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Heft 50: Zur Zukunft des Sozialismus und zum Ende des realen

1994 | Inhalt | Editorial | Leseprobe

Titelseite Heft 50
  • März 1994
  • 128 Seiten
  • EUR 7,00 / SFr 13,10
  • ISBN 3-88534-096-8

Zu diesem Heft

Das Heft 50 der Widersprüche widmen wir einem Freund von uns, einem Mitstreiter der Redaktion, der das Erscheinen dieser Jubiläumsnummer nicht miterleben kann: Niko Diemer, der am 21.9.1992 im Alter von 40 Jahren an Krebs gestorben ist. Niko Diemer hat die Arbeit unserer Redaktion mit seinem gesellschaftstheoretischen und sozialpolitischen Denken von Anfang an wesentlich mitgeprägt.

Das vorliegende Heft ist noch einmal wesentlich von ihm bestimmt. Es enthält als Grundlagentext seine Ausführungen "Zur Zukunft des Sozialismus nach dem Ende des realen", die er - im Bewußtsein seines drohenden Todes - verfaßt hat.

Dieser Text war auch die Grundlage einer Tagung, die am 25./26.9.1993 in Bremen zur Erinnerung an Niko Diemer stattfand. Diese Tagung wollen wir in den dort vorgetragenen Beiträgen dokumentieren.

In seinem Text stellt er Fragen nach der Zukunft eines emanzipatorischen linken Projekts zu einer Zeit, in der für ihn selber nur noch wenig für eine lebbare Zukunft blieb und in der die Frage nach politischen Perspektiven, die über die bürokratischen Kasernenhofsozialismen des "Ostens" ebenso hinausweisen wie über die sich in Siegerpose feiernde angeblich freieste aller Welten des "Westens", nur allzu rasch als veraltete, unzeitgemäße Traumtänzerei abqualifiziert wurde.

Im Text finden sich viele Fragen wieder, die in unseren linken Traditionen zwar schon vor dem "Epochenbruch" 1989 diskutiert worden sind, die aber durch diesen nochmal zugespitzt wurden - auch wenn es nicht "unser Sozialismus" war, von dem sich die Menschen dort befreiten. Es ist somit kein Wunder, daß Niko Diemers Text an Argumentationsstränge und Diskussionslinien anknüpft, die sich im Widersprüche Heft Nr. 37 "Verlust und Befreiung" nachlesen lassen.

Auch die anderen Texte, die als Referat für die Bremer Tagung erstellt worden waren, bzw. für dieses Heft geschrieben worden sind, knüpfen an die zentralen Fragen an, die nicht nur uns als Redaktion, sondern alle, die sich einem linksalternativen Spektrum zugehörig sahen, umtrieb:

Was für eine Gesellschaft war der "reale Sozialismus"? Welche Beziehungen spinnen sich zwischen der "Moderne" im Anschluß an die Aufklärung und Traditionen der Arbeiterbewegung, Traditionen der Oktoberrevolution? Denn beide "Projekte" - so grundsätzlich sie auch historisch in Erscheinung treten mögen - haben Gemeinsamkeiten z.B. im Glauben an "Fortschritte".

Wieviel hatten die repressiv-gesellschaftlichen Realitäten dieser Staaten nicht nur mit einem zur Legitimationsideologie bürokratischer Herrschaft geronnenen Marxismus-Leninismus zu tun, sondern auch mit einem Marxismus, der von uns ja in einem befreienden Sinn, die Abschaffung von Herrschaft von Menschen über Menschen, von "Sachen" über Menschen proklamierenden Sinn mitgedacht worden war?

Ist mit den Kategorien aus unserer linken Tradition noch ein politisches Projekt denkbar, in dem individuelle Differenzen, gruppenspezifische Differenzen und Geschlechterdifferenzen zu ihrem Recht kommen gegen die Subjektivität und Individualität erzeugende und zerstörende moderne kapitalistische Gesellschaft? Welche politischen, ökonomischen und ökologischen Notbremsen sind vorstellbar, um den Krieg der Konkurrenz und Ausgrenzung zwischen Menschen und gegen die "natürlichen" Lebensgrundlagen zu stoppen und Handlungsmöglichkeiten für alternative Entwicklungen zu gewinnen.

Jeder Leserin und jedem Leser wird schnell klar, daß es darauf keine schnellen und "großen" Antworten gibt, sondern daß erstmal nachhaltiges Nachdenken darüber nötig ist. Daß ein solcher Prozeß im Gange ist, zeigte sich auch auf der Bremer Tagung - er zeigt sich auch beim Blick in andere Publikationen der jüngsten Zeit. Dort lassen sich Gedankengänge finden, die denen in Niko Diemers Text zum Teil verwandt sind.

So sieht z.B. Andre Gorz die Aufgaben der Linken nicht darin, "ein fertiges neues System auszuarbeiten. Vielmehr besteht sie darin, Bereiche gelebter, selbstorganisierter Gesellschaftlichkeit wiederherzustellen, sie Systemzwängen zu entziehen und gegen die Herrschaftsapparate zu schützen" ("What's left" Rotbuch 78, S. 111). Hier deutet sich eine Nähe zu der Frage an, wie verschiedene gesellschaftliche Sphären zueinander gewichtet werden sollen, wieviel "Vergesellschaftung" Menschen quasi "aushalten" wollen.

Elmar Altvater konstatiert im gleichen Buch auf den Seiten 138 bis 140, daß die Planwirtschaft ohne Frage gescheitert ist. "Daß die globale Marktwirtschaft aber in viel grandioserem Maße zu scheitern droht, weil sie keine immanenten Schranken gegen den ökologischen Overkill zu errichten vermag, sollte in der Siegestrunkenheit der 'neuen Weltordnung' angemahnt werden." Wenn er dann schlußfolgernd einen gesellschaftlichen Modellwechsel für nötig erachtet und die "Langsamkeit" wiederentdeckt sehen will, so gehen die Gedanken in die gleiche Richtung wie Niko Diemers Idee eines Rechts auf Moratorien in Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung und seine These von einer Neudefinition des Begriffs "Reichtum".

Noch pointierter formuliert es die Prokla-Redaktion auf S. 362 in ihrem Heft 92: Eine moderne Linke kann "ihr politisches Projekt nur noch als Strategie der Selbstbegrenzung, der Vermeidung, der Reduktion formulieren", was politisch praktisch heißt: radikale Arbeitszeitverkürzungen, Abkehr von der Zentralität der Arbeit, Entwicklung ökologischer Techniken, Veränderung alltäglicher Lebensformen in Stadt und Land sowie zwischen den Geschlechtern.

Solcherart Fragen tauchen aber nicht nur im engeren "linken Diskurs" auf, sondern auch in der aus den USA der 80er Jahre importierten Debatte zwischen "Liberalen" und "Kommunitaristen". Die Frage nach dem Verhältnis einer "Politik der Differenz" zu einer universalistischen Moral, die Frage nach Exklusivität oder Offenheit des demokratischen politischen Diskurses, die Entzifferung von Gemeinschaftssehnsüchten als Indikator für Krisen moderner Rationalität haben dort ebenfalls einen Ort (vgl. etwa den von Brumlik/Brunkhorst herausgegebenen Band "Gemeinschaft und Gerechtigkeit", Frankfurt/M. 1993).

Die Vielfalt und Verschiedenheit der Fragen, die in den hier veröffentlichten Texten auftauchen, geben nach den Erfahrungen der Bremer Tagung Anlaß zu Diskussionen und Kontroversen. Wir wollen dies mit diesem Heft auch fördern und die Leserinnen und Leser einladen, sich einzumischen.

Nun zu den Beiträgen, die sich auf den Text von Niko Diemer beziehen. Winfried Thaa setzt sich in seinem Text mit der von Niko Diemer gestellten Frage auseinander, inwieweit das mehr denn je notwendige Anliegen einer Kritik an der kapitalistischen Industriegesellschaft heute noch mit dem kategorialen Apparat der sozialistischen Traditionen, also v.a. Marxschen Kategorien möglich ist. Vordringlicher Gegenstand seiner Kritik ist die Marxsche Kategorie der Entfremdung und die Idee der Aufhebung menschlicher (Selbst-)Entfremdung.

Eine radikale Gesellschaftskritik heute dürfte Freiheit nicht an eine große Versöhnungsidee binden, sondern an die Möglichkeiten des Handelns mit Anderen und gegen sie. Nur so sieht Winfried Thaa die Chance, gegen die allgegenwärtige "Sachzwang"-Logik Freiheitsräume menschlicher Praxis zu erkämpfen.

Gerhard Vinnai betont in seinem Beitrag die Notwendigkeit linker Kapitalismuskritik. Trotz richtiger Kritik am überwundenen realen Sozialismus ist für ihn die sozialistische Tradition nicht am Ende. Sozialismus ist für ihn nie im Singular denkbar. Auch historisch zeigten sich verschiedene sozialistische Strömungen, und die westlichen Gesellschaften verdanken ihnen und sozialen Bewegungen, die sich auf sie bezogen, wesentliche demokratische Potentiale.

Zentraler Anknüpfungspunkt Gerhard Vinnais an Niko Diemers Ausführungen ist die Frage danach, weshalb im traditionellen Sozialismus das schlechte Allgemeine über das Besondere herrschte und weshalb das Spannungsverhältnis von Gleichheit und Differenz zugunsten abstrakter repressiver Gleichmacherei "gelöst" wurde. Der Beitrag zeichnet das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem in der europäischen Philosophiegeschichte nach und macht zwei Hauptlinien des Denkens dieses Verhältnisses kenntlich: einmal das traditionelle bürgerliche Denken der Aufklärung, welches Partei für das Allgemeine ergreift und das vernunftbegabte Individuum immer einer Idee von Menschheit und Weltbürgertum zuordnet; die Gegenposition dazu sieht er in psychologisch inspirierten Theorien, die Versöhnungsgedanken von Allgemeinem mit dem Individuellen, Besonderen skeptisch gegenüberstehen.

Befreiende Politik heißt für ihn Beförderung von sozialen Räumen, für individuelle und kollektive Ausdrucksmöglichkeiten.

Mit der Frage von Gleichheit und Differenz setzt sich auch Rolf Schwendter auseinander. In dem Text, der auf der Bremer Tagung nicht vorlag, bezieht sich Schwendter vor allem auf Niko Diemers Anliegen einer gesellschaftlichen Synthese von Gleichheit und Differenz auf Basis eines garantierten Mindesteinkommens und von Teilhaberechten in den verschiedenen Lebensbereichen. Rolf Schwendters Bearbeitung dieses Komplexes ist wesentlich eine historische. Er untersucht verschiedene Strömungen der Arbeiterbewegung und ihre Vorstellungen von Gleichheit. Dem Mainstream der marxistisch beeinflußten Arbeiterbewegung war Differenz kein Thema, es sei denn, als zu überwindender Zustand zugunsten einheitlicher Kollektive. Doch er kann unter den geschichts-mächtig gewordenen Strömungen auch eine Subgeschichte unterlegener Tendenzen erkennen, die Differenz betont.

Timm Kunstreich, dessen Beitrag nicht auf der Bremer Tagung gehalten worden ist, fragt sich - ebenfalls im Rahmen einer Diskussion um Perspektiven alternativer Sozialpolitik - ob kritische soziale Arbeit möglich ist.

Während traditionelle Sozialarbeit ihren zentralen Bezugspunkt im Verhältnis von Professionellem und "Klient" hat, verlangt kritische soziale Arbeit einen Blickwechsel hin zu den vielfältigen Überlebenspraktiken und Aneignungsweisen der sozialen Lebenswelten durch die Subjekte selber. Im Rückgriff auf Foucault wäre kritische Sozialarbeit bei Timm Kunstreich "die Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden". Ausgangspunkt der Handlungsstrategie ist also der gesamte soziale Kontext der Subjekte, in dem die Beziehung Sozialarbeiterin - Klientin nur eine unter vielen Beziehungen ist.

Dieser Blick auf die Subjekte als Akteure von Gesellschaft und auf ihre Lebenswelt knüpft an die in Niko Diemers Text gestellte Frage an, welche Vermittlungen zwischen verschiedenen Vergesellschaftungsweisen denkbar sind.

Joachim Hirsch und Christoph Görg lesen mit ihrem Beitrag aus regulationstheoretischer Perspektive aus Theorie und Praxis im Gefolge von Marx ebenfalls ein Defizit bzgl. einer Theorie bzw. Reflexion des Politischen heraus.

Radikaler Reformismus bedeutet ein Sich-Einlassen auf die vorfindlichen Strukturen mit der Absicht, die Historizität der Herrschaftsverhältnisse kenntlich zu machen und die Strukturen zu überwinden. Mit dem Begriff "Reformismus" an Stelle von "Revolution" wird der Selbstverwobenheit der sozialen Akteure und der Komplexität der ungleichzeitig verlaufenden Vergesellschaftung Tribut gezollt.

Jörg Lauterbachs Analyse der "Autonomen"-Bewegung stellt eine Reflexion der Politik sozialer Akteure, die sich einem Linksradikalismus verpflichtet fühlen, dar. Verwiesen wird auf die (von ihm selbst weitgehend geteilten) Theoreme und Grundüberzeugungen und ihr notwendiges Scheitern in der politischen Praxis, insofern die Selbstkonstitution der "Autonomen" von den Akteuren selbst nicht in den Zusammenhang mit dem Ende fordistischer Regulierung gebracht wird.

Den Abschluß dieses Heftes bildet ein subjektiver Rückblick auf die Arbeit der Widersprüche-Redaktion. Carl-Wilhelm Macke beschreibt seinen Weg zu den Widersprüchen und erinnert sich an eindrückliche Redaktions-Erfahrungen: die literarische Gedankenreise eines Ex-Redakteurs.

Leider kann der auf der Tagung gehaltene Beitrag von Birgit Geissler erst im nächsten Widersprüche-Heft erscheinen.

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