßt wurde, gibt es auch keine nennenswerte Kenntnisnahme der kritischen Texte durch die Pädagogik. Sehr zweifelhaft ist, ob die philosophisch gebildete Schicht der damals führenden geisteswissenschaftlichen Pädagogen (Wilhelm Flitner, Eduard Spranger, Theodor Litt, Erich Weniger) etwas von den Frankfurtern überhaupt gelesen hat. Spuren irgendwelcher Beschäftigung habe ich nicht gefunden. Wenn ich recht sehe: der einzige Pädagoge, der in den fünfziger Jahren schon über die Kritische Theorie gestolpert ist, ist im Grunde keiner; Hellmut Becker, Jurist, soziologisch und psychoanalytisch mehr interessiert denn klassisch pädagogisch. Becker schrieb Mitte der fünfziger Jahre Ideologiekritisches über die verwaltetete Schule und dachte dabei den Topos der "verwalteten Welt" pädagogisch weiter. Becker hat dann viel dafür getan, den Philosophen Adorno dem pädagogischen Publikum näherzubringen. Einige der wichtigsten Schriften Adornos mit pädagogischer Thematik gehen auf die Initiative von Becker zurück, so etwa die "Tabus über dem Lehrberuf". Bevor ich aber auf die These verfalle, ein Pädagoge hätte die Kritische Theorie befruchtet, will ich es mit diesem Hinweis sein Bewenden sein lassen.

In den Schriften der Pädagogen taucht Kritische Theorie erst in der Schülergeneration jener geisteswissenschaftlichen Gründerväter auf; nicht nur bei ihnen, aber doch symptomatisch dort gebündelt. Zunächst handelt es sich nicht um einen programmatisch zu verstehenden Hinweis; etwa in der durch extensive Literaturaufarbeitung gekennzeichneten Dissertation von Wolfgang Klafki zum Thema: "Das pädagogische Problem des Elementaren und die Theorie kategorialer Bildung" (1959/1964). Klafki registriert hier die "Theorie der Halbbildung" unmittelbar nach ihrem Erscheinen in einer Fußnote. In der 1963 erschienenen wegweisenden Untersuchung von Herwig Blankertz "Berufsbildung und Utilitarismus", wird zwar der Blick auf eine gesellschaftstheoretisch fundierte Bildungstheorie eröffnet, die Zitation der Theorie der Halbbildung läßt aber noch einige Jahre auf sich warten. Erst in der Gedenkschrift für den 1961 verstorbenen Lehrer der "kritischen Pädagogen", Erich Weniger, die sieben Jahre nach dessen Tod vorliegt, wird von Ilse Dahmer ausführlich dargelegt, warum die Emanzipation von den Lehrern im Durchgang durch Rezeption Kritischer Theorie der Gesellschaft erfolgen sollte. (Etwa zur gleichen Zeit erscheint die im Institut für Sozialforschung herausgegebene Dissertation von Adalbert Rang über den "politischen Pestalozzi" und gelangen die bildungstheoretischen Schriften von Hans Joachim Heydorn und Gernot Koneffke zu einiger Berühmtheit. Soweit ich weiß, hat sich daraus später keine über das Thema der Kritischen Theorie vermittelte gemeinsame Diskussionsbasis ergeben.)

Klafki, Blankertz, Mollenhauer, Thiersch und vielen anderen eröffnen sich ebenfalls ab Mitte der sechziger Jahre überraschend große Möglichkeiten, am politischen Reformprozeß teilzunehmen. Dafür scheint es zunächst nicht erforderlich oder sinnvoll zu sein, sich gesellschaftstheoretisch oder gar methodologisch bei der Kritischen Theorie zu versichern, die zu diesem Zeitpunkt literarisch vollendet vorliegt. Eine gründliche Aufarbeitung, gar Beziehung der Dialektik der Aufklärung auf das Thema der Pädagogik wäre zu diesem Zeitpunkt kontraproduktiv gewesen. Man verfolgt zwar die hochschulpolitischen Konflikte in Frankfurt, hat selbst Anteil an der Auseinandersetzung mit den Studenten, gewahrt deren Kritik an der Abstinenz der Kritischen Theorie gegenüber der politisch verändernden Praxis. Während in diesen Auseinandersetzungen Adorno die theoretische Arbeit gegenüber aktionistischer Praxis verteidigte, waren die Pädagogen gerade umgekehrt gefordert, der Bildungsreform den rechten Schub zu geben. Hierfür mußte zunächst das Inventar der eigenen theoretischen Begründungen und Begriffe erneuert werden. Mehr als der exklusive Bezug auf Kritische Theorie wurde hier der spezielle zu den modernen Sozialwissenschaften wichtig.

Mit der inneren Reform von Schule und Sozialpädagogik geht es nicht mehr schlicht um die x-te Neubestimmung des "pädagogischen Verhältnisses". Um die Strukturen pädagogischer Praxis zu verbessern, reicht es nicht mehr aus, feierlich die "liebende Begegnung von Erziehern und zu Erziehenden" zu beschwören. Mit sozialwissenschaftlich aufgeklärten Begriffen werden die Interaktionsstrukturen von Schule und Unterricht einer kritischen Betrachtung zugeführt. Das Heim erscheint demnach als eine totale Institution, Unterricht wird unter Herrschaft tradierenden Kategorien betrachtet.

Die kulturwissenschaftliche Überhöhung eigentlich gestalteter Bildung taugt nun nicht mehr, wo andere inzwischen bildungsökonomische Modelle erarbeiten und Bildungsplanung betreiben. Die "Ausschöpfung der Begabungsreserven" soll durch Curricula und Schulformen neuen integrativen Zuschnitts vollzogen werden. Deswegen reicht es nicht mehr aus, die "hohen Formen europäischer Gesittung" auszulegen, die "kyklische Grundbildung" erneut zu vermessen. Die Reform der gymnasialen Oberstufe legt das Kanondenken als überholt ab, statt dessen wird eine der modernen Welt angemessene wissenschaftspropädeutische Grundorientierung verlangt.

Was sich hier wandelt, kann vielleicht am sinnfälligsten an dem wohl feinfühligsten Erneuerer der Pädagogik zur Erziehungswissenschaft abgelesen werden, an Klaus Mollenhauer, der zugleich als erster zum Vertreter einer kritischen Erziehungswissenschaft erklärt wird. In dem Aufsatz "die Rollenproblematik des Lehrerberufs und die Bildung", später erschienen in der zur 'Bibel' kritisch sich verstehender Erziehungswissenschaft erhobenen Schrift "Erziehung und Emanzipation" heißt es: nun ist es nicht mehr die Wesensschau, sondern die Forschung, die bestätigt: "...die Ernüchterung des Lehrerstandes im Hinblick auf seine Selbsteinschätzung und die damit verbundene Veränderung von einem ideologischen zu einem realistischeren Berufsbild. Die Überspanntheit eines hochgestochenen Berufsethos weicht einer der Berufswirklichkeit entsprechenden Würdigung der Möglichkeiten, an die Stelle allgemeiner Tugendforderungen treten berufsspezifische Eigenschaften" (Mollenhauer, 1962/70, Seite 75 f).

Die Option der Bildungsreform, die wahrlich keine kleingestrickten Ziele verfolgte, wird hier merkwürdig kombiniert mit der Parole: Weg vom verblassenen Pathos der Väter! Das allein schon produzierte eine latent wirksame, lange Zeit unaufgearbeitete Spannung zwischen Programm und Praxis der Erziehungswissenschaft. Die Lehrergeneration hatte ein überschießendes, in der dünnen Luft ideal gestalteter Theorie der Praxis entworfenes Bild von Pädagogik gezeichnet, welches nun einer ideologiekritischen Überprüfung nicht standhalten kann. Die Berührung mit dem kargen Boden der Tatsachen war also notwendig, gleichzeitig wollte man die Schule von Grund auf verbessern. Die Bildungsreform war nicht zu initiieren, wenn sie sich schon von vornherein der nüchternen Einschätzung ihrer Realisierungsmöglichkeiten gestellt hätte. Bei aller Distanzierung von den uneingelösten Versprechungen der alten Theorie, kam es doch nicht dazu, daß die bildungsreformerisch engagierten Schüler nun den von den Vätern geerbten Telos der Pädagogik über Bord warfen. Der idealistische Überschuß in den Schriften der Schüler arbeitet sich an einem Reformmodell ab, während der der Väter sich rein hielt in der Distanzierung von Politik. Daraus folgte aber nicht unbedingt die radikal durchgeführte Kritik an der Wirklichkeit, die ihrem Begriff nicht genügt, sondern mehr die an den traditionellen Begriffen. Die mit Hilfe der Sozialwissenschaft zu betreibende Modernisierung sollte nicht nur ein realistischeres Bild von der Funktion der Pädagogik liefern, sondern zugleich den instrumenteilen Rahmen für deren Reform abstecken.

Das erklärt, warum so viele geisteswissenschaftlich-philosophisch geschulte Pädagogen in den Jahren der Bildungsreform eine technische Sprache übernehmen, die heute unter gewandelten Bedingungen sich häufig nur noch zur Karikatur eignet. Um die peinsam normativ verklärte Idee der "pädagogischen Liebe" sprachlich zu vermeiden, ist nun von den 'affektiv-reziproken, diadisch konstruierten Interaktionsstrukturen' die Rede. Diese Sprache läßt nun aber gleichzeitig das Moment der Kritik tendenziell zum Verschwinden bringen. Das Ungenügen der empirischen Liebe zu Kindern läßt sich mit der Idee des gelingenden Lebens kritisieren. Was aber kann man gegen die reziproken Interaktionsstrukturen geltend machen?

Nicht alle kritischen Pädagogen sind in gleichem Umfang von der Sozialwissenschaft angesteckt. Mollenhauer schreibt in den folgenden Jahren einige Bücher, die jeweils auf neue Paradigmen der kritischen Sozialwissenschaft Bezug nehmen, weniges davon wird empirisch ausgeführt. Allein Wolfgang Lempert wird sich in dieser Gruppe darum bemühen, das insbesondere von Jürgen Habermas initiierte Forschungsprogramm auf pädagogische Fragestellungen zu beziehen. Beide, Mollenhauer und Lempert, hatten in Göttingen nicht nur die "Kultur- und Geisteswissenschaft" sondern auch die Soziologie studiert; anders als Klafki oder Blankertz, die stark der historisch-geisteswissenschaftlichen Tradition verbunden blieben. Insgesamt verdanken sie ihre wissenschaftliche Bildung und Prägung vor allem der Philosophie, bei Blankertz ist es nicht nur die Geisteswissenschaft, sondern auch das Kant-Studium bei Rudolf Jung. Das macht erklärlich, warum der Bezug zu den Sozialwissenschaften insbesondere in den Schriften von Klafki und Blankertz nur summarisch ist, er dient als Hinweis auf die neue Lage der Diskussion, als Reflex einer auf Modernisierung zur wissenschaftlich-technischen Zivilisation hin ausgerichteten pädagogischen Wissenschaft. Dennoch, als Blankertz zum Beispiel das nordrhein-westfälische Kollegschulmodell zu entwerfen und zu rechtfertigen sucht, rekurriert er nicht nur auf den Topos der wissenschaftlich-technischen Zivilisation, die es nicht mehr geboten sein lasse, berufliche Bildung auf Imitation und Nachlernen zu reduzieren und gymnasiale auf einen Kanon zu verpflichten, mit dem nur noch ideologisch so getan werden kann, als ob die Dynamik der wissenschaftlichen Entwicklungen überschaubar sei und die Wertigkeit der Wissenschaften feststehen würde. Die rechte Durchschlagskraft besaßen aber nicht solche, damals fast schon als Gemeinplätze empfundene Hinweise, sondern eine ausführliche bildungstheoretische Argumentation, die im Rückgang bis zu Humboldt Integration von allgemeiner und beruflicher Bildung plausibel zu machen suchte.

Insgesamt kann gelten, daß die kritischen Pädagogen die moderne Literatur rezipierten, weil sie in ihr Legitimationsbelege für die Bildungsreform fanden. Die modernen Sozialwissenschaften wurden nicht rezipiert, wie sie auch hätten aufgegriffen werden können: als 'ein Wissensbestand' der die Erfolgsaussichten der Bildungsreform relativieren mußte. Begabungsforschung und Lernforschung eröffneten ganz neue Bildungsmöglichkeiten (als wäre dabei die Rolle der Schule zu vernachlässigen). Bildungsökonomie postulierte, daß Begabungsreserven entdeckt und ausgeschöpft werden müßten. Sozialisationsforschung zeigte deutlich, wie stark der Privilegiencharakter der Bildung durch schichtenspezifische Codes oder den "Habitus" von Klassen und Schichten bedingt war. Das und vieles mehr wurde noch in den kritischen Ergebnissen vor allem unter dem Aspekt der Möglichkeit interpretiert, die Reform voranzutreiben. Es blieb wenigen Jüngeren, sozialwissenschaftlich Ausgebildeten, durch die Tradition der geisteswissenschaftlich-philosophischen Schulen nicht schon geprägten Psychologen und Bildungssoziologen überlassen, einiges von der aus dem Ausland rezipierten Forschung in der Bundesrepublik zu adaptieren.

Antipositivismus als Gemeinsamkeit?

Während die nachwachsende Generation von Pädagogen ihr Selbstbewußtsein nicht zuletzt daraus zieht, der Pädagogik endlich einen empirisch arbeitenden Unterbau zu geben, verbleibt die Generation der "kritischen Pädagogen" in merkwürdiger Distanz zum nun expandierenden Forschungsbetrieb. Während die junge Pädagogengeneration demographisches Material statistisch auswertet, sie Leistungstests zu den Qualifikationen von Gesamtschülern entwirft und durchführt, haben es die reformengagierten "kritischen Pädagogen" zunächst mit der Abgrenzung vom positivistisch gekennzeichneten Forschungsbetrieb zu tun. An dieser Stelle gibt es die zentrale methodologisch fixierte und von einem charmanten, nützlichen Mißverständnis geprägte Berührung mit Kritischer Theorie. Die Öffnung der Pädagogik für die Sozialwissenschaft stellt die Pädagogik insgesamt vor die Entwicklungsmöglichkeit, eine empirisch operierende, die soziale Tatsache der Erziehung objektivierende Wissenschaft zu werden. Da aber lauert unmittelbar das Abgleiten ins blinde Sammeln von Daten, in die Methodologie des Positivismus. Die Lehrer hatten indes eingeprägt, daß die Pädagogik es immer mit dem Ganzen der Erziehung zu tun haben müsse. Erziehung dürfe nicht zu einer Veranstaltung von Versuch und Irrtum verkommen, sie dürfe nicht bloß als Material für die "Fliegenbein-zählerei" dienen, die Atomisierung ihrer Fragestellung für eine vermeintlich wertfreie Forschung betreiben. Diese Vorbehalte gegenüber der empirisch verfahrenden Sozialwissenschaft behielten die kritischen Pädagogen weitgehend bei, und sie entdeckten im Antipositivismus der Kritischen Theorie, vor allem in ihrer Ideologiekritik am Positivismus die Referenzpunkte, die es ihnen erlaubten, Erziehungswissenschaftler zu werden und doch Pädagogen zu bleiben und eben nicht Positivisten werden zu müssen.

So ist es keineswegs zufällig, daß die ersten programmatisch gemeinten Arbeiten der neuen Pädagogik, die sich auf die Kritische Theorie berufen, allesamt im Nachschreiben des Positivismusstreits in den Sozialwissenschaften bestehen. Alle haben sie entsprechende Aufsätze geschrieben: Blankertz wie Mollenhauer, Klafki wie Thiersch. Ihre Etikettierung als kritische Erziehungswissenschaftler verdanken sie weniger ideologiekritischen Analysen der Erziehungswirklichkeit als ihrer Parteinahme für Adorno und Habermas im Positivismusstreit. Es fügte sich gut, daß einige wenige, insbesondere konservativ eingestellte Pädagogen Poppers und Alberts Part in den entsprechenden Diskussionsrunden der Zunft spielten. In einer vorzüglichen Arbeit hat Heiner Drerup herausgearbeitet, wie dabei diskutiert wurde. Zur Seite der Position Adornos wie zur Seite des "Kritischen Rationalismus" kann festgestellt werden, daß der pädagogische Diskurs um die 'Positivität' noch um ein beträchtliches Maß diffuser geführt wurde, als schon in den Sozialwissenschaften selbst. Eine intensive Methodologiedebatte mit entsprechenden Folgen für den wissenschaftlichen Betrieb hat es in der Pädagogik nicht gegeben.

Die Diskussion hatte mehr strategische Bedeutung: Der Drang zu neuen Ufern ging einher mit dem Bedürfnis, die Brücken zu den Alten nicht abzureißen. Das Alte, das war die hermeneutisch bestimmte Methodologie geisteswissenschaftlicher Pädagogik, das Neue war deren Fortschreibung zur Ideologiekritik. Das Alte, das war die geisteswissenschaftlich gedachte Emphase einer Einheit von praktischen und theoretischen Fragen, der Gedanke der Wahrheitsfähigkeit normativer Ideen im Medium wissenschaftlicher Reflexion. Eine Modernisierung und Verwissenschaftlichung der Pädagogik sollte es zwar geben, nicht aber den Verzicht auf diese Grundposition. Bei Adorno und Horkheimer, partiell auch bei Habermas konnte man nun lesen, wie eine avancierte Sozialphilosophie, die keine Vorbehalte gegenüber den modernen Sozialwissenschaften zu haben schien, einen ganz und gar ähnlichen Traditionsbestand an Grundannahmen verteidigte. Genau das machte angesichts der Verunsicherung der Pädagogik durch die Sozialwissenschaft Kritische Theorie zu einem attraktiven Bezugspunkt. Die Pädagogik wurde von einem Stück gesellschaftstheoretisch formulierten Zeitgeist erfaßt, der sie zugleich aber doch nur erreichen und partiell überzeugen konnte, weil er sich mit ihren tief verwurzelten Denkweisen vertrug. Klafki wie Blankertz und Mollenhauer hatten bei ihren Lehrern gelernt, die europäische Bildungstradition vom Telos der Erziehung zur Mündigkeit aus zu begreifen, vom Versprechen der Individualbildung auszugehen, vom Gebot der Überschreitung von Privilegienstrukturen, vom Gebot der Gerechtigkeit in schulischer Erziehung. Die Texte von Nohl, Flitner, Spranger und Litt hatten sie immer auch als die Formulierung eines uneingelösten Versprechens verstanden.

Als sich nun mit der Bildungsreform die Chance auftat, der feierlichen Rede gesellschaftliche Veränderungen folgen zu lassen, waren sie zur Mitarbeit an der Reform vorab auch theoretisch disponiert. Die Lektüre der Schriften der Kritischen Theorie hat ihnen nicht unbedingt (wie den damals Studierenden) die Augen für die Kritik geöffnet, sondern den Blick modern auf das gerichtet, was sie schon als Option mitbrachten. In diesem Sinne kann kritisch von einem affirmativen Gebrauch der Kritischen Theorie durch jene kritischen Pädagogen gesprochen werden. Denn sie entdeckten insbesondere in den philosophisch-methodologischen Schriften der Kritischen Theorie im Grunde das, was sie gleichsam schon vorher dachten und wußten. Die Lektüre dieser Texte zwang sie nicht dazu, ganz neu und kritisch zu denken.

Statt Kritik am Identitätsdenken selektive Lektüren

In dem Augenblick, in dem sowohl die Bildungsreform an ihr Ende kommt und auch die großen methodologischen Kontroversen, so ungelöst sie sein mögen, kein Interesse mehr finden, entsteht die Frage, zu welchem Zwecke noch die Erziehungswissenschaft auf Kritische Theorie rekurrieren solle. Zwar fällt es nicht schwer, auf die zeitdiagnostisch gemeinten Analysen von Habermas auch in den 80er Jahren einzugehen, ähnlich wie die Pädagogik der Reformphase sinnfällig zu nutzen wußte, was Habermas zum Beispiel in seinem Büchlein "Zur Wissenschaft und Technik als Ideologie" geschrieben hatte. Die scheinbare Distanz der klassischen Kritischen Theorie zu den nachreformerisch modischen Themen scheint dazu zu führen, der Kritischen Theorie für die Pädagogik insgesamt die Relevanz abzusprechen. So hörte man in den letzten Jahren etwa von Klaus Mollenhauer, das 'Ganze mit der Kritischen Theorie der Erziehungswissenschaft sei wohl auch stark ein Mißverständnis gewesen'. Dagegen hat Herwig Blankertz in seinem letzten großen Buch, der "Geschichte der Pädagogik", der Inspiration durch Kritische Theorie demonstrativ die Treue gehalten, indem er das offene Ende der Geschichte unter die Leitidee der Dialektik der Aufklärung stellte, ohne sie freilich noch ausführen zu wollen. Wenn ich recht sehe, gibt es in der BRD gegenwärtig nur einige wenige Erziehungswissenschaftler, die sich nicht nur erinnern, sondern auch analytisch konstruktiv auf die Kritische Theorie in ihrer klassischen Form beziehen, aber sie werden mehr!

Man könnte deswegen fragen, wie sinnvoll es überhaupt ist, die Wirkung der Kritischen Theorie unter dem Kriterium zu würdigen, die Pädagogik hätte nach der Befruchtung durch die Texte von Adorno und Horkheimer sich zur Kritischen Theorie der Pädagogik weiterentwickeln können und müssen.

Ich halte an diesem Maßstab fest, und zwar weil ich bestreite (was manche beweisen wollen, um es dann in Dissertationen auszubreiten), daß implizit Horkheimer und Adorno eine eigenständige Pädagogik geschrieben hätten, die durch geschickte Kompilation vollendet werden könne. Das halte ich für abwegig. Ich operiere dennoch mit einem hohen Maßstab möglicher Rezeption, weil es mir nicht um leidenschaftslose Wissenschaftsforschung geht, sondern um Ideologiekritik. Ich hoffe, das paßt zum Geist dieses Hauses.

In der Annäherung und Distanzierung von Kritischer Theorie steckt nämlich selbst ein Stück zu entdeckender Unwahrheit zeitgenössischer Pädagogik. Es reicht nicht aus, darauf hinzuweisen, daß die partielle Rezeption der Kritischen Theorie in der Pädagogik ihre Funktion erfüllt hat. Daß die Berührung mit Kritischer Theorie so wenig Folgen für die Pädagogik hatte, deutet vor allem auf die Unfähigkeit der kritischen Pädagogen hin, ihr altes Paradigma einer praxisbezogenen, praxisauslegenden und praxisentwerfenden Wissenschaft in Frage zu stellen. Der immanente Durchgang durch die radikale Kritik in den Schriften von Horkheimer und Adorno hätte das Identitätsdenken der theoretischen Pädagogen, ihre Identifikation mit der Praxis "noch in ihrer verworfensten Gestalt" verändern müssen. Genau darauf wollte und konnte man sich nicht einlassen.

Um das näher zu begründen, soll ein wenig dargestellt werden, was überhaupt vom Corpus Kritischer Theorie zur Kenntnis genommen wurde.

Von den zentralen Texten der Kritischen Theorie werden nicht einmal alle deutlich wahrgenommen. Herwig Blankertz etwa rekurrierte zwar immer wieder auf die Horkheimersche Unterscheidung von traditioneller und kritischer Theorie, das Kritische der daraus abgeleiteten Pädagogik stand aber deutlicher auf dem Boden des Kantschen Kritizismus, insbesondere seiner Ethik, als auf dem radikaler Gesellschaftstheorie und Kritik. So verwundert nicht, daß eine analoge Rekonstruktion traditioneller Theorie der Pädagogik nicht geschrieben worden ist.

Die "Dialektik der Aufklärung" findet sich bei Blankertz vom Ende der sechziger Jahre an immer wieder als das positiv in Anspruch genommene geschichtsphilosophische Denkmodell für die Pädagogik. Blankertz neigt aber eher zu der Leseart der Dialektik der Aufklärung, nach der die Aufklärung "dazu tendiere", sie "in der Gefahr stehe" u.a.m., "ihr eigenes Motiv zu verlieren". Der Umschlag der mit der wissenschaftlich-technischen Weltbeherrschung ermöglichten Emanzipation in Herrschaft galt ihm als historischer Sündenfall und als zukünftige Möglichkeit, nicht als inhärentes Merkmal der Aufklärung selbst. Die radikale, von anderen als schwarz gedeutete Dialektik hat er in dem Buch von Adorno und Horkheimer nicht gelesen.

Die "Kritik der instrumentellen Vernunft" ist gänzlich unrezipiert geblieben. Insbesondere im Bereich der Didaktik hätte es viele Möglichkeiten gegeben, sie auf einen einheimischen Begriff anzuwenden. In seinen didaktischen Schriften argumentierte Blankertz zwar gegen den Technizismus mancher Modelle, gegen die Gefahr der "bewußtseinsumgehenden Manipulation" durch didaktisches Handeln. Dem zweckrationalen Modell von Unterricht, der Tendenz, Bildung zu verwalten und zu rationalisieren, galt aber nicht seine kritisch-empirisch gerichtete Aufmerksamkeit.

An der "negativen Dialektik" Adornos interessierte Blankertz vor allem das Kant-Kapitel. Dort las er und rezipierte er insbesondere Adornos Ehrenrettung des kategorischen Imperativs. Blankertz assimilierte gleichsam allein die positive, historisch-dialektisch abgeleitete Rezeption Kants durch Adorno, weil das mit seinem eigenen Kant-Verständnis zu kombinieren war, das davon Abweichende kam aber nicht zur Darstellung. Blankertz wie Adorno schien der kategorische Imperativ als die historisch aufgehobene Idee der Gleichheit, Brüderlichkeit und Freiheit, als Versprechen und Möglichkeit einer Gesellschaft gegen ihre empirischen Reproduktionsbedingungen.

Was hinsichtlich der Grundschriften der Kritischen Theorie vielleicht aus der Perspektive eines Pädagogen verständlich sein mag, ist schwerer bezüglich der genuinen pädagogischen Schriften zu verstehen und zu erklären.

Innerhalb der pädagogischen Diskussion sind allgemein vor allem die Texte/Gesprächstexte aus dem Sammelband "Erziehung zur Mündigkeit" populär geworden. Manche dieser Texte haben die Karriere gemacht, sogar im Schulunterricht Verwendung zu finden. Das hängt wohl mit dem Umstand zusammen, daß sich Adorno hier vermeintlich pädagogisch verständlich machte, ja er zuweilen praktische Vorschläge riskierte, wenngleich es keine waren, die bei näherem Hinsehen sich als konkrete Vorschläge ausweisen ließen.

Die "Theorie der Halbbildung" taucht immer mal wieder als Literaturhinweis auf, sie wird bei Blankertz sehr häufig bemüht. Adorno wird mit einigen wenigen Topoi der Schrift zitiert, insbesondere mit dem, daß Bildung die Selbstverpflichtung bedeutet, eine "Gesellschaft ohne Status und Übervorteilung" herbeizuführen. Die Theorie der Halbbildung war für Blankertz die brilliante, "unüberboten formulierte" Bestätigung der eigenen Humboldt-Lektüre. Bildungssoziologische Untersuchungen zur Wirkung von Schule wurden aus ihr nicht abgeleitet.

Die "Tabus über dem Lehrberuf" wurden allgemein von der Pädagogik ignoriert. In Sammelwerken taucht diese Arbeit zwar als Beispiel für eine extreme Form der Ideologiekritik auf, sie wird damit gleichzeitig verdächtigt, unüberlegt und übertrieben formuliert zu sein. Man liest Adorno hier nicht als Anstoß für eigene theoretische und empirische Analysen. Der Titel des Aufsatzes wird auf diese Art unfreiwillig gerechtfertigt.

Schließlich die musikpädagogischen Schriften Adornos. Sie sind den Pädagogen weitgehend unbekannt, allein bei diesem und jenem Insider gelten sie etwas, sie fungieren als ein Geheimtip, den man möglichst geheimhält?

Die Pädagogisierung von Habermas

Allein die Texte von Jürgen Habermas finden eine breite Aufnahme. Interessant ist näher zu schauen, um welche Texte es sich hier handelt: zum einen besteht der positive Hinweis auf Habermas in der Zitation seiner zeitdiagnostisch gemeinten Stichworte und Formeln. Habermas wie kein anderer moderner Denker ist für viele Pädagogen als Deuter der sozialen geistigen Atmosphäre wichtig geworden. Was früher "Technik und Wissenschaft als Ideologie" leistete, leistet heute unschwer die "neue Unübersichtlichkeit", die "Kolonialisierung der Lebenswelt" u.s.f. So liest man denn auch in relativ großen Zirkeln, was Habermas vorgelesen hat: Während L. Kohlberg für Habermas wichtig wurde, weil dieser entwicklungspsychologisch wichtige Bausteine seiner Theorie kommunikativen Handelns legitimatorisch absicherte, wurde Kohlberg relativ schnell bei den Pädagogen als praktisches Konzept der Moralerziehung rezipiert. Gegen die wertkonservativ gemeinte Alt-Neu-Propagierung des 'Mutes zur Erziehung' sollte, so die Hoffnung in Nordrhein-Westfalen, die just-community-education Kohlbergs dienen. Diese Verschiebung von Habermas'scher Grundlagenforschung hin zur praktischen Pädagogik ist symptomatisch für zwei weitere, die "kritische Pädagogik" prägende Einflüsse von Jürgen Habermas. Es lohnt sich, ein wenig näher zu beleuchten, wie die Pädagogen Habermas' Konzept der Diskurse und Erkenntnisinteressen genutzt haben.

Diskurse wurden konsequent für praktische Pädagogik und pädagogische Forschung zitiert. Auf den unterschiedlichsten Ebenen didaktischer Reflexion, von der Konzeptualisierung einer kommunikativen Didaktik bis hin zu konkreten Unterrichtsmethoden, findet man immer wieder den Vorschlag, das Gespräch über Unterrichtsinhalte, die Auseinandersetzung über unterschiedliche Standpunkte, ja auch die Selbstthematisierung von Problemen einer Lerngruppe als Diskurs zu begreifen und entsprechend auszulegen. Das Modell des herrschaftsfreien Dialoges wird in diesen Schriften als praktische Pädagogik mißverstanden. Selten kommt ein Gedanke darüber auf, daß eine sozialwissenschaftlich aufgeklärte Vorstellung von der Realität und Funktion der Schule in deutlichster Spannung zu dem steht, was Habermas einschränkend als Bedingung einer idealen Sprechsituation dargestellt hat. Ob praktisch, theoretisch oder therapeutisch gerichtet, das Reden im Unterricht erhält mit dem Rekurs auf Habermas höhere Weihen. (Ob dennoch das Modell des Diskurses ursächlich dafür verantwortlich gemacht werden kann, daß Unterrichten insgesamt offener geworden ist, sei einmal dahingestellt.)

Erziehungswissenschaftler führen Diskurse, wenn sie in Handlungsforschungsprojekten agieren. Der Diskurs wird hier zum Wahrheitsfindungsinstrument im Prozeß "dialogischer Validierung" von Forschern und Erforschten, von Lehrern und Handlungsforschern. Handlungsforscher wollen ihre Adressaten nicht als Untersuchungsobjekte mißbrauchen, sie streben eine Subjekt-Subjekt-Relation an, und als zentrales methodologisches Regulativ füngiert entsprechend der Diskurs. Auch hier wird selten problematisierend registriert, daß die sozialen Bedingungen einer gerade nicht von Handlungsdruck entlasteten Reformpraxis der Handlungsforscher sowie die eklatanten Kompetenzunterschiede zwischen Forschern und Erforschten im Widerspruch stehen zu den Bedingungen diskursiver Verständigung. Der Diskurs wird zur Rechtfertigungsinstanz für eine Pädagogik, die mit ihren Partnern vieles vorhat und an objektivierender Forschung dafür weniger interessiert ist.

Ein zweites Beispiel für die Nutzung der Habermas'schen Begrifflichkeit macht vielleicht noch eindringlicher auf das merkwürdige, weil unmitelbare praktisch-werden Kritischer Theorie aufmerksam. Im Rahmen einer Strategie mittelfristiger Curriculumentwicklung wurden in Münster "Strukturgitter" fachbezogener Art entwickelt. Mit ihnen sollte sichergestellt werden, daß Curriculumentwicklung sich nicht in endloser Grundlagenforschung über Qualifikationen und Kompetenzen erschöpfte, auf der anderen Seite sollte mit ihnen verhindert werden, daß Curriculumentwicklung auf eine verkürzte, pragmatizistische und technizistische Modernisierung der Lehrpläne beschränkt bliebe. Das Strukturgitter wurde als Instrument entworfen, mit dem unterschiedliche fachdidaktische Inhalte nach den neuen Kriterien wissenschaftspropädeutischer Didaktik ausgelegt werden konnten. Der Prototyp dieses Strukturgitters enthielt eine gleichsam lupenreine Adaption zentraler Begriffe der Habermas'schen Theorie: Zum einen sollte es darum gehen, die unterschiedlichen Zugriffsweisen auf fachliche Inhalte unterrichtsmethodisch und intentional zu sichern. Dazu schien es sinnvoll zu sein, die drei Erkenntnisinteressen Habermas', das theoretische, das praktische und das emanzipative als Interpretationsmöglichkeit von Unterrichtsinhalten zu entfalten. Strukturgitter enthielten sodann in der zweiten, das Gitter erst abschließenden Dimension jeweils wiederum drei Kategorien, in denen die zentralen Medien eine Wissenschaft, die bei jedem Einzelgegenstand eines Unterrichtsfaches zu beachten sind, aufgeführt waren. Für den Politikunterricht bedeutete dies die Möglichkeit, die Habermas'schen Medien der Vergesellschaftung, also Arbeit, Sprache und Herrschaft in die Spalte dieses Gitters einzutragen.

Der Hinweis auf die unmittelbare Instrumentalisierung Habermas'scher Grundbegriffe für fachdidaktische Curriculumentwicklung wäre an dieser Stelle mißverständlich, würde nicht hinzugefügt, daß für die Konstruktion eines solchen Gitters ein beträchtlicher auch innerpädagogischer Begründungsaufwand geleistet werden mußte. Das pädagogische Motiv der Wissenschaftspropädeutik findet hier seine Berücksichtigung, indem anders als im normalen Unterricht das Strukturgitter zur Verpflichtung führt, auch jene Intentionalitäten und normativen Überzeugungen zum Thema zu machen, die sich nicht mit der Option eines Lehrers oder Lehrwerks unmittelbar vertragen. Die Spiegelung aller Unterrichtsgegenstände durch die zentralen Medien eines Faches sollte gewährleisten, daß im Unterricht jeweils Lernprozesse initiiert werden konnten, die das Verhältnis des jeweils spezialisierten Gegenstandes zum Ganzen zu thematisieren erlaubten.

Schließlich steckte als drittes eine bildungstheoretische Grundüberzeugung hinter dem Konstruktionsprinzip der Gitter: Bildung, verstanden als die Konfrontation eines sich selbst ermächtigenden Subjekts mit der objektiven Welt, setzt voraus, daß der "Lernende begründeten Widerstand einsetzen kann gegen die ihm zugemutete Intentionalität" (Blankertz). Das sollte durch die Mehrdimensionalität eines jeden Unterrichtsgegenstandes sichergestellt werden. So betrachtet handelte es sich hier um ein recht prätentiöses didaktisches Entwicklungsprogramm. Daß es scheiterte, lag nicht zuletzt an der widersprüchlichen Form der Didaktisierung von wissenschaftstheoretischen und gesellschaftstheoretischen Grundbegriffen. Einerseits postulierte das Strukturgitter eine pädagogisch/didaktisch nicht elementarisierte Thematisierung der Wirklichkeit. Auf diese Art und Weise war aber nicht zu entscheiden, wie man die Auslegung eines Unterrichtsinhalts niveaumäßig zu gradieren hatte, ob als Grundkurs einer gymnasialen Klasse 11 oder als universitäres Oberseminar. Auf der anderen Seite zwang jeder Unterricht zu einer massiven Reduktion des in einem Strukturgitter entfalteten Unterrichtsgegenstandes und mit der so zugespitzten Didaktisierung auch zu einer Heraustreibung substantieller Kritik.

Im Bewußtsein der Konstrukteure ging es darum, das didaktische Entscheidungshandeln von Lehrern mit Hilfe von Grundbegriffen der Kritischen Theorie emanzipativ zu wenden. Man las und nutzte Kritische Theorie, als wäre sie schon Didaktik.

"Strukturgitter"

Medien der Vergesellschaftung Definition technisch praktisch emanzipatorisch
Kategorien "wertfrei"
zweck-
rational
"ideologisch" "kritisch"
Arbeit Problema-
tisierung
Leistung Freizeit Muße
Intention Produktion Konsum Bedürfnis-
befriedigung
Selektion Verzicht Sucht Lust
Sprache Problema-
tisierung
Sprach-
regelung
Jargon Mündigkeit
Intention Information Meinung verbindliche
Diskussion
Selektion Aufmerk-
samkeits-
regeln
Propaganda freier
Dialog
Herrschaft Problema-
tisierung
Umwelt-
druck
Machtver-
hältnisse
Emanzipation
Intention Selbst-
erhaltung
Anpassung Reflexion
Selektion Sachent-
scheidung
Wahl Kritik als
Handeln

Thoma 1971

In Hessen geschah, wenn ich recht sehe, ähnliches, wenn auch nicht mit einem entsprechenden methodologischen Aufwand. Die Aufklärung über die gesellschaftlichen Herrschaftszusammenhänge, wie sie von der Kritischen Theorie betrieben worden war, wurde direkt umgemünzt in politischen Unterricht bzw., wie die Gegner dann behaupteten, in eine aufrüherische Konfliktpädagogik. Während ihrem Selbstverständnis nach Kritische Theorie "bloß" untersuchte, was die Gesellschaft (negativ) in ihrem Innersten zusammenhält, erblickten so manche Pädagogen in der unterrichtlichen Thematisierung der Kritik ein Medium mehr als nur pädagogischer Aufklärung und ihre Gegner entsprechend den Versuch der Gesellschaftsveränderung. Die Pädagogik ging nicht kritisch zu Protest, sie trug die Kritik in die Schulen.

Im Medium einer empirischen Untersuchung wäre es interessant zu überprüfen, was von dem so Intendierten wirklich in der Emanzipation von Schülern und Lehrern aufgegangen ist. Auch das negative Wirkungsmuster wäre zu studieren, nämlich ob ein kritisch aufklärerischer Unterricht die Schüler nicht zu Urteilsfähigkeit erzogen, sondern sie indoktriniert hat. Ich halte es nicht für zufällig, daß keiner sich einer entsprechenden Mühe unterzogen hat. Die Protagonisten der Gesellschaftskritik dürften ähnlich wie ihre Gegner ahnen, daß die Wirkungen von Unterricht häufig in anderem bestehen, als in den intentional angestrebten Bildungserlebnissen, Einsichten, Einstellungen. (Von Bielefelder Kollegen weiß ich über schmerzhafte Erfahrungen mit Unterrichtsreihen zum Thema Faschismus/Antifaschismus in Gesamtschulen. Die Schüler reagieren auf diese Form von Aufklärung zuweilen mit der bedrückenden Verweigerung antifaschistischer Gesinnung. Keineswegs nur, um ihre Lehrer zu provozieren, zeigen sie zuweilen nach solchem Unterricht Empfänglichkeit für nazistische Symbole.)

Auch zur häufig imaginierten Wirkung der kritischen Gesellschaftstheorie auf das Lehrerbewußtsein ergeben sich in den Schulen unangenehme Widersprüche. Auf der einen Seite steht bei vielen gar nicht mehr so jungen Junglehrern ein nostalgisches Gefühl, an jener Bewegung der 68er teilgenommen zu haben, auf der anderen Seite stehen die empirischen Beispiele für die in die "Konstanzer Wanne"-Gefallenen: Bekanntlich spricht vieles dafür, daß auch Lehrer, die mit kritischen gesellschaftstheoretischen und pädagogischen Orientierungen in Schulen kommen, durch den Institutionalismus der Schule und seine Initiationsriten sehr schnell auf das Realitätsprinzip pädagogisch unhaltbarer Umstände verpflichtet werden.

Ohne Frage, keineswegs nur an der Oberfläche, hat sich in den letzten zwanzig Jahren in den Lehrerkollegien viel verändert. Bedeutend schwächer erleben Schüler heute die eingebildete Feierlichkeit oder den Zynismus jener Lehrerkreise, die etwa als Kriegsheimkehrer in den 'gebildeten Anstalten' keine pädagogische Heimat gefunden haben. Dagegen ist Unterricht heute wohl tatsächlich weniger rigide, sozial dichter und der Rollenspielraum von Lehrern und Schülern offener. Gleichwohl gibt es dazu auch eine Schattenseite. Ich vermute, daß jenseits einer positiv zu interpretierenden Entkrampfung von Schule zugleich auch das Schwinden der orientierenden Kraft der Bildungsidee zu registrieren ist. Sollte früher in Schulen etwas Wichtiges stattfinden, Bildung, ohne daß es die meisten Schüler gemerkt hätten, entschlägt sich die moderne Schule noch der Illusion, in ihr ginge es um die bildende Auseinandersetzung von Schülern mit Sachverhalten.

Wirkung der Kritik und 'Wende'

Wenn wir dagegen dazu neigen, der kritischen Gesellschaftstheorie eine Wirkung auf die pädagogische Praxis und Theorie zuzubilligen, dann müssen wir die empirisch faßbare von der imaginierten Wirkung streng unterscheiden. Schon die Zitation des "emanzipativen Erkenntnisinteresses" in einem Münsteraner Strukturgitter brachte zunächst provinziell und dann bundesweit die 'Gegenrevolution bzw. Restauration' auf den Plan: Wie wurden wir übel beschimpft, hinter dem Schleier fachdidaktischer Strukturgitter die Kulturrevolution in die Schulen zu tragen! Bald gingen die Vor- und Nachdenker der Reaktion dazu über, Blankertz und Klafki, Mollenhauer und den anderen vorzuwerfen, ihre emanzipative Pädagogik würde die Kinder von den Eltern trennen, Traditionen zerbrechen lassen, Sinnkrisen produzieren, das Anspruchsdenken pflegen u.s.f. Obwohl die Verdächtigungen voller Verneinungen, Projektionen, Verleugnungen bezüglich der gesellschaftlichen Realität steckten, zeigte doch der mit ihnen ausgesprochene Ideologievorwurf seine Wirkung. In Nordrhein-Westfalen, nicht ganz unähnlich zur Situation in Hessen, bewiesen die Sozialdemokraten, obwohl an der Macht, unmittelbar Inferioritätsgefühle, weil sie als Ideologen charakterisiert wurden. So wurde uns in Münster nahegelegt, doch auf den expliziten Bezug zur Frankfurter Schule zu verzichten, weil die Kollegschule nur als Kollegschule, nicht als Frankfurter Schule durchgesetzt werden könnte!

Die öffentliche Wirkung der Kritischen Theorie resultiert nicht aus den Folgen ihrer "Verwirklichung", sondern aus der imaginierten und zur Denunziation genutzten "Gefahr". Als Parteigänger einer emanzipativ gerichteten Pädagogik waren und sind wir verführt, das Aufschreien unserer politischen Gegner schon als Relevanzbeweis unserer Sache mißzuverstehen. Phantomdebatten über bestimmte gesellschaftliche Veränderungen sind eine deutsche Eigenart, die Phantome werden selten durch Rhetorik Realität (Heute erleben wir das mit ähnlichen Vorzeichen bei der linken Bekämpfung der von den Konservativen ins Leben gerufenen Wende zum Neokonservativismus, oder merkwürdig langweiliger noch mit der gar nicht so neuen These von der Kompensationsfunktion der Geisteswissenschaften). An den Reaktionsmustern auf die Kritik an einer kritischen Fundierung der Pädagogik läßt sich deswegen eher die negative Wirkung, denn eine positive ablesen: In dem Augenblick nämlich, wo die Filbingers und Hahns, die Brezinkas und Rohrmosers etc. der kritischen Pädagogik und der Kritischen Theorie ihre gesellschaftskritische Gegnerschaft nachwiesen, waren viele der Vertreter einer emanzipativen Sozialtheorie und Pädagogik darum bemüht, das Gegenteil zu beweisen. Statt sich wohlverstanden zu fühlen, weil der Gegner die angedeutete Kritik so ernst nahm, bemühte man sich darum, ihr jeden Stachel zu nehmen.

Heute sind manche nicht mehr mit diesen Auseinandersetzungen, sondern schon mit ihrer Geschichtsschreibung beschäftigt. In dem Buch von Helmut Fend zum Neokonservatismus in der Pädagogik wird etwa so getan, als wäre die linke Frankfurter Unbedingtheit einer Erziehung zur Mündigkeit und Herrschaftskritik der eigentliche Produzent des neokonservativen Denkens, und zwar nicht in einem wissenschaftssoziologischen oder -historischen Sinne, sondern in einem politisch-moralischen Sinne. Hätten die Emanzipationspädagogen ihre Kritik an der Obsolenz der Herrschaft, ihre Kritik an der Begabungsideologie nicht so radikal formuliert und wären sie nicht entsprechend streng mit der Gesellschaft ins Gericht gegangen, dann wären die Statthalter des Bestehenden nicht zum Gegenangriff übergegangen. Nach rückwärts gewandt wirkt das wie die Empfehlung zur theoretischen Maßhaltepolitik; postuliert wird die "Entideologisierung" der politischen Theorie und damit auch der pädagogischen Theorie im Sinne des Verzichts auf Utopien und Wahrheiten. Die Konservativen sollen nicht gereizt werden. Der schlafende Riese muß besungen werden, damit er nicht wach und wütend wird, denn dann zeigt er, daß er stärker ist.

Nimmt man nun diese Aufarbeitung der Vergangenheit gegen ihre Intention positiv ernst, so wird deutlich, wo dann doch subkutan eine gewichtige Wirkung der Kritischen Theorie vermittelt über das geistig-politische Klima der Bundesrepublik und darüber mittelbar für die Pädagogik liegt.

Halbe Zuwendung zur Kritik

Den Lehrern jener kritischen Pädagogen war der aristotelische Pragmatismus einer elitären Ethik des Politischen fremd, wie er heute wieder von den Ritterschülern promoviert wird. In der Theorie, nicht schon in der Praxis waren sie anthropologische Optimisten. Ihr pädagogischer Idealismus enthielt mehr implizit als explizit eine pädagogische Ethik, die eine antielitäre, antipragmatisch-affirmative Kritik an der Funktionalisierung der Erziehung für die gesellschaftliche Reproduktion zuließ, ja beim Wort genommen nahelegte. Da diese Pädagogen aber um der "Eigenständigkeit der Erziehung willen" zugleich dem politischen Geschäft gegenüber voller Reserven blieben, geriet ihr emphatischer Ansatz so wenig in praktischen Widerspruch zur interessenbestimmten Gesellschaft, die sich jenseits aller bildungstheoretischen Ermahnungen gut auf den Privilegiencharakter der 'Bildung', das sozialisierende der Vergesellschaftungsrituale der 'Schulkultur' eingestellt hatte. Die Politisierung der Erziehung war ihnen ein Groll, ins Unerträgliche gesteigert in den Jahren von 33 bis 45. Vor 33 schon rettete Nohl jenseits des Politischen (und Intellektuellen) das "pädagogische Verhältnis" in einer idealgestalteten Idylle. 48 fühlt er sich bestärkt und veröffentlicht unrevidiert sein Konzept. Der Nazismus hatte keines seiner Ideale falsifiziert, sie vielmehr bestärkt!

Mit den sechziger Jahren meldet sich bei den Schülern dieser Lehrer der Verdacht an, daß hier nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sei. Abhängigkeit von den Lehrern verhindert zunächst kritische Nachfragen, diese werden den Schülern aber spätestens von den eigenen Schülern gestellt. Es bricht eine Bereitschaft zur Politisierung der eigenen Wissenschaft auf, die im Gewühl der Bildungsreform sich darum bemüht, ernst zu machen mit der Verpflichtung auf Aufklärung, auch auf Selbstaufklärung. Auf der Suche nach 'Über-Ich-Theorien', die das eigene Engagement abstützen, hilft die Kritische Theorie der Gesellschaft als Prototyp einer aufklärerischen Sozialphilosophie modernen Zuschnitts in nicht zu unterschätzender Weise weiter. In den fraglichen Jahren ist die Kritische Theorie der Dreh- und Angelpunkt eines in der aufklärerischen Tradition Kants und Hegels stehenden sozialphilosophischen Denkens. Sozialphilosophie selbst ist dabei, das zeigen auch die Gegner, das Reflexionsmedium, mit dem gesellschaftliche Veränderungen begründet oder bekämpft werden sollen. Während aber für die kritische Sozialphilosophie auch die Fragestellungen von Marx und Freud wesentlich sind, spielen diese beiden Bezugspunkte in der Ausarbeitung einer kritischen Pädagogik für die Bildungsreform nur eine äußerst marginale Rolle. Auch wenn die "kritischen Pädagogen" nicht mehr materialistischen Theorien und psychoanalytischen mit Ressentiments gegenüberstehen, so haben sie von den Lehrern doch die abgrenzungsträchtigen Grundbegriffe übernommen. Der Bildungsidealismus wendet sich auch bei den kritischen Pädagogen gegen den als vulgär empfundenen "kruden Ökonomismus", genauso gegen die Problematisierung von Unterricht und Schule unter ihrer keineswegs nur institutionell bedingten triebstrukturellen Verformung. Mit dem Ende der Bildungsreform ist nicht der Zeitpunkt gekommen, wo entsprechende kritische Analysen nachgeholt werden.

Statt dessen geht mit diesen Jahre eine zunächst dezent, nun relativ offene Renaissance geisteswissenschaftlicher Pädagogik einher. Man rettet deren Protagonisten aus der Abstellkammer, in die sie die sozialwissenschaftlich gewendeten "kritischen Pädagogen" zunächst stellen wollten. Statt dessen werden sie zu Klassikern promoviert und entsprechend mit Gesamtausgaben edierend gepflegt. Die Wunde der mißlingenden Bildungsreform wird auch auf diese Art und Weise gepflegt. Das Programm einer gesellschaftstheoretisch eingeholten Selbstkritik der Pädagogik bleibt uneingelöst; das gilt auch, obwohl unter Bildungsreformern nichts so verbreitet zu sein scheint, wie das larmoyante Klagen über die eigenen politischen Niederlagen. In Aufklärung mündet das nur selten.

"Nur am Widerspruch zwischen dem, was etwas zu sein beansprucht, und dem, was es wirklich ist, läßt sich das Wesen einer Sache erkennen" schrieb Adorno in der "negativen Dialektik".Spätestens nach der Entlassung aus der politischen Verantwortung für die Reform wäre es möglich gewesen, die nie verleugneten, sondern immer emphatisch hochgehaltenen Versprechungen der europäischen Bildungstradition mit ihrer Wirklichkeit zu vergleichen; nicht im Sinne der banalen Feststellung einer Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, sondern in dem Sinne der Aufklärung über die Gründe für die Differenz und die reibungslosen Umstände ihrer Reproduktion. In den Schriften der Kritischen Theorie wäre man zu allen einheimischen Begriffen der Pädagogik zumindest beim Aufbau einer entsprechenden Fragestellung fündig geworden. Statt dessen überall Fluchtversuche: die einen gehen schatzsuchend in die Geschichte, die anderen in den Spaß postmoderner Bekämpfung der Langeweile, wieder andere pflegen pädagogisch ihre gesellschaftliche Verstörung (gegen die Raketen ganzheitliche Friedenserziehung, gegen die umkippenden Gewässer ökologische Gesamtkonzepte).

Nicht erst mit der Bildungsreform haben die Pädagogen gemerkt, daß ihre Hoffnung auf die Herstellung eines Theorie-Praxis-Kontinuums getrogen hat. Angetreten waren sie nicht zuletzt auch mit der Ideologiekritik an jenem Theorie-Praxis-Verständnis der Lehrer, das es erlaubte, sich mit der reinen Konstruktion des theoretischen Gelingens der Pädagogik über die Schmuddeligkeit ihres empirischen Mißlingens hinwegzutrösten. Obwohl genug Anlaß gegeben war, jenes Programm Adornos auf die Pädagogik anzuwenden, ist dies bisher vermieden worden.

Positive oder negative Pädagogik?

Herwig Blankertz hat, als er davon hörte, ich wolle eine "Negative Pädagogik" schreiben, etwa gesagt: Das kann nicht gut gehen, Pädagogik ist als Theorie per definitionem auf die Auslegung der Praxis bezogen, sie ist nur als positive Pädagogik denkbar. An dieser Stelle stolperte er nicht über Adornos Kritik am Identitätszwang pädagogischen Denkens und Handelns, der als solcher die Einsicht in die schlechte Versöhnung zwischen pädagogischen Ansprüchen und der Wirklichkeit der Sozialisation überspringen will. Mit der Fixierung auf eine positive Theorie für eine Praxis, der das gesellschaftliche Gelingen verunmöglicht wird, zeigte Herwig Blaukertz, aber nicht nur er, die qualitative Differenz zwischen Kritischer Theorie und traditioneller Pädagogik auf. Diese ist darauf gerichtet, theoretische Reflexion immer in den Dienst der ihr korrespondierenden Praxis zu stellen, sie ist damit auf Praxisrelevanz (welcher Gestalt auch immer) selbstverpflichtet. Die Pädagogik akzeptiert dabei ein außerordentlich breites Spektrum positiver Bezüge: pädagogische Handlungsmodelle zählen dazu, eine modellartig theoretisch entwickelte Praxis des Gelingens u.s.f. In einem solchen Konzert von pädagogischer Theorie ist kein Platz für die Kritik am Identitätsdenken. Die Antipädagogik wurde von der traditionellen Pädagogik bekämpft, wo sie die Positivität der pädagogischen Grundbegriffe bezweifelte. Integrationsfähig würde aber sogar die Antipädagogik in dem Augenblick, in dem sie sich als positives Konzept der "Intergenerationsbeziehung" entpuppte. Innerhalb der pädagogischen Wissenschaft kann der auf Akzeptanz rechnen, der in klassisch-zeitloser Selbstgenügsamkeit - allen Widrigkeiten der Wirklichkeit zum Trotz - darüber nachdenkt, was in der historischen Vergegenwärtigung klassischer Texte als Grundbestand pädagogischer Begriffe festgehalten werden kann. Er kann deswegen mit Akzeptanz rechnen, weil eine solche Anstrengung auf die Formulierung positiver Begriffe hin ausgerichtet ist. Wer aber die Möglichkeit solcher positiver Begrifflichkeit in der Pädagogik theoretisch problematisiert, muß auf ein weit verbreitetes Unverständnis gefaßt sein. In der bornierten Form äußert sich das in der Rückfrage: Herr X, wo bleibt denn das Positive/Konstruktive? In der theoretisch gewitzteren konkretisiert sich das in der Reflexion auf die faktische Kontinuität von Theorie und Praxis überall dort, wo die Analyse ihrer Diskontinuität ja nicht ausschließt, daß Reformen und Verbesserungen notwendig und möglich bleiben. Der Ruf nach solchen praktischen Folgerungen aus der erst einmal hypothetisch akzeptierten Kritik wird viel zu schnell laut, als daß man glauben dürfte, die Kritik wäre ernst genommen.

Am Anfang habe ich darauf hingewiesen, daß insbesondere der Topos der Dialektik der Aufklärung bei Pädagogen außerordentliche Konjunktur hat. Zwar besteht nach wie vor eine große Bereitschaft von Pädagogen, das Verhältnis von Pädagogik und Gesellschaft kritisch zu vergegenwärtigen. Solange aber die Kritik dann doch fein scheidet zwischen der Gesellschaft, der man sogar Fatalität zubilligt und der Pädagogik, die sich darauf mit ihrer positiven Begrifflichkeit beziehen kann, muß auch die Kritik der Pädagogen an der Gesellschaft relativ folgenlos bleiben. Schlimmer noch: solange noch kritische Erziehungswissenschaft imaginiert, man könne gleichzeitig die Gesellschaft kritisieren und die Pädagogik positiv ausgestalten, als wäre sie nicht Teil der Gesellschaft, darf man sich nicht wundern, daß der Protest, zu dem die pädagogische Wirklichkeit Anlaß gibt, von denen genutzt wird, die sich um die Versprechungen und Verpflichtung der positiven Begriffe der Pädagogik traditionell wenig kümmern. Die Distanz der Pädagogik zur wissenschaftlich begründeten Kritik am Ungenügen ihrer eigenen Praxis (auch der reformierten) ist der Grund dafür, warum heute mit rechtspopulistisch fatalem Erfolg die Wertkonservativen in ihren Kampagnen die Unzufriedenheit der Menschen mit pädagogischen Institutionen für sich nutzen. Die wenigen übriggebliebenen Reformer von damals kämpfen für den mißratenen Forschritt, indem sie diesen gegenüber den angreifenden Deformem verteidigen. Das wäre solange ein ehrenwertes Geschäft, wie darüber nicht die Entfaltung einer kritischen Theorie der Pädagogik auf der Strecke bliebe. Das Defizit verweist auf den eminenten Bedarf und damit die Aktualität der Kritischen Theorie, zugleich zeigt das resignationsgeladene Zitat der Dialektik der Aufklärung, welch ungünstige Zeiten für Theorie bestehen, die die eigene Enttäuschung über die pädagogische Welt nicht nur feststellt, sondern auch aufklärt.

Wer die Wirkung der Kritischen Theorie auf die Pädagogik untersuchen will, steht vor der Alternative, dem herrschenden Modismus der Theorie-Politik und Theorie-Produktion ein wissenschaftssoziologisches Stückchen hinzuzufügen, oder aber von der Sache auszugehen, um die es Kritischer Theorie einmal ging. Im Sinne der Moden hat die Kritische Theorie innerhalb der Pädagogik sicherlich ihre Zeit hinter sich, im Sinne der Aufgabe aber wird sie ihre Wirkung erst noch entfalten!

* Vortrag, gehalten am 10. Mai 1988 im Institut für Sozialforschung, Frankfurt

Literatur (eine Auswahl)

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STEIN, G. (Hrsg.): Kritische Pädagogik - Position und Kontroversen (darin Texte von Blankertz, Mollenhauer, Klafki, Schaller, Gamm et al.), Hamburg 1979

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Zur Kohlberg-Diskussion, in: Arbeitsbericht zur Curriculumentwicklung, Schul- und Unterrichtsforschung des Landesinstituts für Schule und Weiterbildung, Soest 1985

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