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Heft 51: Der Widerspenstigen Zähmung – Zur Bildung der Nation

1994 | Inhalt | Editorial | Leseprobe

Titelseite Heft 51
  • August 1994
  • 112 Seiten
  • EUR 7,00 / SFr 13,10
  • ISBN 3-88534-097-6

Peter McLaren

Die Politik eines kritischen Multikulturalismus

I

Mit diesem Text wird der Versuch gemacht, die Konzeption eines "kritischen Multikulturalismus" voranzubringen, indem die verschiedenen Positionen, die in der Debatte über Multikulturalismus eingenommen werden, und die ich als konservativ, liberal oder linksliberal kennzeichne, untersucht werden. Natürlich handelt es sich hier um idealtypische Label, die der Heuristik dienen sollen. In der Wirklichkeit verwischen sich die Charakteristiken jeder Position. Mir geht es hier um einen ersten Ansatz, das kulturelle Feld von Ethnizität und Rasse abzustecken und ein tentatives theoretisches Gitter zu formulieren, das dazu dienen soll, die unterschiedlichen Weisen, in denen 'Differenz' sowohl konstruiert wie benutzt wird, zu entschlüsseln.

Der konservative Multikulturalismus kann zurückverfolgt werden bis zu den kolonialen Blicken auf Afro-Amerikaner als Sklaven, Diener und Entertainer; Blickwinkel, die in einer nur sich selbst anerkennenden und imperialistischen Haltung von Europa und Nordamerika verkörpert waren. Mit dieser Haltung wurde Afrika als ein wilder und barbarischer Kontinent beschrieben, bewohnt von niederen Kreaturen, denen die rettende Gnade der westlichen Zivilisation vorenthalten wurde. Dieser Blick läßt sich als ein direktes Resultat aus der Erbschaft von Doktrinen verstehen, mit denen eine weiße Übermacht festgeschrieben werden sollte, indem Afrikaner "biologisiert" wurden zu Kreaturen, die auf der frühesten Stufe menschlicher Entwicklung stünden. Afrikaner wurden von Weißen wilden Tieren gleich gezeichnet oder als herzensfrohe singende und tanzende Kinder beschrieben. Viele der konservativen Multikulturalisten bewegen sich auch heute noch in der kolonialen Erbschaft weißer Oberhoheit. Auch wenn sie sich offiziell von rassistischen Ideologien distanzieren mögen, so erkennen sie die kognitive Gleichheit aller Rassen nur vordergründig an und beschuldigen erfolglose Minoritäten, "kulturell depravierte Hintergründe" und einen "Mangel an starken familienorientierten Werten" zu haben. Diese "umgebungsbezogene" Position geht von einer kognitiven Inferiorität der Schwarzen Weißen gegenüber als einer generellen Prämisse aus und versorgt konservative Multikulturalisten mit einem Mittel, das es ihnen erlaubt zu erklären, warum einige Minoritätengruppen erfolgreich und es andere erfolglos sind. Dies bietet sich der weißen kulturellen Elite als der Entschuldigungsgrund an, den sie brauchen, um unreflektiert und disproportional Machtpositionen zu besetzen. Ein besonders boshaftes Projekt des konservativen Multikulturalismus besteht darin, eine gemeinsame Kultur zu konstruieren - ein nahtloses Gewebe von Textualität -, daran gebunden, das Konzept "der Grenze" zu annulieren, indem fremden Sprachen, regionalen und ethnischen Dialekten die Legitimation entzogen wird; eine permanente Attacke auf das "non-standard-english", der Versuch, eine bilinguale Erziehung zu unterminieren (Macedo, i.D.). Über die Position hinsichtlich der gemeinsamen Kultur und der bilingualen Erziehung hinaus gibt es weitere Gründe, den konservativen Multikulturalismus zurückzuweisen. Erstens weigert sich der konservative (oder "corporate") Multikulturalismus, die weiße Hautfarbe als eine Form von Ethnizität zu behandeln und setzt diese somit als unsichtbare Norm für die Beurteilung anderer Ethnien. Zweitens wird der Terminus "Verschiedenheit" benutzt, um die Ideologie der Assimilation zu vertuschen, die dieser Position unterlegt ist. Aus diesem Blickwinkel werden ethnische Gruppen darauf reduziert, "Zusätze" zu der dominanten Kultur zu sein. Bevor man der dominanten US-Kultur hinzugefügt wird, muß man den herrschenden Blick auf Kultur übernehmen und dabei lernen, daß die euro-amerikanischen patriarchalischen Normen des "Gast-Landes" zu akzeptieren sind. Drittens vertritt der konservative Multikulturalismus eine mono-linguale Position und damit die Vorstellung, daß Englisch die einzig offizielle Sprache sein soll. Viertens werden Bildungsstandards für alle Jugendlichen gesetzt, die auf dem kulturellen Kapital der angelsächsische Mittelklasse beruhen. Fünftens schafft es diese Position nicht, das mit hohem Status ausgestattete Wissen zu hinterfragen, auf das das Erziehungssystem ausgerichtet ist - Wissen, das den höchsten Wert in der weißen Mittelschicht der U.S.A. hat. D.h., daß die Frage, welchen Interessen dieses Wissen dient, nicht gestellt wird. Konservative Multikulturalisten wollen Schülerinnen an eine ungerechte gesellschaftliche Ordnung anpassen, indem sie behaupten, jedes Mitglied jeder ethnischen Gruppe könne von dem ökonomischen Nutzen neokolonialistischer Ideologien und entsprechender sozialer und ökonomischer Praktiken etwas ernten. Aber die Voraussetzung dafür, dazuzugehören, besteht darin, "ausgezogen" und kulturell enteignet zu werden.

Der liberale Multikulturalismus argumentiert, daß eine natürliche Gleichheit zwischen Weißen, Afroamerikanern, Lateinamerikanern, Asiaten und anderen Populationen besteht. Diese Perspektive basiert auf der Vorstellung einer intellektuellen "Gleichheit" zwischen den Rassen, ihrer kognitiven Äquivalenz, die es ihnen erlaubt, in einer gleichen Weise in der kapitalistischen Gesellschaft zu konkurrieren. Aus der Sicht des liberalen Multikulturalismus existiert in der US-Gesellschaft Gleichheit nicht in der Folge einer kulturellen Deprivation von Schwarzen oder Latinos, sondern weil es keine gesellschaftlichen und erzieherischen Gelegenheiten gibt, die es erlauben, daß jeder in gleicher Weise auf dem kapitalistischen Markt konkurriert. Anders als ihre Kritiker glauben sie, daß existierende kulturelle, soziale und ökonomische Restriktionen modifiziert oder reformiert werden können, um die angestrebte Gleichheit zu realisieren. Dieser Ansatz fällt häufig in einen ethnozentrischen und repressiv universalistischen Humanismus, in dem die legitimierenden Normen, die den Inhalt von "citizenship" ausmachen, überwiegend mit denen aus angloamerikanischen kulturellpolitischen Gemeinden identifiziert werden.

Der linksliberale Multikulturalismus betont kulturelle Differenzen und legt nahe, daß die Vorstellung von der Gleichheit der Rassen jene bedeutsamen kulturellen Differenzen unterdrückt, die für unterschiedliche Verhaltensweisen, Werte, Haltungen, kognitive Stile und soziale Praktiken verantwortlich sind. Linksliberale Multikulturalisten haben das Gefühl, daß die mainstream-Ansätze in diesem Felde Charakteristika und Differenzen, die auf Rasse, Klasse, Geschlecht und Sexualität bezogen sind, verschließen. Die linksliberale Position hat einen Zug dazu, "Andersheit" zu exotisieren, in dem Differenzen auf eine urzeitliche Vergangenheit kultureller Authentizität zurückzuführen gesucht werden.

Diejenigen, die mit dieser Perspektive arbeiten, tendieren dazu, kulturelle Differenzen zu ontologisieren und dabei die historische und kulturelle Situiertheit von Differenzen zu ignorieren. Differenz wird verstanden als eine Form von Benennung, entfernt von sozialen und historischen Zwängen. Es handelt sich mithin um die Tendenz zu ignorieren, daß Differenz eine soziale und historische Konstruktion ist, was konstitutiv ist für die Macht gegenwärtiger Bedeutungen. Häufig wird angenommen, es gebe eine authentische "weibliche", "afro-amerikanische" und "latein-amerikanische" Erfahrung oder Lebensweise. Linksliberale Multikulturalisten behandeln Differenz als etwas Essentielles, das unabhängig von Geschichte, Kultur und Macht existiert. So wird man häufig aufgefordert, seinen Ausweis ('identitiypapers') vorzuweisen, bevor ein Dialog beginnen kann.

Diese Perspektive bindet Bedeutung in einer Weise an "authentische" Erfahrung, die zu dem Irrglauben führt, daß der Umgang mit der eigenen Herkunft in irgendeiner Weise von vorneherein die "politische Korrektheit" garantiere. Aber, weder die physische Nähe zu den Unterdrückten noch die Zugehörigkeit zu den Unterdrückten vermag jemandem eine besondere Autoritt einzuräumen. Es geschieht häufiger, daß Populismus und Elitedenken zusammenkommen, wenn etwa Innercity-Lehrer, Gewerkschaftler oder politische Aktivisten Vorrechte beanspruchen, die auf die eigene Geschichte, Klasse, Rasse, Geschlecht und Erfahrungen bezogen sind. Hier wird häufig das Politische auf das Persönliche reduziert, wird Theorie abgelehnt, weil die eigene persönliche und kulturelle Identität bevorzugt wird. Auch wenn gelebte Erfahrung, Rasse, Klasse, Geschlecht und Geschichte für die Bildung der eigenen politischen Identität relevant sind, muß man bereit sein, persönliche Erfahrungen und Ansprüche mit Bezug auf die ideologische und diskursive Komplexität ihrer Entwicklung zu untersuchen.

Natürlich spricht niemand im luftleeren Raum, ohne Anbindung (Hall 1991), aber dieser Prozeß der Bedeutungsproduktion ist zu hinterfragen, um zu verstehen, wie eine Identität ständig durch ein Spiel von Differenzen produziert wird, die an wechselnde und konfligierende diskursive und ideologische Beziehungen, Artikulationen und Formierungen angeschlossen sind (vgl. Giroux 1992; Scott 1992). Erfahrung muß als Stätte ideologischer Produktion und der Mobilisierung von Affekten erkannt werden; sie läßt sich als Überlappung unseres universalen und lokalen Wissens und unserer Verstehensweisen sowie mit Bezug auf ihre Beziehungen zu Sprache, Wunsch und Körper erforschen (vgl. McLaren 1990). J. Scott hat bemerkt: "Erfahrung ist die Geschichte eines Subjektes. Sprache ist die Stätte von Verordnungen der Geschichte" (1992:34). Ich argumentiere nicht gegen die Bedeutung von Erfahrung beim Prozeß der politischen Identitätsbildung; mir geht es aber darum, die Folgen herauszustellen, wenn mit dem Bezug auf 'Erfahrung' die Legitimität politischer Positionen und die unbestreitbare Geltung von Argumenten abgesichert werden soll. Dies hat häufig zu einer umgekehrten Form von akademischem Elitedenken geführt. So wird nicht nur die wissenschaftliche Autorität (in vielen Fällen zurecht) attackiert, sondern diese ist nur durch einen populistischen Elitismus, der auf dem eigenen 'identitypaper' basiert, ersetzt worden.

II

Vor dem Hintergrund dieser Kritik der Konzeptionen von konservativem, liberalem und linksliberalem Multikulturalismus im Kontext US-amerikanischer Gesellschaftsverhältnisse wird ein Vorschlag zur Konzeptualisierung eines kritischen Multikulturalismus vorgestellt, der vom Gesellschaftsverständnis der "kritischen Pädagogik" ausgeht. Entscheidend für die kritische Pädagogik ist die Vorstellung von der Offenheit des gesellschaftlichen Feldes, die u. a. zu der Aufgabe führt, dessen Risse, Brüche und "Schweigezonen" zu erforschen. Machtbeziehungen mögen nicht immer eine bewußte Gestalt annehmen, aber sie haben immer nicht intendierte Folgen für die tiefenstrukturellen Aspekte von Unterdrückung - auch wenn jeder ideologische Totalisierungsversuch des Sozialen scheitern muß. Widerstand gegen diese Machtverhältnisse bedeutet, das Soziale mit Hilfe eines reflexiven intersubjektiven Bewußtseins - von Freire als "Conscientizacao" - zu dekonstruieren. Damit einher geht die Erkenntnis, daß Ideologie mehr ist als eine epistemologische Angelegenheit in bezug auf den Status bestimmter Fakten, nämlich die Art und Weise, in der Diskurse und Diskurssysteme bestimmte soziale Beziehungen generieren als auch diese reflektieren. Ein reflexives intersubjektives Bewußtsein ist der Anfang, aber nur der Anfang, revolutionärer Praxis.

Zugleich müssen wir neue "Narrationen" - neue "border narratives" - schaffen, um sowohl die Unterdrückungsdiskurse in einer politisch subversiven Weise zu restrukturieren als auch Orte der Möglichkeit und der Befähigung zu bilden. So haben wir uns u. a. zu fragen, in welcher Weise unsere Identitäten mit historischen Formen diskursiver Praktiken verbunden sind. Dabei haben wir uns daran zu erinnern, daß die herrschenden Diskurse Orte des Kampfes sind und daß ihre Bedeutungen mit gesellschaftlichen Kämpfen und ökonomischen Beziehungen verbunden sind - und erst im Nachhinein naturhafte Gestalten annehmen. Konsequenterweise ist Selbstreflexion allein nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für Emanzipation. Sie muß einhergehen mit Veränderungen der materiellen und gesellschaftlichen Bedingungen in der Folge gegen-hegemonialer Aktion (Hammer/McLaren 1991; 1992). Die sozio-historische Dynamik der Klassen-, Rassen- und Geschlechtsherrschaft darf nie aus der Gleichung von Gesellschaftskämpfen herausgenommen werden oder einen hinteren Platz im soziologischen Seminarraum einnehmen. Wir brauchen eine Sprache der Kritik als "Gegengift" zu dem atheoretischen Gebrauch von "persönlicher Erfahrung", um emanzipatorische Aktionen voranzubringen. Alltagsbewußtsein ist nicht genug. Gleichwohl bedarf dies alles der Entwicklung tatsächlich gegen-hegemonialer öffentlicher Sphären. Wir brauchen mehr als rhetorische Ersetzungen der Unterdrückung durch einen strategischen und koordinierten Widerstand gegen den rassistischen patriarchalischen Kapitalismus und geschlechtsspezifisch getrennte Arbeitsbeziehungen. Teresa Ebert zufolge (i.D.) ist eine Intervention in das System patriarchalischer Unterdrückung nötig sowohl auf dem makropolitischen Level der strukturellen Organisation von Herrschaft (eine Transformationspolitik von Arbeitsbeziehungen) als auch auf dem mikro-politischen Level der verschiedenen und widersprüchlichen Erscheinungen von Herrschaft (kulturelle Politiken).

Diejenigen von uns, die im Bereich der Curriculumreform arbeiten, müssen das Sensationsniveau der "political correctness"-Debatte überwinden und die Frage der "Differenz" ernst nehmen. So müssen wir

1. darüber hinaus kommen zuzugeben, daß ein oder zwei lateinamerikanische oder afro-amerikanische Bücher in den Kanon der großen Werke gehören. Wir müssen vielmehr mehrere Traditionen von Wissen legitimieren. Wenn wir uns allein nur auf den Tatbestand der Verschiedenheit beziehen, verstärken wir nur die Macht der Diskurse aus der westlichen Tradition, die die Kontexte gesellschaftlicher Privilegien herstellen. Im Rahmen der Curriculumreform werden

2. Lehrer benötigt, die die diskursiven Vorannahmen curricularer Praktiken mit Bezug auf Rasse, Klasse, Geschlecht und sexuelle Orientierung hinterfragen. Diese müssen also ihre Selbstzufriedenheit in bezug auf den darin verkörperten Eurozentrismus erschüttern.

3. ist das zu ersetzen, was als inhärente Überlegenheit westlicher Rationalität und 'weißer Hautfarbe' sich darstellt. Wenn "westlich" herausgestellt wird, finden das kritische Erzieherinnen höchst problematisch. Warum wird z. B. Tony Morrison als nichtwestlich denunziert, nur weil sie eine Afro-Amerikanerin ist?

4. Curriculumreform bedeutet die Erkenntnis, daß Gruppen beim Produzieren von westlichem und hoch angesehenem Wissen unterschiedlich situiert sind. Wie werden bestimmte Gruppen durch das offizielle Wissen repräsentiert, mit dem das Curriculum gebildet wird? Werden sie stigmatisiert, weil mit Ihnen die "Dritte Welt" verbunden wird? Werden wir, als Lehrerinnen, zu Mittäterinnen an der Unterdrückung dieser Menschen, wenn wir uns weigern, populäre Filme und Fernsehshows, die ihren subalternen Status verstärken, zu hinterfragen? Erzieherinnen werden gut daran tun, einem Vorschlag von Hooks zu folgen, rassistische Diskurse zu destruieren, so daß "progressive weiße Menschen, die antirassistisch sind, ein Verständnis davon erlangen, wie ihre kulturellen Praktiken eine weiße Überlegenheit verlängern, ohne parallelisierende Schuld oder Leugnungen zu befördern" (1992:177). Reform des Curriculum bedeutet somit, die Stimmen der Unterdrückten zu stärken; Lehrerinnen müssen den Marginalisierten und Machtlosen Präferenzen verschaffen. In ähnlicher Weise müssen Studentinnen ermutigt werden, eigene, oppositionelle Lesarten curricularer Inhalte zu produzieren. Und schließlich muß

5. innerhalb der Curriculumrefom herausgestellt werden, wie entscheidend es ist, Räume für die Verschiedenheit der Stimmen in unseren Klassen zu schaffen, um eine dialogische Pädagogik zu entwickeln, in der Subjekte andere als Subjekte sehen und nicht als Objekte. Wenn dies geschieht, können Studentinnen sich eher an der Gestaltung von Geschichte beteiligen, als daß sie Opfer und Unterworfene werden.

Indem sie die gesellschaftliche Materialität von Diskursen wie auch die Tatsache, daß die Bedeutung der Diskurse immer organisiert und interessegeleitet ist, ernst genommen hat, konnte die "kritische Pädagogik" enthüllen, auf welche Weise die Identitäten von Schülerinnen in ihrer Unterschiedlichkeit konstruiert werden: Durch gesellschaftliche Beziehungen, die dem Bildungssystem unterlegt sind, und die die asymmetrischen Machtbeziehungen und Privilegien zwischen den Herrschenden und Beherrschten fördern und erhalten. Zugleich hat sie nachgewiesen, daß diese Konstruktion einem normativen Profil von "citizienship" folgt und einer Epistemologie, die den Diskurs über Ideale mit dem Diskurs der Bedürfnisse zu versöhnen sucht. Es hat sich gezeigt, daß Diskurse die Macht einschließen, andere als deviant oder als normal zu definieren. Dominante Diskurse im Schulsystem sind keine Naturgesetze. Sie sind vielmehr Strategien zur Durchsetzung normativer Vorstellungen und Ausübungen von "citizienship". So hat Ian Hunter (1992) aufgewiesen, daß das "citizen"-Konzept, so wie es in der Schule gelehrt wird, weniger mit ethischen Idealen zu tun hat als mit disziplinären Praktiken und Techniken des Schreibens und Lesens - zusätzlich ist darin die Verteilung von Schülerinnen in politische und ästhetische Sphären enthalten. Wir sollen ästhetisch und moralisch mit der herrschenden Norm eines zivilen Unbewußten versöhnt werden. Das "Unbewußte" ist aber kein semiotisches Puzzle, das durch die Entdeckung einer universellen Grammatik erschlossen werden kann, es ist vielmehr eine ethische Technologie, die die Schülerinnen als Bürgerinnen "komplettieren" soll. Pädagogisch betrachtet ist dieser Prozeß irreführend, weil mit ihm ein liberaler Humanismus und die Tradition der "progressive education" benutzt werden, um das Reich der Hegemonie abzuschließen. Die liberale pädagogische Position besteht darin, soziale Texte für eine Pluralität von Lesarten zu öffnen. Weil wir in einem Zeitalter der zynischen Vernunft leben, versorgt diese Pädagogik die Schülerinnen mit einem "wissenden Augenzwinkern", so daß diese sagen können: "Wir wissen, daß es verschiedene Möglichkeiten gibt, die Welt mit Sinn auszustatten, und wir wissen, daß Du das auch weißt. So laßt uns wissend in diese Welt der verschiedenen Interpretationen eintreten und Spaß daran haben, die herrschenden Codes zurückzuweisen". Konsequenterweise engagieren sich Lehrer und Schüler im Ersetzen und Erschüttern normativer Diskurse, und sie feiern den semantischen Überschuß, mit dem verhindert wird, daß eine Bedeutung transzendental fixiert werden kann. Das Resultat dieser Praxis, mit dem Wissen in fließende Signifikate übersetzt wird, die in einem avantgardistischen Text zirkulieren, ist aber nur die erneute Abwehr des Politischen. Indem von vornherein Unentscheidbarkeit angenommen wird, wird Identität reduziert auf eine Form von Selbst-Indexikalisierung oder zu einer akademischen Mode. Befreiung wird transformiert in eine Art diskursiver Cleverness, in einen postmodernen Chic.

Demgegenüber plädiere ich dafür, daß Schülerinnen die Gelegenheit benötigen, Grenz-Identitäten ("border identities") zu entwickeln. Grenz-Identitäten sind intersubjektive Räume kultureller Übersetzung - mehrdeutige Räume interkulturellen Dialogs. In diesen Räumen gibt es eine Mehrwertigkeit von Codes, eine Vielheit von kulturell vermittelten Subjektpositionen, eine Ersetzung von normativen Referenzcodes, eine mehrwertige Zusammensetzung von neuen kulturellen Bedeutungen (Giroux 1992; McLaren i. D.).

Insbesondere die SchülerInnen in Schulen der "inner-cities" leben das, was ich "border cultures" nenne. Hier handelt es sich um Kulturen, die, während es eine Wiederholung bestimmter normativer Strukturen und Codes gibt, oft mit anderen Strukturen und Codes, deren Zusammenhänge häufig nur partiell oder gänzlich unbekannt sind, kollidieren. So kann etwa in Los Angeles eine Nachbarschaft in der "inner-city" aus lateinamerikanischen, asiatischen und angelsächsischen Kulturen bestehen, so daß die SchülerInnen ein interkulturellen Leben führen, wenn sie die Grenzen linguistischer, kultureller und konzeptueller Wirklichkeiten überschreiten. Schülerinnen haben demzufolge die Möglichkeit, multidimensional zu leben. Weil das herrschende Modell von Multikulturalismus in der Mainstream-Pädagogik von korporatistischer oder konservativer Art ist, wird eine Vorstellung von Gleichheit vertreten, mit der kulturelle Differenzen, die die weißen angelsächsischen Kulturen herausfordern, als abweichend betrachtet werden; diese müssen verstärkt angeglichen werden an die dominanten Codes und Strukturen von euro-amerikanischen Diskursen.

Ich stimme den Kritikern zu, die behaupten, daß eine Grenz-Identität weder unter eine dialektische noch unter eine analytische Logik untergeordnet werden kann (Hicks 1991). Es handelt sich eher darum, die Deterritorialisierung von Bedeutung in einem postnationalistischen kulturellen Raum, also in einem postkolonialen, postnationalen Raum, zu erfahren (Larsen 1991).

Es handelt sich um eine Identitätsstruktur, die in einem postimperialistischen Raum kultureller Möglichkeiten auftaucht.

Das postkoloniale Subjekt, das aus der Konstruktion von Grenz-Identität erwächst, ist nicht-identisch mit sich selbst. Es erfordert eine neue Form von Handlungsfähigkeit außerhalb der euro-amerikanischen cartesianischen Diskurse. Es nicht einfach ein umgekehrter Eurozentrismus, sondern ein Rettungsversuch für alle modernistischen Befreiungsversuche von Unterdrückung für alle leidenden Menschen. Ich betone hier die Universalität der Menschenrechte, um zur gleichen Zeit Vorstellungen zu kritisieren, die einen essentialistischen Universalismus als Ort transzendentaler Bedeutung konzipieren. Mit anderen Worten, ich betone die Universalität dieser Rechte als historisch produziert. Soziale Gerechtigkeit ist ein Ziel, das historisch, kontextuell und kontingent als Produkt materieller Kämpfe gegen Erkenntnisweisen wie auch als Ergebnis institutioneller und gesellschaftlicher Praktiken zu verstehen ist. Es ist nötig, sich darüber klar zu werden, was man meint, wenn man von sozialer Gerechtigkeit und menschlicher Freiheit spricht. Ich meine, daß das Projekt, das einer multikulturellen Erziehung unterlegt ist, nicht nur vom Standpunkt des konkreten Anderen, sondern auch von dem des verallgemeinerten Anderen her zu betreiben ist. Alle universellen Rechte müssen die besonderen Bedürfnisse und Wünsche des konkreten Anderen anerkennen, ohne den Standpunkt des verallgemeinerten Anderen zu opfern - ohne dies läßt sich nicht von einer radikalen Ethik sprechen.

Seyla Benhabib unterscheidet in dieser Hinsicht zwischen einem "interaktiven Universalismus" und einem "Substitutionellen Universalismus": "Der substitutioneile Universalismus bringt den konkreten Anderen hinter der Fassade einer definitorischen Identität, die alle rationalen Wesen umfaßt, zum Verschwinden, während der interaktive Universalismus anerkennt, daß jeder verallgemeinerte Andere ebenso ein konkreter Anderer ist" (1992: 165).

Diese Position redet weder exklusiv einer liberal-humanistischen Ethik der Empathie und Milde das Wort noch einer grotesken postmodernistischen Ethik lokaler Narrationen; sie ist vielmehr ausgerichtet an Engagement, Konfrontation und Dialog sowie einer kollektiven moralischen Argumentation zwischen den Grenzen und grenzüberschreitend. Sie zieht dabei Probleme von Makro- und Mikrotheorie in Betracht (Best/Keller 1991) sowie die Frage der normativen Rechtfertigung und der Beurteilung von Wahlen. Wie Best und Keller geschrieben haben (1991:301), "brauchen wir neue kritische Theorien, um makrosoziale Prozesse zu konzeptualisieren, zu beschreiben und zu interpretieren, genauso wie wir politische Theorien brauchen, die es erlauben, allgemeine Interessen zu artikulieren, die die Teilungen von Sex, Rasse und Klasse zerschneiden." Daher muß ein kritischer Multikulturalismus die methodologischen Annahmen prüfen, die die Wahl von Narrationen leiten sowie die Prinzipien klären, die darüber Auskunft geben, in wessen Namen man spricht (Benhabib 1992:226).

Eine Grenz-Identität ist nicht nur einfach eine Identität, die antikapitalistisch und gegenhegemonial ist, sondern sie ist gleichzeitig kritisch utopisch. Es handelt sich um eine Identität, die die Last des Wissens in einen Skandal der Hoffnung transformiert. Die destruktiven Extreme des Eurozentrismus und national-kultureller Identitäten müssen vermieden werden. Wir müssen Orte besetzen zwischen unserem politisch Unbewußten sowie unseren Alltagspraktiken und -kämpfen. Geleitet werden muß dies durch einen universalistischen emanzipatorischen Standpunkt in der Form einer provisorischen Utopie. Eine utopische Vision dieser Art macht es erforderlich, daß wir die Kontrolle über die Produktion von Bedeutung gewinnen - allerdings in einem postnationalistischen Sinne. Wir können dies erreichen, indem wir die Grenzen unserer Identität aushandeln, in unserer Suche nach einer radikalen Andersheit, die uns darin bestärken kann, über sie hinaus zu gehen.

Grenz-Identitäten verkörpern einen kühnen Verstoß gegen die Vorstellung von Normalität, eine Verletzung des Kanons bourgeoisen Anstands, einen Raum, in dem wir die Spuren unserer narrativen Repression ausschlachten können, oder wir nutzen sie kritisch mit Hilfe einer Praxis kultureller Übersetzung - einer Übersetzung von einem Level der Wirklichkeit auf einen anderen, die Schöpfung einer multidimensionalen Wirklichkeit, die ich das kulturelle Imaginäre nenne, einen Raum kultureller Artikulation, der aus der Kollision multipler Fäden von Referenzcodes resultiert.

Eine kritische Gesellschaftstheorie muß sich als Form multi-kultureller Widerständigkeit bedachtsam verhalten, wenn sie eine befreiende Praxis in einem diakronen Bereich verortet - als etwas, das dialektisch in irgendeiner höheren Einheit außerhalb von historischen Kämpfen, Schmerzen und Leiden, denen wir als pädagogische Zeugen und Träger radikaler Hoffnung zu dienen haben, aufgelöst wird. Zur gleichen Zeit muß sich die "kritische Pädagogik" davor in acht nehmen, in Formen eines populistischen Elitismus zu verfallen, die nur die Reformanstrengungen derjenigen privilegieren, die direkte Erfahrungen mit den Unterdrückten haben. Denn es gibt keine "authentische" und unhintergehbare Wirklichkeit, die durch "Erfahrung" erreicht werden kann, da keine Erfahrung präontologisch, jenseits einer Politik der Repräsentation verfügbar ist. Als multikulturelle Erzieherinnen, die durch kritische und feministische Pädagoginnen gestützt werden, haben wir dafür Sorge zu tragen, daß die Schülerinnen mit der Macht des Unerträglichen und des Bequemen sowie dem Undenkbaren verbunden werden, indem wir kritische Formen von Politikanalyse und Pädagogik produzieren. In Verbindung damit müssen wir den Schülerinnen aktiv helfen, wenn es darum geht, diskursive Hierarchien herauszufordern. Es ist entscheidend, daß wir als kritische Erzieherinnen die Schülerinnen weder dazu manipulieren, unsere intellektuellen Positionen zu akzeptieren, noch daß wir vorgeben, für sie zu sprechen. Weiter sollte unsere kritische theoretische Arbeit nicht einfach ein Dienst an der Kultur der Herrschaft sein, indem Einsichten der SchülerInnen in das gegenwärtige System vermittelt werden, ohne zur gleichen Zeit die Voraussetzungen dieses Systems in Frage zu stellen. Wir können es uns nicht leisten, die Schülerinnen nur zeitweise von der Doxa, der Sprache des common sense, zu lösen. Wenn es uns darum geht, Schülerinnen für eine transformative Praxis zu gewinnen, müssen diese nicht allein dazu ermutigt werden, eine analytische Sprache zu wählen, die durch ein Projekt der Befreiung untermauert ist, sie müssen auch affektiv in dieses Projekt investieren.

Wenn wir von der Endlichkeit unseres Daseins als passive Zuträger der Geschichte erlöst werden wollen, müssen wir uns - als Schülerinnen und Lehrerinnen - direkter als bisher oppositionelle und politisch kämpferische soziale und kulturelle Praktiken aneignen. Der zerstörerische Fanatismus der gegenwärtigen Xenophobie wird nur noch verschlimmert durch die gegenwärtige ethische Bewegungslosigkeit und Unerregbarkeit in manchen linken Kreisen.

Aufständische Intellektuelle und Theoretiker sind aufgerufen, einen Kurs zu finden zwischen dem Festhalten an veralteten Urteilen sowie Positionen und dem Weg postmoderner Verzweiflung, die in den freien Fall des Hochgefühls politischer Impotenz führt, zu finden. Ich stimme hier den Analysen von Cornel West (1990) und Henry Louis Gates (1992: 192) zu, daß "eine linke Politik, die sich nur noch eine qualvolle Beziehung zum real gewordenen Liberalismus vorstellen kann, eine bankrotte Politik ist" und umgekehrt, "daß ein auf Rechten basierender Liberalismus, der radikale (und konservative) Kritiken nicht beantworten kann, in der Tat verarmt ist".

Übersetzung aus dem Englischen: Heinz Sünker

Bei diesem Text handelt es sich um den Auszug aus einem größeren Artikel, der unter dem Titel "White Terror and Oppositional Agency: Towards a Critical Multiculturalism" erscheinen wird, in: Siebren Miedema et al. (Eds.): The Politics of Human Science. Brussels 1994

Literatur

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