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Heft 32: Region - Eigensinn sozialer Räume

1989 | Inhalt | Editorial | Leseproben: 1 & 2

Titelseite Heft 32
  • September 1989
  • 98 Seiten
  • EUR 7,00 / SFr 13,10
  • ISBN 3-88534-050-X

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Die Mitglieder der Redaktion kommen aus "allen deutschen Landen". Einige sind im Süden aufgewachsen und leben jetzt im Norden, andere zog es aus dem Norden in den Süden. Daß hinter der "Region" mehr steht als der Unterschied zwischen Stadt und Land, daß Region mehr ist als eine stoffliche Hülse für Kapitalakkumulation oder individuelle Reproduktion, daß Regionen eben eigensinnig sind, dieser Tatsache wurden wir uns zunehmend mehr bewußt, je intensiver wir uns mit der Dialektik von Sozialpolitik und Politik des Sozialen beschäftigten.

In der als erster Artikel vorgestellten Dokumentation unserer bisherigen Überlegungen ist davon allerdings noch nicht viel zu spüren. Wir formulieren darin:

"Die alltägliche Praxis und die sozialstaatlichen Regulierungen schneiden sich ... an bestimmten Kreuzungspunkten, an denen die Weichen für engere oder weitere Regulationskanäle gestellt werden, die immer nur für begrenzte Lebensphasen Geltung haben und auch nur begrenzte Normalitäten und Identitäten konstituieren. Aber es gibt auch subkulturelle, eigensinnige produktive Verarbeitungsformen" - die - so wäre jetzt zu ergänzen - auch spezifische regionale Ausprägungen erfahren.

Das, was als "Kreuzungspunkte" nur sehr ungenau eher benannt als auf den Begriff gebracht ist, erweist sich bei genauerem Hinsehen als relativ komplex strukturierter, sozialer Raum. Mit sozialen Interessen besetzte Räume konstituieren sich wie eine "zweite Haut" über die gegenständlich-materiellen. Die in einer Region sich realisierenden Interessen machen diese erst im eigentlichen Sinne zu gesellschaftlich differenzierten Räumen - "Region" ist zugleich der unverwechselbare Raum, in dem widersprüchliche Interessen als Konflikt, als Macht oder Ohnmacht, als Herrschaft oder Ausbeutung, als Zuneigung oder Gewalt sinnlich erfahrbar werden.

Dieser Aspekt führt einen Gedanken weiter, mit dem wir versuchen aufzuzeigen, daß eine "Politik des Sozialen" nicht in der institutionellen Logik staatlicher Sozialpolitik aufgeht. Den ersten Teil dieser Diskussion haben wir im letzten Heft ausführlich dokumentiert. Legte sie den Schwerpunkt auf die Frage der subjekttheoretischen und geschlechtsbezogenen Voraussetzungen und Folgen dieses Ansatzes, so wollen wir hier versuchen, einen weiteren Akzent zu setzen. Regionen als soziale Räume sind sogleich historischer Ausdruck der verschiedenen Produktionsweisen, die sich aus der jeweils historisch-spezifischen Kombination ökonomischer, politisch-institutioneller ideologischer und geschlechtsspezifischer Kräfteverhältnisse ergeben. Zwar ist in "letzter Instanz das Kapitalinteresse ausschlaggebend, jedoch führen die einzelnen Kräftefelder ihr eigenes, wenn auch nicht unabhängiges 'Leben'".

Regionen wie das Ruhrgebiet oder das Saarland sind fast synonym mit bestimmten Industrieansiedlungen, Regionen wachsen oder gehen unter - je nach dem wohin die "vitalen Ströme" des Kapitals fließen. Zwar wird mit staatlichen Ordnungsprogrammen heute in zunehmendem Maße versucht, diesen Fluß einzudämmen und in vielfältigen Kanälen möglichst gleichmäßig über Stadt und Land zu verteilen, aber weder im nationalen, geschweige denn im europäischen oder Weltmaßstab gelang es bislang, die Verstärkung räumlicher Ungleichheiten und "regionaler Arbeitsteilung" (als vornehme Umschreibung von regionaler Ausbeutung) wesentlich zu beeinflussen.

Auch wenn es den Menschen in den verschiedenen Regionen gelang und gelingt, relativ stabile Lebensverhältnisse aufzubauen, so war es schon immer die Besonderheit dieser "permanenten ursprünglichen Akkumulation" kaum entstandene Traditionen wieder aufzulösen, so daß die "doppelte Freiheit des Lohnarbeiters" in immer neuen ideologischen Farben aufleuchtet: Beschrieb Durkheim den Prozeß noch als Übergang von der mechanischen zur organischen Solidarität, sahen die Kulturkritiker der 20er Jahre den Einsamen in der Masse, so ist heute die allseitige und zugleich reduktivistische Individualisierung angesagt.

In der Tat, die Ware Arbeitskraft hat einen besonderen Eigensinn: Sie ist nicht von der lebendigen Person zu trennen, die die eigenen Lebensverhältnisse zwar nicht schafft, aber doch mit erhält, modifiziert, ausgestaltet und - in kollektiven Aktionen - auch neu gestalten kann. Betrachtet man die Dynamik gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse und die darin eingeflochtenen Lebensentwürfe als zwei - allerdings ungleichgewichtige - Seiten derselben Medaille, so treffen sich beide Seiten in "Kreuzungspunkten", die einen sozialen Raum sowohl als Voraussetzung als auch als praktisch-empirischen Bezugspunkt ihrer Realisation brauchen. Das Netz dieser Kreuzungspunkte läßt sich als hegemoniale Topographie lesen, zu deren Dechiffrierung es detaillierte Analysen der jeweiligen Region im Kontext gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen bedarf. Der soziale Raum/die Region in diesem Sinne läßt sich also als "Akteur" kennzeichnen, der Teil der Bühne ist, auf denen die Vielfalt Inszenierungen gesellschaftlicher Konflikte und Kämpfe ausgetragen werden.

Zwei derartige Inszenierungen eröffnen den Themenschwerpunkt des Heftes. Carl-Wilhelm Macke wirft einen Blick hinter den glitzernden Vorhang, mit dem die Stadt München die Folgen ihrer High-Tech-Kultur verbergen möchte, damit Schickeria und neue Mittelschicht sich im kapitalistischen Wunderland weiterhin wohlfühlen.

Neues Selbstbewußtsein auf dem Lande, gepaart aber mit einer ähnlichen Abspaltung des Bewußtseins über die "Kosten" der Herrschaft, macht Lothar Böhnisch in den ländlichen Regionen des deutschen Südwestens aus. Die besondere Rolle von "Kultur" als Ferment in diesem Prozeß - womit die hegemoniale Selbstinszenierung herrschender Kultur auch neue, sogenannte alternative Gruppen einzubinden vermag - analysiert Bernd Wagner am Beispiel der zweiten High-Tech-Stadt in der BRD - an Frankfurt und deren Kulturmanager, die deutlich machen, daß "Wenden" nicht unbedingt Veränderung bedeuten.

Abschließend prüft Karl August Chassé, "wie ländlich noch das Land" ist. Dabei fragt er auch nach den spezifischen Widerstandspotentialen gegen eine eindimensionale Verstädterung des Landes, nach den strukturellen Konflikten und deren Chancen, sich als politische zu artikulieren.

Die Redaktion

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