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Heft 35: "Das Herz denkt rechts" - Vereinigte antidemokratische Potentiale

1990 | Inhalt | Editorial | Leseprobe

Titelseite Heft 35
  • Juni 1990
  • 100 Seiten
  • EUR 7,00 / SFr 13,10
  • ISBN 3-88534-053-4

Peter Krahulec

Nicht "Sieger", sondern Erben der Geschichte
Rechtsextreme Orientierungen in der DDR

1. "Zyklon B für den BFC!": Mythen und Tabubrüche im real kaputten Sozialismus

Auch objektive Ereignisse haben ihre subjektive Aneignungsgeschichte; will hier sagen: Das "helle Bewußtsein", das Adorno (1959) für eine "Aufarbeitung der Vergangenheit" voraussetzte, um ihren "Bann zu brechen", ist kein Selbstläufer ökonomischer oder "antifaschistisch-demokratischer Umwälzungen", sondern bestenfalls approximatives Ergebnis vielfältig gebrochener ("verdunkelter") individueller und gesellschaftlicher Prozesse.

So war auch ich - oftmaliger Mauersegler und Delegationsleiter von Studiengruppen in Nationalen Mahn- und Gedenkstätten - gerne davon überzeugt: "Unzweifelhaft aber ist, daß es in der DDR gelang, mit den faschistischen Traditionen zu brechen und eine Wiederkehr des Faschismus unmöglich zu machen: Seine ökonomischen und sozialen Grundlagen sind vernichtet (!, P.K.), seine Repräsentanten wie seine Bundesgenossen sind ihrer Machtpositionen beraubt (...) Dagegen bleibt in der Bundesrepublik der Faschismus als Tendenz und Drohung bestehen." (Kühnl, 1971 ff).

Erste Risse bekam dieses verschobene Schema von Idealisierung versus Stigmatisierung für mich durch die mutigen (in der DDR lange verbotenen) Reportagen von Christa Moog "Die Fans von Union" aus dem Jahre 1985. Die Fußballarenen, Rekrutierungsfelder für "links" noch in den Sechzigern, decouvrierten sich hüben wie drüben wahlverwandt als Resonanzböden vergangen geglaubter Mißtöne. "Zyklon B für den BFC!" - war das "nur" ein gezielter Tabubruch mit einem Höchstmaß an Treffsicherheit gegen den verhaßten Stasi-Club (Berliner Fußball-Club)? "Sach-sen-ka-na-ken" skandieren die Schlachten(sic!)bummler vom 1. FC Union Berlin und provozieren die Gegendrohung: "Lauf, Preusse, lauf, sonst hängen wir dich auf..." Und im Bummelzug "Zwischen Erfurt und Artern" (so der Titel einer anderen Moog-Reportage) klagt der Vietnamese Thuong: "Kaine Mädchen hier, kaine. Das ist schwer. Wir immer allain." Ein wenig weiter liegt Blankenhain, aus dem in der Evangelischen Wochenzeitung "Glaube und Heimat" (48/89) ein Mocambiquaner berichtet, wie er grundlos zusammengeschlagen wurde. Und er erzählt, daß es in dieser thüringischen Kleinstadt eine starke Gruppe gäbe mit dem Namen "Graue Wölfe", die sich zum Ziel gesetzt hätte, "Blankenhain negerfrei" zu machen.

Und wie reagierten die Wissenschaftler auf solche Herausforderungen? Redeten sie, um mit einem Adornodiktum nachzufragen, vom Strick im Hause des Henkers? Einer der wenigen Sensiblen, der Jenaer Sozialpsychologe Frindte antwortete im damals noch PDS-nahen Interview so: "Da wir erst seit zwei Jahren intensiver daran arbeiten, liegen noch nicht viele Forschungsergebnisse vor. Dort, wo wir sie vorstellen wollten, gab es differenzierte Meinungen, Ablehnungen bei Juristen und Interesse bei Pädagogen und Psychologen. Je 'höher' man aber ging, desto heftiger die Widerstände. Die größte Enttäuschung war eine rigorose Abfuhr der ehemaligen Abteilung Wissenschaft des ZK der SED, wo wir zu hören bekamen, so etwas brauchten wir hierzulande nicht, und die's wissen müssen, MfS und MdI, seien längst im Bilde." (Das Volk, 12.1.1990).

Wissenschaft blieb also die Magd der Ideologie. Frindte erklärt das so: "Wir sind bekanntlich mit unserer eigenen Geschichte, ihren Deformationen und den Folgen dieser Deformation oberflächlich und verzerrend umgegangen. All das, was nicht in das gesellschaftliche Selbstbild des real existierenden Sozialismus paßte, wurde einer politisch organisierten Realitätsverzerrung unterworfen und mystifiziert." (Anmerkungen 2/90). Vier solcher Mythen, mit deren Hilfe solche Realitätsverzerrungen organisiert wurden, benennt der jetzige Prodekan der Sektion Psychologie in Jena:

  • der Überschwappungs-Mythos: "All das, was nicht in unser gesellschaftliches Selbstbild paßte, wurde als Folge der kapitalistischen Einflüsse diffamiert"; so gerieten die verschiedenen neofaschistischen Tendenzen "als Folge des Überschwappens kapitalistischer Unwerte";
  • der Pathologie-Mythos: "Jene Menschen, deren politische Handlungsweisen dem Ideal des realen Sozialismus zu widersprechen schienen, wurden als krank, fehlentwickelt oder kriminell stigmatisiert.";
  • der Mob-Mythos: "Bestimmte politische Ereignisse" (von oppositionellen Demonstrationen bis zu den Skins) "wurden naiv-psychologisch fehlinterpretiert";
  • der Stellvertreter-Mythos: nicht Ursachen wurden analysiert, sondern "randständige Minoritäten im Sinne des Stellvertreter-Prinzips als verantwortliche Buhmänner und -frauen ausgeguckt. Etwa, wenn die radikalen Skins für die gesamte neofaschistische Entwicklung in der DDR verantwortlich gemacht wurden."

Dies blieb singuläre Erkenntnis, und sie griff erst post festum Platz. Die bleierne Zeit ante aber hat Ralph Giordano auf den Begriff gebracht: "der verordnete Antifaschismus" (1987). "Staat und Bevölkerung der DDR sind von der Führung dort offiziell zu Mitsiegern des Zweiten Weltkrieges erklärt worden, sozusagen postum zu einem Teil der Anti-Hitler-Koalition, und das natürlich Seite an Seite mit der Sowjetunion. Eine abenteuerliche Lüge!" Summarisch dekretiert, auch unter Vergewaltigung leicht nachprüfbarer Historie, verwandelten sich so Mittäter, Mitläufer und Mitverlierer in Triumphanten; mentaler Vorlauf gewissermaßen für einen "antifaschistischen Schutzwall", der freilich jede massenhafte und -wirksame Auseinandersetzung verbaute.

Das Kernstück dieser ideologischen Rochade zum Zwiedenken nennt Giordano "die methodische Teilung der Humanitas", die "jede Menschenrechtsverletzung im eigenen Bereich entweder stets rechtfertigt oder leugnet". Damit reiht sich der verordnete Antifaschismus ein in die "Internationale der Einäugigen" und setzt sich selbst "der Anklage aus, sich mit dem perversen Antikommunismus, der auf dem rechten Auge blind ist, in eine ideologisch aufgespaltenen Humanitas zu teilen" (S. 219).

Diese Einäugigkeit funktioniert blockübergreifend bis tief ins Lager der sich als "alternativ" Verstehenden. Jüngster Beleg ist der repräsentativ angelegte, kenntnisreiche Sammelband "Die Rückkehr der Führer" (1989). Der Überblick über "Die radikale Rechte in den Ländern Europas" (so das Inhaltsverzeichnis) betrachtet lediglich ein natogeographisch geschneidertes "Westeuropa" und bleibt entsprechend blind dem Phänomen gegenüber, das Günther Nennig mit gewohntem Biß so beschreibt: "Alle Ismen sind fast schon verstorben, jetzt stirbt zum Beispiel der Altkommunismus - nur ein Ismus blüht und gedeiht, nachdem ihn die gesamte aufgeklärte, liberale, demokratische, sozialistische, kommunistische Intelligentsija, in diesem Punkt verdächtig einig, für töricht und tot erklärt hatte: der Nationalismus. An allen Ecken und Enden Europas steht der Nationalismus wieder auf oder war gar nie tot, außer bei Betrachtung durch runde Nickelbrillen." (Nation Europa, 5/6/89, S. 84).

2. Kleiner Exkurs zum immer noch großen Unterschied brauner Penetrationen

Nun lägen zwei Mißverständnisse oder absichtsvolle Fehldeutungen nahe.

Historisch: Mangelnde eigene Perspektive der Kontinuität des NS-Erbes im bundesdeutschen Teilstaat exkulpiert sich leichter unter dem Anwurf, das DDR-Spieglein an der Mauerwand zeige ein vergleichbares, also akzeptables Konterfei. Gegen diese "innere Unehrlichkeit der beflissenen Einebner" (Giordano) ist festzuhalten: Die DDR-Geschichte zeigt unmißverständlich, daß zahlreiche Einzelposten der bundesdeutschen Mängelliste auf sie nicht zutreffen, vor allem:

- In der DDR hat es nie eine "131er Gesetzgebung" gegeben, d.h. eine Legalisierung der fast pauschalen Übernahme des NS-Verwaltungsapparates. Im Gegenteil: Die 12 300 Aburteilungen bis 1950 (darunter die umstrittenen Racheschnellverfahren der sog. "Waldheimer Prozesse") bedeuteten "freimüssigen" (DDR-Jargon) Verzicht auf einen Wirtschafts"wunder"schub.

- In der 40jährigen DDR-Geschichte, ob nun als "Fußnote der Weltgeschichte" oder nicht, wurden nie neonazistische Parteien oder SS-Nachfolgeorganisationen zugelassen bzw. ihnen "Raum" gegeben zur öffentlichen Selbstdarstellung (vgl. demgegenüber das schwindelerregende Lexikon von Kurt Hirsch: Rechts von der Union. Personen, Organisationen, Parteien seit 1945. München 1989).

- Die erste Phase der "antifaschistisch-demokratischen Umwälzung" in der DDR zeugt glaubwürdig vom Versuch, im Gefolge des Potsdamer Abkommens, die großindustriellen, großagrarischen, finanzkapitalistischen und funktionselitären Kräfte und damit den objektiven NS-Faktor zu demontieren.

Zeitgenössisch: Der "perverse Antikommunismus" speiste sich immer auch aus der "falschen Gleichung" (Grebing) "rechts = links". "Da gab es die Tendenz, die Kritik an den Zuständen in den Staaten Osteuropas und in der DDR umzubiegen in einen Antikommunismus, der an den sogenannten Anti-Bolschewismus der Hitler-deutschen Vergangenheit anknüpfte, zu Teilen wenigstens, und der insoweit diese Vergangenheit in einem wesentlichen Teil zu rechtfertigen schien." (Klönne, S. 40)

Waltet die gleiche Rechtfertigungstendenz über den eiligen Gleichsetzungen von SED-Stalinismus und Faschismus? Mit Agnoli halte ich fest: "Die fast 40jährige Zwangsherrschaft der SED war gerichtet gegen die eigene Bevölkerung. Sie hat die gesellschaftliche Autonomie und das intellektuelle, wahrscheinlich auch das seelische Leben der eigenen Bevölkerung geschädigt. Die Hitlersche Diktatur hat Europa mit weitgehender Zustimmung der eigenen Bevölkerung verwüstet ... Wenn man diesen wesentlichen Aspekt außer acht läßt, gerät der Vergleich in ein sehr gefährliches Fahrwasser der künstlich aufgebauten Kontinuität." (taz vom 11.4.1990)!

3. "§215": "Rowdytum" und "Staatssicherheit" - die siamesischen Zwillinge der Einfachlösungen

Unser Wissen über tatsächliche Kontinuitäten mehrten nicht die zahlreichen Gedenkstätten der DDR. Dort wurde der "Buchenwald-Schwur" in seiner europäischen und parteiübergreifenden Dimension vergessen gemacht. Der Antifa-Monolog als staatsreligiöse Pflichtveranstaltung kannte nur eine "Tür zum Antifaschismus": das Monopol der Kommunisten. Keine offenen Fragen, wenig Irritation, dafür klare Gliederung in jene Phasen, die die SED-Geschichtsschreibung dekredierte. Und über allem die Gänsehaut-Sprache der "Ausrottung" und die Ästhetik des heroischen Kampfes. Als ginge es um Resistance gegen eine braune Besatzungsmacht vom anderen Stern und nicht um Fragen auch an die eigenen Familie.

Eine ganze Generation wurde von diesem Ritual nicht mehr erreicht. Sie ging eigene, auch provokante Wege. Das Schweigekartell zerriß, als vom Herbst 1987 bis Herbst 1989 17 Prozesse gegen rechtsradikale Skinheads bekannt gemacht werden mußten. "Der erste spektakuläre Prozeß im Zusammenhang mit einem brutalen Überfall von Skinheads auf Besucher eines Rockkonzertes in der Ost-Berliner Zions-Kirche war in mehrfacher Hinsicht richtungsweisend. Sowohl die hohen Freiheitsstrafen als auch die einseitige Schuldzuweisung an den Westen für das Entstehen neonazistischer Umtriebe in der DDR deuteten eine unnachgiebige Haltung der Staats- und Parteiführung an. Sie begreift die Skinheads nicht als ein Problem auch der sozialistischen Gesellschaft, sondern lediglich als neue Form der Jugendkriminalität", bestätigt "Prozeßbeobachterin" Waltraud Arenz die Frindte'schen Mythentheoreme aktuell.

Der Boom der Presseberichterstattungen (und damit der Zuwachs unserer empirischen Kenntnisse) über rechtsradikale Ausschreitungen, der Dezember '89/Januar '90 kulminierte, ist mit diesem Zerreißen des Schweigekartells allein aber nicht zu erklären - und auch nicht "nur" mit der Befreiung der Medien von der Fessel des SED-Führungsanspruchs durch den "deutschen Herbst '89". Aber zuerst die Fakten:

Ab Mitte Dezember 1989 lesen wir von Hakenkreuzen in Frankfurt/Oder, SS-Runen in Bautzen, "Türken-raus"-Schmierereien in Ostberliner Zügen, der Schändung des Geraer Soldatenfriedhofes. In Bernburg (südlich Magdeburg) mißhandeln Neonazis drei Kinder, indem sie ihnen Wachshakenkreuze auf die Köpfe träufeln. Gegen den "DDR-Republikaner"-Repräsentanten Gutbrodt aus Parchim ermittelt der Generalstaatsanwalt Plath persönlich und verrät in einem ND-Interview, daß dieser bereits fünfmal vorbestraft sei wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern (vgl. Frindte's Pathologie-Mythos). Trauriger Höhepunkt sind die nationalistischen Schmierereien am Treptower Ehrenmal.

Nun vermeldet auch ADN (28.12.1989), 1100 Personen seien rechtsextrem bislang "in Erscheinung getreten" (von Sympathiekundgebungen bis zu Bombendrohungen) und verwendet das Selbstetikett "Faschos" für die Tätergruppen. Die Nachrichtenagentur fordert staatliche Konsequenzen: "Andernfalls habe die DDR um ihre Zukunft zu fürchten".

In der FDJ-Zeitung "Junge Welt" beziffert ein anonymer, weil ängstlicher Wissenschaftlicher "weit über 1000 Neonazis" zwischen 18 und 26 Jahren. Der "Runde Tisch" betrachtet "mit ernster Sorge" die Zunahme von 1988 noch "44 polizeilichen Ermittlungsverfahren" auf 144 "neofaschistische Gewalthandlungen und Aktivitäten" (Stand November 1989). Die SED-PDS ruft für den 3.1.1990 zur Großdemonstration in den Treptower Park auf, und Regierungspräsident Hans Modrow schließlich erklärt am 12.1.1990 vor der Volkskammer:

"Wir stellen mit großer Sorge Gewalttätigkeiten fest, Aktionen von Neonazis oder von Leuten, die es werden könnten, auch Ausländerfeindlichkeit. Die abscheuliche Schmiererei am Ehrenmal in Berlin-Treptow ist nur ein Symptom. Am 1. Januar war in Karl-Marx-Stadt zu hören 'Kommunisten raus - Nazis rein'. Rufe der Schlägertrupps wie 'dreckige Kommunistenschweine' und 'euch schlagen wir tot' zeigen den politischen Standort und die Gefährlichkeit bestimmter Gruppen von Extremisten. Gemeinsam müssen sich alle demokratischen Kräfte entschieden gegen solche Erscheinungen stellen. Ebenso ist es hier notwendig, die Organe der Staatsmacht konsequent einzusetzen." (FR, 12.1.1990, Hervorhebung durch den Autor)

Unterstrichen werden muß dieser Appell an die "Staatsorgane" schon, in einer Zeit, da das Volk sich anschickte, die Hydra "Staatssicherheit" zu köpfen und ihre Bastillen zu besetzen und zu entwaffnen. So nannte denn auch der LDPD-nahe "Morgen" die Treptower Demonstrationen eine "inszenierte Manifestation alten Stils" und erhob den Vorwurf, die SED-PDS versuche, ihre Führungsrolle durch eine antifaschistische Einheitsfront zu erhalten.

Konrad Weiß von der Bürgerrechtsbewegung "Demokratie jetzt" wird noch deutlicher: "Es wird versucht, den Eindruck zu vermitteln: Seitdem es keine Stasi mehr gibt, gibt es Neonazis. Aber die gab es eben auch schon, als es noch die Staatssicherheit gab ... Ich kann mir gut vorstellen, daß es die Stasi selbst war" (taz, 9.1.1990). Als "ungeheuerlich" wies das "Neue Deutschland" ähnliche Kritik der "Neuen Zeit" (CDU) zurück, die SED-PDS würde "faschistische und neonazistische Gespenster erfinden, wenn es sie nicht gäbe". Zum Neonazismus gebe es neben "Abwiegelung und Ignoranz" jetzt auch "übelste Verleumdung" empörte sich das einstige Staatsblatt aus seinem Glashaus heraus.

Die empirische Basis jedoch ist weiterhin unzulänglich/unzugänglich und gibt beides her: Alarmsignale als auch "Normalisierung durch Konstatierung". Ich wähle zwei thüringische Beispiele für diese "nach oben hin offene "Extremismusskala:

Vor dem Runden Tisch Erfurt berichtet der Leiter des Volkspolizeikreisamtes, Oberst Johannes: "So könne man gegenwärtig in Erfurt von sechs Gruppen mit insgesamt 60 bis 70 Personen ausgehen, die dem rechten Spektrum zugerechnet werden können. Fünf davon sind Anhänger der Skinheads, eine Gruppe davon lehnt sich sehr stark an das Gedankengut der Republikaner in der BRD an. Die Skins unterscheiden sich in 'Altskins' und 'Babyskins' und versuchen, verstärkt an Schußwaffen heranzukommen und 'predigen' u.a. Ausländerhaß. Eine weitere Gefahr in der Blumenstadt, so Oberst Johannes, ist in Erfurt der Linksextremismus. Es bestehe die begründete Befürchtung, daß entlassene Mitarbeiter des ehemaligen MfS durch Abwehrreaktionen der Bevölkerung an den Rand des Extremismus getrieben werden..." (Thüringer Tageblatt, 30.1.1990). Als hingen sie mit ihren Einfachlösungen an den Köpfen zusammen, so arbeiten diese siamesischen Zwillinge rechterhand in linkerhand faktisch zusammen!

Ein konträres Schlaglicht warf "Kennzeichen D" mit einem Magazinbeitrag am 10.1.1990 bei einer Spurensuche in Weimar. Pressemäßig soll hier, an der "Weimar-Front", ein Zentrum des Rechtsradikalismus liegen. Besonders vom Jugendclub Weimar-West ist dabei immer wieder die einschlägige Rede. Oberst Gödecke von der örtlichen Volkspolizei jedoch reduziert auf sieben leibhaftige Skins in der 63000-Seelen-Stadt; "fünf davon sind rübergemacht!". Und ins Bild kommen 13-/14jährige, wenn's hoch kommt. Babyskins, die ihren Frust des Eingesperrtseins auskotzen: "1000 Meilen im Quadrat/Minen nur und Stacheldraht/Rat' mal, wo ich wohne/Ich wohne in der Zone". Und sie sagen: "Wir kommen doch nach Ungarn als der letzte Dreck!" In diesem Keller pfeifen sie trotzig ihr Mutmachliedchen und sind ach so "stolz, ein Deutscher zu sein" ...

4. "Unsere Kinder"

Ein "elendes Erziehungsheim hinter Stacheldraht" hat Wolf Biermann die DDR genannt (taz vom 21.8.1989). Daß es neben dem Maulkorb auch genügend Brot gab, um die Mäuler zu stopfen, habe die "Diffusität der Herrschenden" ausgemacht. Von daher rühre auch eine "diffuse Opposition" und ein "Schweigen über dem Schweigen" (Rainer Schedlinski): Für Protest war die authentische Sprache die des Westens - und damit eine verbotene Sprache. Länder wie Polen oder die CSR, die von "äußeren Sprachen" verschont blieben, verfügen über eine authentische Zweitsprache, die aus eigener Reflexion hervorging (und etwa einen Schriftsteller zum Staatspräsidenten beförderte).

Eine solche "Dauerschizophrenie" habe die Personen ausgehöhlt, sagt Christa Wolf ("Das haben wir nicht gelernt", taz, 31.10.1989), die sprachliche Entdeckerin der "Wendehälse". Das Dogma von den "Siegern der Geschichte" habe "dazu beigetragen, das Verstehen zwischen den Generationen in unserem Lande zu erschweren ... Die Sieger der Geschichte hörten auf, sich mit ihrer wirklichen Vergangenheit, der Mitläufer, der Verführten, der Gläubigen in der Zeit des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen ... Ihr untergründig schlechtes Gewissen machte sie ungeeignet, sich den stalinistischen Denkweisen und Strukturen zu widersetzen". So zeigten "Fackelzüge und gymnastische Massendressuren" lediglich "ein geistiges Vakuum" an und vergrößerten es.

In diesem vergletscherten gesellschaftlichen Klima wirkten zwei Publikationsereignisse wie Eisbrecher.

Auf dem Evangelischen Kirchentag 1989 hielt der bereits erwähnte Regisseur Konrad Weiß ein spektakuläres Referat, das unter verschiedenen Überschriften vielfach nachgedruckt wurde (u.a.: "Kontext. Blätter für Gesellschaft und Kirche, Kultur", Ostberlin 3/81; "Polityka", Warschau 4/89; "Zeit-Magazin", Hamburg 6/89; "Elternhaus und Schule", Ostberlin 1/90). Weiß spricht von vereinzelten Skinheads zu Beginn der 80er; sie ließen auf ein gewisses rechtes Potential schließen. Aber: "Es schien undenkbar, daß junge, in der DDR erzogene Menschen zu neuen Trägern einer faschistischen Ideologie werden könnten". Doch Mitte des Jahrzehnts (etwa 1983) scheinen sich die neuen Rechten organisiert zu haben und zählen am Ende der Dekade ca. 1000, die "in rechtsradikalen Cliquen organisiert" sind. Sie terrorisieren die Punk-Scene und "andere Bunte": Ausländer, Farbige, Mitglieder gewaltfreier Gruppen. Der Hauptteil dieser Jugendlichen rekrutiert sich aus den Jahrgängen 1962-1970, stärkster Zuwachs kommt von den 14- bis 15jährigen, "an Berufsschulen rechnet man mit zwei Rechtsradikalen pro Klasse".

Neben diesen martialisch auftretenden Skins "gibt es eine zweite, und wie ich denke, gefährlichere Gruppierung: die Faschos. Sie dürften die eigentlichen Träger der faschistischen Ideologie sein. Nach außen hin geben sie sich unauffällig, erscheinen angepaßt, sind gute Arbeiter. Insgeheim aber basteln sie in geschlossenen Zirkeln an ihrer altneuen Weltanschauung." Beiden Gruppen gemeinsam ist, "daß sie ihre Identität aus dem Prinzip Gewalt beziehen" - das "Recht des Starken", des "Herrenmenschen". Sie lehnen es konsequent ab, aus der DDR auszureisen: "Hier, in der Beseitigung der sozialistischen Gesellschaft und im Kampf um ein vereinigtes Großdeutschland, sehen sie ihr Wirkungsfeld".

Ihre Werte (gegen Null-Bock; für körperliche Ertüchtigung, gesunde Lebensführung; Elitebewußtsein, Personenkult, Bewährungsrituale und Mutproben; Disziplin, Gehorsam, wehrmachtsbezogene Kameradschaft; Märtyrerverehrung etc.) ähneln denen westdeutscher "Identitätssucher", doch wie konnte "die schreckliche Saat" in einem "antifaschistisch tradierten Staat" aufgehen? Weiß begründet sozialpsychologisch:

  • Viele DDR-Bürger sind "nicht wirklich umgekehrt"; "manche haben zwar Fahnen, Uniformen und Parteibücher gewechselt, sind im Innern jedoch die alten geblieben";
  • "Das übermenschliche Maß der Schuld wie der Scham hat eine wirkliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit erschwert";
  • Weder Kirche noch Staat gaben die "Möglichkeit zum öffentlichen Bekenntnis"; Verbrecher wurden bestraft, aber die Mitläufer "blieben zum Schweigen verurteilt": "Die Deutschen sind zu schnell zur Tagesordnung der neuen Ordnung übergegangen";
  • Die "Besatzungsmacht" und die "Kommunisten" beanspruchten für sich "eine übermenschliche Reinheit und Edelmenschlichkeit": "Dem verkündeten humanistischen Anspruch aber stand der stalinistische Terror der Nachkriegsjahre entgegen".

Ausschlaggebend aber ist für Weiß die Lebenswelt, in die die Heutigen hineingeboren werden und die nicht an 1848er oder andere demokratische Traditionen anknüpft: "Eine antifaschistisch-demokratische Gesellschaftsstruktur formte sich nur in Ansätzen. Die kommunistische Kaderpartei beförderte nicht die Ausbildung demokratischer Tugenden, sondern belohnte durch neue Privilegien Untertanengeist und Parteigehorsam. Das Führerprinzip ... erlebte unter anderen Vorzeichen eine Wiedergeburt" und auch das Gewaltprinzip: "Auch die sozialistische Gesellschaft nimmt für sich das Prinzip Gewalt in Anspruch, anerkennt und praktiziert es. Immer wieder wurden Konflikte gewaltsam gelöst: Kritiker wurden ausgebürgert, Andersdenkende eingesperrt, Bücher, Filme, Zeitungen verboten. Gewalt, im Klassenkampf praktiziert, gilt als hoher moralischer Wert ... Die Mauer endlich war die perfekte Materialisierung des Prinzips Gewalt".

Hinzu treten: das "gestörte Nationalgefühl" der Deutschen; der Rückzug in private Nischen; Doppelzüngigkeit bis Doppeldasein; allabendliche Massenemigration per Fernsehen - "Junge Menschen, die in unserem Land aufwachsen, sind von Kindheit an diesen sozialen Defekten ausgesetzt".

"Ich fürchte", schließt Weiß, "wir werden in der DDR auf absehbare Zeit mit einem gewissen rechten Potential politisch motivierter Gewalttätigkeit leben müssen. Staatliche Gegengewalt jedenfalls ist kein brauchbares Therapeutikum. Es wird darauf ankommen, dem Rechtsradikalismus die schillernde Verführungskraft zu nehmen und jungen Menschen Alternativen zu bieten".

Vergleichbare Kraft der Selbstkritik und damit einer kathartischen Perspektive brachte Roland Steiner auf mit seinem programmatisch betitelten Dokumentarfilm "Unsere Kinder". Ab 1.12.1989 läuft er in DDR-Kinos (nach großen Mühsalen während der Produktion). Rückblickend meint der Filmschaffende, bislang habe es ausgereicht, "ein bißchen mutig" zu sein. "Mit dem Mut allein kann man nun gar nichts mehr anfangen. Wir sind jetzt, glaube ich, alle aufgerufen zur unbedingten Gründlichkeit" (taz vom 28.11.1989). Diese Gründlichkeit muß sich vor allem in einer Dimension abarbeiten:

"In der DDR wurde der ökonomische Hintergrund des Faschismus ziemlich genau herausgearbeitet, auch in den Schulen. Aber die psychologisch-moralisch-ethischen Aspekte haben wir außer acht gelassen. Und das nicht zufällig, sondern weil man wußte, das wird schwierig..." (ebenda). Als Künstler hat Steiner einen sensiblen Blick dafür, wie sich rechtsradikale Ästhetik innerhalb bestimmter verordneter Rituale entwickeln kann (z.B. disziplinierter FDJ-Fackelzug); und er kommt zur wichtigen conclusio: Skins und Faschos stehen nicht imaginär außerhalb der Gesellschaft, der Norm, sondern sie sind in der Jugendscene, sind Teil deren Kultur, eben: "unsere Kinder". Und er folgert gegen den "normativen Antifaschismus" (Klönne): "Ein Problem von der Straße zu nehmen, bedeutet nicht, es gelöst zu haben"!

"Mutig" im Steiner'schen Sinne scheinen darüber hinaus nur wenige "Sinnproduzenten" (Schelsky) gewesen zu sein. Ende Februar 1989 wurde in der Ostberliner Stadtbibliothek mit der Veranstaltung "Faschismus und Gegenwart. Vom Umgang mit einem Erbe" erstmals öffentlich zum Thema diskutiert. Wahrscheinlich gehörte damals wirklich Mut dazu, coram publico zu sagen, unter "Erbe" sei bislang einseitig der "fortschrittliche Teil der Geschichte" (Bauernkriege, 1848, Kommunistisches Manifest, Antifaschismus) rezipiert/okkupiert worden. Der Durchschnittsschüler habe aber nie gelernt, daß zu "den" Faschisten oft die eigenen Großeltern gehörten (so Kurt Pätzold von der Humboldt-Universität). Und Wolfgang Scheffler, Westberliner Historiker und Gutachter in NS-Prozessen, ergänzte: Die NS-Zeit zeige die "Leichtigkeit, mit der Menschen dazu gebracht werden können, andere Menschen umzubringen, zu quälen und zu terrorisieren" (FR, 1.3.1989).

Vorausgegangen war im November 1988 ein erstes größeres Treffen von Juden aus der DDR und der BRD in Ostberlin. Es beschäftigte sich u.a. mit dem DDR-typischen Phänomen des "Antisemitismus ohne Juden". Auf einer ähnlichen Veranstaltung in Leipzig vom April diesen Jahres präzisierte der Leipziger Jugendforscher Wolfgang Brück jene lang unterdrückten und verschwiegenen Bewußtseinsmuster, die latent seit 1945 weiterwirken als: Sprachmuster ("Saujude"), Denkmuster ("jüdischer Krämergeist"), Stimmungen (Sündenbockzurechnungen für die DDR-Misere) und Antisemitismus als Teil von Ideologien (z.B. im Krypto-Stalinismus).

Im Januar 1990 erklärt der Humboldt-Kriminologe Reiner Gelbhaar bei seinem Urania-Vortrag "Neofaschismus in der DDR": "Eine sachliche und politische Auseinandersetzung mit dieser Erscheinung hat es nicht gegeben ... Wo der Faschismus in den letzten drei bis vier Jahren sein Haupt erhob, hat immer nur Repression eingesetzt". Arbeitsgruppen an den Universitäten oder in den Dienststellen der Kripo sei die Beschäftigung untersagt worden. Sein HUB-Kollege, der Soziologe Ray Kokoschka, ergänzt: Der Ausstieg aus dem sozialistischen Zwangsalltag sei Anfang der 80er eine Protestbewegung gegen die "Lüge von der Wunderwelt des real existierenden Sozialismus" gewesen. "Was als Freizeitgruppe begann, endete als hierarchisch straff geführter Verband". Der "nationalistische Knall", der jetzt über die DDR hinwegdonnere, sei die Quittung dafür, daß sich unter den Einheitsozialisten der SED die "nationale Identität eines DDR-Bürgers nach 1945 gar nicht erst entwickeln konnte" (taz vom 20.1.1990). Auch Peter Ködderich von der Humboldt-Universität ist noch zu nennen als einer derer, die sich seit längerem mit der Thematik befaßten, die aber erst seit diesem Jahr die Möglichkeit sahen, an die Öffentlichkeit zu treten. Diese scheint jedoch mittlerweile strukturell so weit entwickelt zu sein, daß bei der Kripo-Zentrale in Ostberlin eine "Extremismusabteilung" neu gebildet wurde. Deren Leiter, Oberstleutnant Wagner, berichtet im März 1990 von einer "deutlichen Ausweitung" des Rechtsextremismus mit Zentrum Leipzig; jedoch seien nur vereinzelte Straftaten zu verzeichnen. Das Aktivitätenschwergewicht liege auf der politisch-ideologischen Arbeit. Hinzu trete das Auftauchen von Jugendsekten; die Mun-Sekte wird von Wagner ausdrücklich genannt. Der Oberstleutnant gibt sich auf der Höhe der Diskussion, wenn er fordert, "keinesfalls mit einem politischen Strafrecht vorzugehen", sondern Aufklärung der Öffentlichkeit, Scene-Beobachtung und Verfolgung der tatsächlichen Straftaten präferiert. "Auch mit der in der Vergangenheit so stark angefeindeten sozialdiakonischen Jugendarbeit sei bereits Kontakt aufgenommen, um gezielter Gruppen ansprechen zu können" (Glaube und Heimat, 18.3.1990).

5. "Pamjat" oder: Wie "Gedächtnis" verkommen kann

Wagners tabufreier Blick auf die DDR-Verhältnisse nähert sich dem an, was Leggewie bereits 1987 den "Normalisierungseffekt" nannte: die "Normalisierung" nämlich der (west-)deutschen Verhältnisse auf ein "europäisches Maß". Das heißt im Gefolge der Le Pen, Jörg Haider, MSI-DN, EPEN u.a. (vgl. Hafeneger 1990) für die BRD: die "Zwerge am rechten Rand" (Leggewie) von den "Reps" über die ÖDP bis zum "Thule-Seminar" sind "europäisches Normalmaß".

Und für die DDR lehrt ein Blick auf die auch da immer noch "Bruderländer": "Die neue Offenheitspolitik hat ein sehr verbreitetes, dumpfes, irrationales, rechtsextremistisches Ideengemisch aus der Tiefe an die Oberfläche gespült" (Karla Hielscher, FR 22.12.1989). Symptomatisch steht in der SU "Pamjat". Was wörtlich "Gedächtnis" bedeutet und Rückgewinnung/Wi(e)deraneignung von Geschichte jenseits verordneter Scheinharmonie ermöglichen könnte, verkommt zu einer chauvinistischen Vereinigung, einer "engen Verbindung zwischen der rechtsextremen Bewegung und den parteiinternen stalinistischen Antiperestroikakräften" (Hielscher).

Solcher "neostalinistischer Nationalismus" findet sich auch in Polen; "Polityka" verortet "ein regelrechtes Gedränge auf der Rechten", und die tschechische "Obroda" (Wiedergeburt) meint natürlich die der Nation. Folglich faselt der Leitartikler von "Nation Europa" von der "Urkraft der Nation" (11/12 1989), und Ideologieproduzent Wolfgang Strauß setzt noch eins drauf: "Rechts" stehe für "Freiheit, Ethik, Emanzipation, Menschenwürde. Für Selbstbestimmung, Selbstregierung, Selbständigkeit steht 'rechts' in der 2. Welt" (5/6 89, S. 81).

Soll sich aber "politische Vernunft und nicht Rattenfängermentalität in unserem Land durchsetzen" (so die 17 Frauen gegen Rechtsradikalismus am 1.3.90), dann müssen wir mit dem Moskauer Kinderchirurgen Stanislaw Jakowlewitsch festhalten: "Jahrzehntelang hat der autoritäre Erziehungsstil die Seelen der Kinder in gleichem Maße verheert, wie er es mit der ganzen Gesellschaft getan hat" (FR vom 12.3.1990). Aggressivität, Rohheit und Gewalt sind alltäglich geworden; oder, wie meine Freundin, die Eisenacher Schriftstellerin Margot Friedrich, immer sagt: "Wir in der DDR sind völlig verwahrlost!"

Deshalb sind in der derzeitigen offenen politischen Situation nationalistische Schlagwörter risikoreich. Die Grenze zwischen Neokonservativen demokratischer Prägung und Rechtsextremen fließt häufig. Das "Spiel mit der nationalen Flamme" kann Flächenbrände legen.

6. Individualisierung und Modernisierung: Opfer, die ihre Identität suchen

Nehmen wir also als erstes Ergebnis dieses Schnelldurchlaufes durch 40 Jahre (verfehlte) DDR-Geschichte mit: Extremismus entsteht nicht an den Rändern der Gesellschaft, sondern aus ihrem Zentrum! Säkulare Prozesse der Individualisierung und Modernisierung generieren "Vertriebene im eigenen Land" (Leggewie), Opfer, die ihre Identität suchen und in der Erfahrung steter Konkurrenz, des Zwangs, sich flexibel auf wechselnde Anforderungen einzustellen, auch die Erfahrung zu machen glauben: Der Stärkere wird, muß siegen!

Mobilitäts- und Flexibilitätsdruck erzeugen auch den ungesättigten Wunsch nach autoritären Leitbildern. Heitmeyer weist also zurecht darauf hin, daß wir (hüben wie drüben) Abschied nehmen sollten von einem verfassungsrechtlichen Extremismusbegriff. Eine soziologische Sichtweise und Definition des Rechtsextremismus erhellt, daß rechtsradikale Organisationen in der Breite zwar abgelehnt, rechtsradikale Orientierungen aber weithin geteilt werden. Zwei Muster sind es vor allem, die als "latent normal" gelten müssen:

  • erstens: eine Ideologie der Ungleichheit (mit den Elementen: nationalistisches Selbstkonzept der Überhöhung; rassistisch-diskriminierende Sichtweisen des "Fremden"; totalitäres Normverständnis; Lebenskampf-Alltagsphilosophien)
  • zweitens: eine generelle Gewaltakzeptanz zur Regelung sozialer Prozesse ("Weil doch auch in der Natur das Recht des Stärkeren gilt...")

Mit solchen Orientierungen und den sie stiftenden rechtsextremen Potentialen muß jede Demokratie industriell entwickelten Zuschnitts rechnen. "Es wird in unserer sich internationalisierenden Welt ein Problem bleiben, mit dem man politisch und pädagogisch umgehen muß" (Helmut Fend, FR vom 18.5.1989).

Was tun?

Die aktuelle jugendpädagogische Diskussion kreist dabei, angeregt durch Heitmeyer u.a., um vier Optionen:

  • (jugend)politisch die Schattenseiten der Individualisierungsschübe "abfedern";
  • Nützlichkeitserfahrungen ermöglichen in Arbeit, Beruf, Schule, sozialen Milieus;
  • Jugendarbeit auch sozialräumlich, d.h. gemeinwesenorientiert anlegen;
  • erfahrungsgestützte, lebensweltbezogene Aufklärung statt normativem Anti-Ismus. Drei Maximen erscheinen konzeptionell tragfähig:
  • Politische Bildung ist ganzheitlich anzulegen als Förderung nicht nur des normativen Wissens, sondern vor allem auch als Förderung sozialen Verhaltens;
  • Es müssen Formen gefunden werden, die dem politischen Identifikationsbedürfnis der Jugendlichen entsprechen;
  • Lebenswelt, Schule, Berufschancen, Beteiligungsmöglichkeiten müssen so strukturiert sein, daß Ausschlußerfahrungen minimiert werden ("strukturelle Gewaltlosigkeit").

Für ein solches demokratisch offenes Menschenbild hat die erste frei gewählte Volkskammer der DDR ein unverzichtbares Fundament (endlich) gelegt mit der gemeinsamen Erklärung zur Verantwortung für die deutsche Geschichte (vom 12.4.1990): "Durch Deutsche ist während der Zeit des Nationalsozialismus den Völkern der Welt unermeßliches Leid zugefügt worden ... Diese Schuld darf niemals vergessen werden" - das wissen wir. "Mit der unrechtmäßigen militärischen Intervention wurde den Menschen in der Tschechoslowakei großes Leid zugefügt und der Prozeß der Demokatisierung in Osteuropa um 20 Jahre verzögert . . Wir haben in Angst und Mutlosigkeit diesen Völkerrechtsbruch nicht verhindert" - das brauchen wir! Ein guter Vor-Satz...

Literatur

(Die Aktualität des Themas und seine geringe wissenschaftliche Bearbeitung spiegeln sich in der Quellenlage wieder, die weithin von Tageszeitungen oder Periodika geprägt ist.)

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