Pfad: Startseite > Hefte > 1999 > Entbehrlich für die Arbeitsgesellschaft?

 
Startseite Suchen Druckansicht imagemap Schrift verkleinern Schrift vergrößern

Heft 72: Glücklose Arbeit - Arbeitsloses Glück? Zum gesellschaftlichen Diskurs über Arbeit und Arbeitslosigkeit

1999 | Inhalt | Editorial | Leseprobe

Titelseite Heft 72
  • Juni 1999
  • 124 Seiten
  • EUR 11,00 / SFr 19,80
  • ISBN 3-89370-307-1

Berthold Vogel

Entbehrlich für die Arbeitsgesellschaft?
Arbeitslosigkeit und Ausgrenzungsrisiko in den neunziger Jahren

Allen Spekulationen über einen heranbrechenden "Kapitalismus ohne Arbeit" zum Trotz - die Erwerbsarbeit verschwindet nicht, sie strukturiert sich neu. Diese Neustrukturierung hat Konsequenzen für die Entwicklung der Arbeitsmärkte, für die Organisation und Gestaltung der Beschäftigungsverhältnisse und für die Formen der Arbeitslosigkeit. Diese Formveränderungen der Arbeitslosigkeit werden seit einigen Jahren in der politischen Öffentlichkeit und in den Sozialwissenschaften unter dem Begriff der Ausgrenzung diskutiert (vgl. Kronauer 1997). Der Ausgrenzungsbegriff signalisiert, daß sich seit einigen Jahren nicht nur die quantitativen Dimensionen der Arbeitslosigkeit, sondern auch deren gesellschaftliche Qualität verändert hat - die Arbeitslosigkeit droht die Gesellschaft zu spalten. Der vorliegende Beitrag arbeitet heraus, inwiefern sich Arbeitslosigkeit heute stärker als noch in den achtziger Jahren mit Ausgrenzungsrisiken verknüpft (I), welche Verlaufsformen von Ausgrenzung durch Arbeitsplatzverlust empirisch identifizierbar sind und wie Ausgrenzung von Arbeitslosen erlebt wird (II) und welche gesellschaftlichen Folgen die veränderte Qualität der Arbeitslosigkeit nach sich zieht (III).

1. Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung - die veränderte Qualität des Arbeitsplatzverlustes in den neunziger Jahren

Für die Mehrheit der Arbeitslosen stellt der Verlust des Arbeitsplatzes nach wie vor eine biographische Übergangsphase dar, die durch eine mehr oder weniger rasche Rückkehr ins Erwerbsleben beendet wird. Arbeitslosigkeit führt auch in den neunziger Jahren keineswegs zwangsläufig zu gesellschaftlicher Marginalisierung oder Ausgrenzung. Der Umstand, daß Arbeitslosigkeit transitorisch ist, also einen bestimmten Abschnitt im Lebenslauf markiert, ist historisch freilich nicht neu. Denn seit Beginn des Industriekapitalismus war der periodische Verlust des Arbeitsplatzes fester Bestandteil insbesondere von Arbeiterbiographien. Bemerkenswert ist im Rückblick vielmehr, in welchem Maße es den westeuropäischen Staaten in den "dreißig glorreichen Jahren" der Nachkriegsentwicklung gelungen war, das Ausmaß, die Dauerhaftigkeit und das Risiko der Arbeitslosigkeit gerade für die "arbeitenden Klassen" zu reduzieren.

Vor diesem gesellschaftsgeschichtlichen Hintergrund trat die Langzeitarbeitslosigkeit Anfang der achtziger Jahre als neue soziale Problemlage hervor. Spielte bis zu diesem Zeitpunkt der langfristige Verlust der Erwerbsarbeit in Westdeutschland nur eine geringe Rolle, verzeichnen wir seitdem dessen ungebrochenen Anstieg. Für eine wachsende Zahl von Erwerbspersonen beschränkte sich der Verlust der Erwerbsarbeit nun immer weniger auf kurze Perioden des Erwerbslebens. Die Arbeitslosigkeit begann sich in den Biographien bestimmter Gruppen der Erwerbsbevölkerung festzusetzen. In Zahlen: Der Anteil der Langzeitarbeitslosen am Bestand an Arbeitslosen hat sich in Westdeutschland zwischen 1980 (12.9%) und 1997 (34%) nahezu verdreifacht. Im September 1997 lag in Gesamtdeutschland die offizielle Zahl der länger als ein Jahr Arbeitslosen bei 1,5 Millionen, die extreme, zwei Jahre und länger anhaltende Arbeitslosigkeit bei offiziell ausgewiesenen 0,6 Millionen (vgl. ANBA 1998). Doch diese Kennziffern zur Dauer der Arbeitslosigkeit verbergen einen Gutteil des Problems. Denn wir wissen, daß das Ausmaß der Langzeitarbeitslosigkeit, vor allem der Arbeitslosigkeit über zwei Jahre, durch die Statistik der Bundesanstalt für Arbeit systematisch unterschätzt wird, seitdem seit Mitte der achtziger Jahre die Grundlagen für die Berechnung der Dauer der Arbeitslosigkeit mehrfach modifiziert wurden. Darauf verweisen beispielsweise zwei repräsentative Umfragen aus den Jahren 1988 (Mikrozensus) und 1989 (Infratest), die für die alten Bundesländer zu dem Ergebnis kamen, daß die Zahl der Arbeitslosen, die angaben, zwei Jahre und länger nicht mehr erwerbstätig gewesen zu sein, über 50% höher lag, als offiziell statistisch ausgewiesen (vgl. Rudolph 1992: 161). Eine Studie aus den neunziger Jahren zeigt auf der Datengrundlage des Sozioökonomischen Panels (SOEP), daß der Umfang der Langzeitarbeitslosigkeit von der amtlichen Statistik um gut 40% unterschätzt wird (Wagner 1995). Eine eigene Untersuchung, bei der wir uns in einer ausgewählten westdeutschen Region auf Datensätze stützen konnten, die von den Arbeitsämtern selbst erhoben wurden, bestätigte diese Diskrepanz zur offiziellen Statistik (vgl. Kronauer/Vogel/Gerlach 1993: 47ff.; vgl. auch Kronauer/Vogel 1998: 338f.). Wir können also davon ausgehen, daß die Realität der Langzeitarbeitslosigkeit weit tiefer in die Arbeitsgesellschaft der neunziger Jahre eingedrungen ist, als es in den Zahlen der Arbeitslosenstatistik zum Ausdruck kommt.

Insbesondere in Ostdeutschland hat sich die Langzeitarbeitslosigkeit im Zuge der tiefgreifenden Umgestaltung von Arbeitsmarkt und Beschäftigung binnen kurzer Zeit zu einem gewichtigen Strukturproblem des Erwerbssystems entwickelt (vgl. insgesamt Vogel 1999). Auf der Grundlage einer Auswertung des SOEP-Ost zeigt beispielsweise Lutz (1996), daß diejenigen, die im Transformationsprozeß einmal ihre Arbeit für einen längeren Zeitraum verloren haben, in starkem Maße Gefahr laufen, dauerhaft keinen Zugang zum Erwerbssystem mehr zu finden. Die Auswertungen zeigen, daß zwei Drittel der 1994 in den neuen Bundesländern registrierten Arbeitslosen seit der "Wende" 1990 keiner regulären Erwerbstätigkeit (am "ersten" Arbeitsmarkt) mehr nachgingen und ihre Arbeitslosigkeit bestenfalls durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen oder Fortbildung unterbrechen konnten. In Ostdeutschland verdichtet sich daher "das Bild einer mehr oder minder schrittweisen, aber zunehmend definitiven Aussteuerung eines großen Teils der Arbeitslosen aus dem Erwerbsleben" (Lutz 1996: 159f). Die Umgestaltung des ostdeutschen Arbeitsmarktes produziert auf diese Weise eine Soziallage "überzähliger" Arbeitskräfte (vgl. Vogel 1999).

Kurzum, nicht nur die quantitative Dimension der Arbeitslosigkeit hat sich in den neunziger Jahren verändert, sondern auch die Qualität des Arbeitsplatzverlustes. Die Gefahr der Ausgrenzung durch einen dauerhaft blockierten Zugang zu Erwerbsarbeit wächst. Eine neue soziale Spaltungslinie zwischen denen, die Zugang zur Erwerbsarbeit haben und denen, denen dieser Zugang weitgehend versperrt bleibt, bricht auf. Was sind die Ursachen? Eine zentrale Ursache ist der technologische Wandel, der alle Branchen der Wirtschaft durchzieht, und der die Arbeitswelt grundlegend zu Lasten bestimmter Beschäftigtengruppen, in erster Linie der ungelernten Arbeitskräfte, verändert. Diese technologisch bedingte Umgestaltung der Arbeitswelt führt zu einer Professionalisierung der Erwerbsarbeit, d.h. der Zutritt zum Erwerbsleben erfordert in immer stärkeren Maße beruffachliche Qualifikationen. Diese Entwicklung korrespondiert mit dem Niedergang eines bestimmten (industriellen) Tätigkeitstyps - des un- oder angelernten Arbeiters. Nach Angaben des Statistischen Landesamtes Hamburg hat sich das Arbeitsplatzpotential für ungelernte Arbeitskräfte in Hamburg zwischen 1979 und 1995 mehr als halbiert (vgl. Wohlfahrt 1997) - ein bundesweiter Trend. Mit dieser Entwicklung ist ein weiterer Ursachenkomplex sehr eng verknüpft: die arbeitsorganisatorische Neugestaltung des Erwerbslebens. Das tariflich gesicherte, unbefristete Vollzeitarbeitsverhältnis verliert im Zuge dieser Entwicklung an Bedeutung, im Gegenzug gewinnen atypische Formen der Beschäftigung an Relevanz. Der Zuwachs an befristeter und geringfügiger Beschäftigung ist hier ebenso zu nennen wie der Boom der Zeitarbeit und die Entwicklung der sogenannten Scheinselbständigkeit. Zwar gehen diese Beschäftigungsformen nicht notwendigerweise mit einem mittel- bis langfristigen Risiko der Ausgrenzung oder Marginalisierung am Arbeitsmarkt einher, aber diese Formen der Teilhabe am Erwerbsleben machen anfällig für diese Risiken. Schließlich ist in diesem Zusammenhang die politisch-institutionelle Steuerung des Wandels der Arbeitswelt zu nennen. Den Interventionen der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik kommt bei der Regulierung und Organisation des Zugangs zum Erwerbsarbeitssystem eine Schlüsselstellung zu. Sie steuern maßgeblich das Verhältnis von Einbindung in und Ausschluß von Erwerbsarbeit. Die Arbeits- und Sozialämter sind in diesem Prozeß zentrale Instanzen, die darüber bestimmen, welche Personengruppen welchen arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Maßnahmen zugewiesen werden bzw. welche Personengruppen überhaupt noch (integrative) Angebote erhalten und welche nicht. Sie verfahren dabei nach dem Muster "integrativer Selektion" (Vogel 1999), d.h. integrative Arbeitsmarktpolitik setzt differenzierte und vor allem differenzierende bzw. selektive Angebote voraus. Arbeitsmarktpolitik, verstanden als ein Prozeß integrativer Selektion, prägt und formiert die erwerbsbiographischen Passagen und Übergänge zwischen Arbeitslosigkeit und Erwerbstätigkeit.

Wie schlagen sich nun die veränderten technologischen, qualifikatorischen und organisatorischen Rahmenbedingungen des Erwerbslebens und ihre politische Bearbeitung durch die Institutionen des Wohlfahrtsstaates am Arbeitsmarkt nieder? Wer ist von langfristiger Arbeitslosigkeit betroffen und läuft Gefahr, aus dem Erwerbsarbeitssystem ausgegrenzt zu werden? Welche Verlaufsformen der Ausgrenzung durch den Verlust der Erwerbsarbeit können wir dabei typischerweise unterscheiden?

2. Verlaufsformen der Ausgrenzung durch Langzeitarbeitslosigkeit

Die Gefahr, dauerhaft in Arbeitslosigkeit zu verbleiben und das Risiko der Ausgrenzung sind sozial ungleich verteilt. Unter Ausgrenzungsdruck stehen in erster Linie Erwerbspersonen, die entweder keine berufliche Qualifikation vorzuweisen haben, oder die zuletzt als Fachkräfte in absteigenden Branchen der Industrie, des Handwerks oder Handels tätig waren. Als verschärfende Faktoren treten gesundheitliche Einschränkungen und das Alter hinzu. Aktuelle Analysen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung weisen darauf hin, "daß 1997 im Westen fast jede vierte und im Osten bereits mehr als die Hälfte aller Personen ohne Berufsabschluß arbeitslos waren" (Engelbrech 1999:3; vgl. auch Reinberg/Rauch 1998).

Doch wie verlaufen Ausgrenzungsprozesse durch (Langzeit-)Arbeitslosigkeit? Im Rahmen einer empirischen Studie haben wir in offenen Interviews Erwerbsbiographien von langzeitarbeitslosen Frauen und Männern rekonstruiert. Auf der Basis dieser Erhebung können wir vier unterschiedliche Verlaufstypen der Ausgrenzung am Arbeitsmarkt unterscheiden: a) den plötzlichen Ausschluß von Erwerbsarbeit nach einer bis dahin stabilen Erwerbsbiographie; b) die allmähliche Ausgliederung aus Erwerbsarbeit, nachdem sich eine ehemals stabile Erwerbsbiographie destabilisierte; c) den Abbruch einer seit jeher instabilen Erwerbsbiographie und schließlich d) den von vorneherein versperrten Zugang zu Erwerbsarbeit, der einen Einstieg in eine Erwerbsbiographie verhindert hat. (1)

2.1 Plötzlicher Ausschluß von Erwerbsarbeit nach stabiler Erwerbsbiographie

Im ersten Verlaufstyp sind ausschließlich langzeitarbeitslose Männer vertreten. Sie sind alle älter als 45 Jahre und haben zum Teil mit erheblichen gesundheitlichen Belastungen zu kämpfen. Ihre Erwerbsbiographie ist davon geprägt, daß sie über lange Jahre in einem Betrieb, meist im industriellen Bereich, tätig waren und dort betriebs- und branchenspezifische Anlernqualifikationen erworben haben. Die große Mehrheit von ihnen hat keinen Beruf erlernt. Da ihr Tätigkeitsbereich überwiegend in niedergehenden Industriebranchen lag, ging der Arbeitsplatz in der Regel im Zuge des Stellenabbaus oder einer Betriebsschließung verloren. Nach dem Verlust dieses Arbeitsplatzes, den sie über lange Jahre innehatten und der ihre Erwerbsbiographie maßgeblich prägte, fanden sie als ungelernte Arbeitskräfte keine Neuanstellung mehr.

Ihre Lebenssituation ist durch Vereinzelung und Einsamkeit geprägt. Familiäre Bindungen spielen eine untergeordnete Rolle. Diese Arbeitslosen leben häufig alleine bzw. sind alleinstehend. Mit dem Verlust ihres Arbeitsplatzes schwanden rasch ihre sozialen Kontakte. Aus dem öffentlichen Raum haben sie sich in die "eigenen vier Wände" zurückgezogen. In öffentlichen Einrichtungen im Wohnquartier, die sich in ihrem Angebot häufig an Arbeitslose richten, trifft man sie nicht an. Auch ihre Arbeitssuche haben sie nach einer Geschichte des Scheiterns aufgegeben. In ihrem Rückzug vom Arbeitsmarkt wurden diese Langzeitarbeitslosen von seiten der Arbeits- und Sozialverwaltung geradezu bestärkt. Von Beginn ihrer Arbeitslosigkeit an wurden ihnen keine unterstützende oder eingliedernde Maßnahmen mehr angeboten. Im Gegenteil: Das Arbeitsamt betrachtet sie mit wohlwollendem Desinteresse als "aussichtslose Fälle", die dem Sozialamt zur weiteren Versorgung "überwiesen" werden. Dementsprechend hat sich unter diesen Arbeitslosen ein Bewußtsein sozialer Marginalität, Nutzlosigkeit und Überflüssigkeit herausgebildet - ein Bewußtsein, das sie beschämt und unter dem sie in extremer Weise leiden.

2.2 Allmähliche Ausgliederung aus Erwerbsarbeit nach Destabilisierung der Erwerbsbiographie

Im zweiten Verlaufstyp finden wir Männer und Frauen in der Altersgruppe zwischen 40 und 55 Jahren. Deren Erwerbsbiographie ist durch eine mehr oder weniger langen Prozeß der Destabilisierung und Prekarisierung geprägt. Diesen Destabilisierungsprozeß charakterisiert, daß auf den Verlust einer stabilen (d.h. länger als vier Jahre währenden) Beschäftigung immer kurzfristigere Beschäftigungsphasen folgten und sich in ihrer Erwerbsbiographie ein stetiges Wechselspiel von Arbeitslosigkeit und Erwerbstätigkeit aufbaute. Als besonders problematisch erwies sich für diese Arbeitslosen, daß sie gezwungen waren, von Beschäftigungsphase zu Beschäftigungsphase Zugeständnisse an die Arbeitsinhalte (Qualifikationsverlust), an die Beschäftigungsform (Befristung) und an die Entlohung zu machen. Das Wechselspiel von Beschäftigung und Arbeitslosigkeit setzte eine Spirale beruflicher Dequalifizierung und sozialer Deklassierung in Gang, die schließlich in dauerhafter Arbeitslosigkeit endete. Ihre Bereitschaft, Zugeständnisse an die Arbeitsmarktlage zu machen und bei der Arbeitssuche flexibel zu agieren, zahlte sich nicht aus. Diese Arbeitslosen verfügen zum Teil über betriebsspezifische Anlernqualifikationen, in der Mehrheit über Fachqualifikationen, die jedoch im Abstiegsprozeß verloren gegangen sind. In der Phase stabiler Beschäftigung waren sie schwerpunktmäßig im verarbeitenden Gewerbe und im Handel beschäftigt.

Insgesamt erleben sie ihre Erwerbsbiographie als drastischen Abstiegsprozeß in finanzieller, beruflicher und sozialer Hinsicht. Für die Mehrheit dieser Arbeitslosen kommt negativ hinzu, daß mit dem Verdrängtwerden aus dem Erwerbsleben auch familiäre sowie quartiersbezogene Bindungen verloren gehen. Aufgrund des dauerhaften Arbeitsplatzverlustes und der daraus resultierenden finanziellen und sozialen Folgen mußten sie ihr bisheriges Wohnquartier verlassen. Sie zogen (über die Wohnungsvergabe der Sozialämter gesteuert) in Quartiere zu, in denen bereits überdurchschnittlich viele Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger leben. Gerade dieser Zwang zur räumlichen Veränderung wird von den Arbeitslosen dieses Typs als Demonstration des eigenen sozialen Abstiegs erlebt. In ähnlicher Weise nehmen sie auch die Maßnahmen des Arbeits- und Sozialamts wahr. Die Zuweisung bestimmter Maßnahmen, ob Fortbildung, Anpassungsqualifikation oder befristete Beschäftigung in einer ABM, wird aus ihrer Perspektive als ursächlich für den Abstiegsprozeß angesehen. In die Mühlen der Arbeits- und Sozialverwaltung zu geraten, markiert nach ihrem Empfinden den Anfang vom Ende ihrer sozialen und beruflichen Etablierung bzw. Stabilität. Die Arbeits- und Sozialämter betrachten sie als selektive Instanzen, die ihnen in keiner Phase ihres beruflichen und sozialen Abstiegs Unterstützung bieten konnten. Im Unterschied zu den Langzeitarbeitslosen des ersten Verlaufstyps, die ihren Verlust der Erwerbsarbeit als jähe biographische Zäsur erlebt haben, sehen sich diese Arbeitslosen als allmähliche Absteiger, die im Laufe ihres Arbeitslebens immer stärker in die prekären Randbereiche der Erwerbsarbeitsgesellschaft gedrängt wurden. Gemeinsam ist den Arbeitslosen des ersten und zweiten Verlaufstyps dagegen, daß sie ihre soziale Lage als irreversibel betrachten.

2.3 Bruch einer instabilen Erwerbsbiographie

Die Langzeitarbeitslosen, die wir dem dritten Verlaufstyp zurechnen, sind zwischen 35 und 50 Jahre alt. Der Anteil von Männern und Frauen hält sich in etwa die Waage. Von den Arbeitslosen des ersten und zweiten Typs unterscheidet sie, daß ihnen im Laufe ihrer Erwerbsbiographie nie ein Einstieg in ein längerfristiges Beschäftigungsverhältnis glückte. In der Regel haben sie keinen Beruf erlernt, waren mit stets wiederkehrenden Unterbrechungen als Hilfsarbeiter im Transportgewerbe, auf dem Bau oder im Bereich privater Dienstleistungen beschäftigt, sie haben Maßnahmen des Arbeitsamtes durchlaufen oder waren in der "informellen Ökonomie", den Grauzonen des Arbeitsmarktes, tätig. Mit anderen Worten: Sie waren stets "Grenzgänger" zwischen periodischer Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit. Doch an einem bestimmten Punkt ihrer Erwerbsbiographie erfolgte ein Bruch, der das Wechselspiel zwischen Phasen der Erwerbstätigkeit und der Arbeitslosigkeit immer weniger oder gar nicht mehr erlaubte. Das Alter, zunehmende gesundheitliche Einschränkungen sowie der sich für "Jedermannstätigkeiten" und Gelegenheitsjobs verändernde Arbeitsmarkt sind hierfür verantwortlich.

Familiäre Kontakte spielen für diese Langzeitarbeitslosen seit jeher so gut wie keine Rolle, wichtig war für sie dagegen die Einbindung in soziale Netzwerke im Wohnquartier, die immer auch eine entscheidende Rolle für den Zugang zu "Jobs" gespielt haben. Vor allem diese soziale Einbindung ermöglichte es diesen Arbeitslosen über lange Jahre ihrer Erwerbsbiographie, eine ökonomische und arbeitsmarktbezogene Randexistenz innerhalb der Arbeitsgesellschaft zu führen. Doch je länger im Laufe der Zeit die Phasen der Arbeitslosigkeit wurden, desto stärker erodierten die vorhandenen Netzwerke. Wachsende soziale Isolation und Marginalisierung waren die Folge. Zudem sehen sich die Arbeitslosen dieses Typs in einen steten Kampf mit den Ämtern (vor allem dem Sozialamt) verwickelt, die sie ausschließlich als eine repressive Kontrollinstanz erleben, die ihnen insbesondere den Zugang zur informellen Ökonomie zu verbauen sucht. In deutlichem Unterschied zu den Langzeitarbeitslosen der beiden ersten Verlaufstypen sahen sich die Arbeitslosen dieses Typs schon immer als diejenigen, die am Rande der Arbeitsgesellschaft stehen - teils erzwungen, teils als gezielte Strategie. Das "Am-Rande-Stehen" ging für sie aber immer auch mit der Möglichkeit einher, jederzeit in Erwerbsarbeit zurückkehren zu können. Diese Option haben sie verloren. Dieser Verlust verschärft ihre finanzielle und soziale Lage erheblich und gibt ihnen das Gefühl, von Außenstehenden zu Ausgegrenzten geworden zu sein.

2.4 Versperrter Zugang zu Erwerbsarbeit

Im vierten Verlaufstyp treffen wir auf jüngere Langzeitarbeitslose in der Altersgruppe zwischen 20 und 30 Jahren. Sie haben bereits zahlreiche Warteschleifen in öffentlich geförderten Beschäftigungsverhältnissen oder im außerbetrieblichen Berufsbildungssystem durchlaufen. Charakteristisch ist für sie, daß sie Fördermaßnahmen immer wieder abgebrochen haben, und daß es ihnen nicht gelungen ist, sich über diese Maßnahmen beruflich zu qualifizieren. So blieb ihnen bislang der Zugang zur Erwerbstätigkeit im regulären Arbeitsmarkt versperrt. Von allen Langzeitarbeitslosen unseres Samples erfahren sie die stärkste arbeitsmarkt- und sozialpolitische Aufmerksamkeit. Die Integrationsaktivitäten der Ämter richten sich insbesondere auf sie. Von ihrer Seite werden diese Aktivitäten zwiespältig wahrgenommen: einesteils als eine mögliche Brücke in Beschäftigung, anderenteils als ein sinnloser Zeitvertreib, der alleine der Disziplinierung in der Arbeitslosigkeit dient. Insgesamt schätzen sie die Möglichkeit, sich dauerhaft im Erwerbssystem etablieren zu können, sehr pessimistisch ein.

Ihre bisherige Isolation in arbeitsmarktexternen Maßnahmen setzt sich in sozialer und räumlicher Isolation fort. Im Vergleich mit Erwerbstätigen ihrer Altersgruppe - ein Vergleich, der in den Gesprächen mit diesen Langzeitarbeitslosen stets präsent ist - sehen sie sich als sozial abgehängt. Sie beklagen, daß ihnen die finanziellen Mittel fehlen, um mit Gleichaltrigen mitzuhalten. Auch räumlich sehen sie sich in ihren Wohnquartieren als Eingeschlossene - ausgeschlossen von Mobilität und der Teilhabe an Aktivitäten innerhalb und vor allen Dingen außerhalb des Viertels. Doch im Unterschied zu den Langzeitarbeitslosen des ersten und zweiten Verlaufstyps schildern sie ihre soziale Lage in der Dauerarbeitslosigkeit nicht als irreversibel. Zwar beschreiben sie sich - mit Blick auf ihre Altersgenossen - als ausgegrenzte Einzelgänger, aber auf der anderen Seite wissen sie um die institutionellen Brücken, die ihnen nach wie vor gebaut werden. Zudem können sie aufgrund ihres Alters darauf hoffen, noch eine Anbindung an das Erwerbssystem zu finden - wie prekär diese auch immer sein mag. Dennoch: der verbaute Zugang zu Beschäftigung bereits zu Beginn der Erwerbsbiographie markiert in der Wahrnehmung dieser Langzeitarbeitslosen in besonderer Schärfe das Gefühl der eigenen Überflüssigkeit und fehlenden gesellschaftlichen Teilhabe.

3. Ausgrenzung durch Langzeitarbeitslosigkeit - was folgt?

Die skizzierten erwerbsbiographischen Verlaufstypen zeigen die Vielgestaltigkeit sozialer Randlagen der Arbeitsgesellschaft in den neunziger Jahren. Arbeitslosigkeit ist für verschiedene Gruppen der erwerbsfähigen Bevölkerung in unterschiedlicher Weise und auf unterschiedlichen Wegen zur erzwungenen Lebensform geworden. Am Rande der Arbeitsgesellschaft treffen wir auf die überzähligen Teile der Industriearbeiterschaft, auf deklassierte Fachkräfte unterschiedlicher Branchen, die durch den wirtschaftlichen Strukturwandel in eine Abstiegsspirale am Arbeitsmarkt geraten sind, auf ausgegrenzte Grenzgänger, die selbst in der Schattenökonomie kein Unterkommen mehr finden und auf überflüssige Jugendliche ohne Beruf, der der wachsenden Professionalisierung des Erwerbslebens nicht gewachsen sind. Mit dem dauerhaften Verlust der Erwerbsarbeit geht ihnen allen die soziale bzw. materielle Sicherheit und Selbständigkeit verloren. Sie büßen ihre soziale Stellung ein und die Teilhabe an "zivilisatorischen" Standards einer im Durchschnitt immer noch sehr reichen Gesellschaft bleibt ihnen verwehrt. Allen erwerbsbiographisch differenten Konstellationen zum Trotz ist den von uns befragten Langzeitarbeitslosen eines gemeinsam: die Erfahrung der Demoralisierung und der gesellschaftlich Deklassierung. Das Gefühl, nicht mithalten zu können und die Scham, anderen unterlegen zu sein, durchzieht die Interviews gleich einem roten Faden. Doch welche Konsequenzen ergeben sich hieraus für die Entwicklung einer im Umbruch befindlichen Arbeitsgesellschaft?

Vieles spricht dafür, daß sich an den Rändern der Arbeitsgesellschaft eine neue Soziallage der Entbehrlichen herauszubilden beginnt, die für den Kreislauf des Wirtschaftslebens dysfunktional und überzählig geworden sind. In der Existenz dieser Soziallage spiegelt sich der Relevanzverlust der Industriearbeit ebenso wider wie die Brüchigkeit der neuen Dienstleistungsökonomie insgesamt. Diese dauerhaft von Erwerbsarbeit ausgeschlossenen Entbehrlichen sind zum Objekt staatlicher Fürsorge und der damit verknüpften Kontrollstrategien geworden. Doch nichts deutet auf eine Protestbewegung der Ausgeschlossenen hin. Zu unterschiedlich sind die Erwerbsgeschichten, die den Einzelnen an den Rand der Arbeitsgesellschaft geführt haben und zu sehr sind die Arbeitslosen in den Kampf mit sich selbst und mit der Organisation ihres Alltags verstrickt. Die sich wiederholenden Konflikte und Auseinandersetzungen mit Ämtern und Behörden sowie der Versuch, mit geringen Mitteln das Leben zu bestreiten, fordern den Betroffenen ein hohes Maß an Kraft ab. Das Leben am Rande einer wohlhabenden Arbeitsgesellschaft vereinzelt. Zudem verläuft dieser Verdrängungsprozeß unter wohlfahrtsstaatlicher Kontrolle nach wie vor weitgehend unsichtbar. Die Interventionen der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik sorgen ebenso wie das dicht geknüpfte Netz sozialer Einrichtungen dafür, daß sich in den Städten (bislang) keine homogenen Ghettos der Armut herausbilden, oder daß ganze Stadtquartiere aufgegeben und sozial abgehängt werden. Zwar ist in den Großstädten der neunziger Jahre eine Konzentration von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängen in bestimmten Stadtvierteln zu beobachten, doch eine öffentliche Präsenz der Dauerarbeitslosen oder ein öffentliches Bild der Dauerarbeitslosigkeit existiert nicht.

Dennoch ist zu spüren, daß die Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit und die Herausbildung einer neuen Soziallage der Entbehrlichen die Struktur und das Klima der Arbeitsgesellschaft der neunziger Jahre verändert haben. Denn die skizzierte Formveränderung der Arbeitslosigkeit, auf die in den Sozialwissenschften mit dem Begriff der Ausgrenzung reagiert wird, bewirkt zweierlei: Sie erhöht zum einen den Druck auf diejenigen, die noch im Erwerbsleben stehen, da mit der Existenz einer Soziallage der Entbehrlichen Politik gegen die Arbeitenden gemacht werden kann. Kollektive Gefühlslagen der Unsicherheit und Statuspanik reichen daher bis weit in die Mitte der Arbeitsgesellschaft hinein und finden sich auf allen Hierarchieebenen des Erwerbslebens wieder. Zum anderen entfacht die zur Soziallage verfestigte Arbeitslosigkeit gesellschaftliche Verteilungskämpfe um knapper werdende Mittel wohlfahrtsstaatlicher Regulierung. Die Mittelklassen, die in besonderem Maße vom Ausbau des Wohlfahrtsstaates zu profitieren vermochten, sehen nun ihre Besitzstände gefährdet. Das Institutionengefüge sozialer Sicherung bzw. Fürsorge wird als sozialmoralisch zweifelhafter Kostenfaktor und als Innovationsblockade thematisiert. Kurzum, der Strukturwandel von Erwerbsarbeit und Arbeitslosigkeit beeinflußt die gesellschaftliche Diskussion über die Zukunft des Wohlfahrtsstaates. Dessen Insitutionensystem steht unter Finanzierungs- und Legitimationsdruck. Alles in allem wird deutlich: die Veränderungen an den Rändern der Arbeitsgesellschaft wirken spürbar auf deren Mitte zurück.

Nicht der Kapitalismus ohne Arbeit steht am Ende der neunziger Jahre auf der gesellschaftlichen Tagesordnung, sondern die Neuordnung des Verhältnisses von Teilhabe und Nichtteilhabe am Erwerbsleben. Der Kapitalismus verändert sein Gesicht (vgl. Herkommer 1999): Die Kluft zwischen den unterschiedlichen Graden des Zugangs zu Erwerbsarbeit wächst. In welcher Weise wird auf diese neuen sozialen Spaltungen zwischen Ausgeschlossenen, prekär Beschäftigten und stabil in Erwerbsarbeit Integrierten in Zukunft reagiert? Mit einem verschärften Verteilungskampf gegen die am Arbeitsmarkt Unterprivilegierten - die Entbehrlichen (vgl. Waquant 1999)? Oder gelingt es im Bewußtsein gemeinsamer Interessen von Zentrum und Peripherie neue insitutionelle Muster und Regulationsformen der Einbindung und Solidarität zu entwicklen? Die Antwort auf diese Frage wird die Lebens- und Arbeitsqualität der Gesellschaft der Zukunft maßgeblich prägen.

Anmerkung

1. Es handelt sich um eine laufende Untersuchung in zwei ausgewählten Stadtteilen Hamburgs. Insgesamt haben wir 112 qualitative Interviews mit langzeitarbeitslosen Frauen und Männern geführt. Die hier vorgestellte Typisierung von Ausgrenzungsverläufen ist Resultat einer ersten Sichtung des empirischen Materials. Im Rahmen dieses Beitrags verzichte ich auf quantifizierende Angaben zur Samplestrukturierung und zu Antwortverteilungen, da die Auswertungsarbeit noch nicht vollständig abgeschlossen ist.

Literatur

ANBA (Amtliche Nachrichten der Bundesanstalt für Arbeit) 1998: Arbeitsmarkt 1997. Arbeitsmarktanalyse für die alten und die neuen Länder. Sondernummer. Nürnberg

Engelbrech, Gerhard 1999: Folgen der Beschäftigungskrise. Zur aktuellen Beschäftigungsentwicklung bei ost- und westdeutschen Männern und Frauen. IAB-werkstattbericht Nr. 3 vom 12. März. Nürnberg

Herkommer, Sebastian (Hg.) 1999: Soziale Ausgrenzungen. Gesichter des neuen Kapitalismus. Hamburg

Kronauer, Martin 1997: "Soziale Ausgrenzung" und "Underclass": Über neue Formen der gesellschaftlichen Spaltung. In: Leviathan 1

Kronauer, Martin; Vogel, Berthold; Gerlach, Frank 1993: Im Schatten der Arbeitsgesellschaft. Arbeitslose und die Dynamik sozialer Ausgrenzung. Frankfurt/Main, New York

Kronauer, Martin; Vogel, Berthold 1998: Spaltet Arbeitslosigkeit die Gesellschaft? In: Berger, Peter A.; Vester, Michael (Hg.): Alte Ungleichheiten - Neue Spaltungen. Opladen

Lutz, Burkart 1996: Die mühsame Herausbildung neuer Beschäftigungsstrukturen. In: ders. et al. (Hg.): Arbeit, Arbeitsmarkt und Betriebe. Berichte zum sozialen und politischen Wandel in Ostdeutschland, Band 1. Opladen, S. 121-160

Reinberg, Alexander; Rauch, Angela 1998: Qualifikation und Arbeitsmarkt: Der Trend zu höherer Qualifikation ist ungebrochen. IAB-werkstattbericht Nr.15 vom 17. Dezember. Nürnberg

Rudolph, Helmut 1992: Strukur und Dynamik der Langzeitarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland 1980-1990. In: Brinkmann, Christian; Schober, Karen (Hg.): Erwerbslosigkeit im Zeichen des Strukturwandels. Chancen und Risiken am Arbeitsmarkt. Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (BeitrAB) 163. Nürnberg, S. 147-188

Vogel, Berthold 1999: Ohne Arbeit in den Kapitalismus. Der Verlust der Erwerbsarbeit im Umbruch der ostdeutschen Gesellschaft. Hamburg

Wacquant, Loic 1999: Die Armen bekämpfen. In: Le Monde diplomatique, April

Wagner, Alexandra 1995: Langzeitarbeitslosigkeit: Vielfalt der Formen und differenzierte soziale Lage. In: WSI-Mitteilungen 12. Köln, S. 749-759

Wohlfahrt, Sven 1997: Qualifikationsanforderungen an Vollzeitbeschäftigte 1979 bis 1995. In: Hamburg in Zahlen. Zeitschrift des Statistischen Landesamtes der Freien und Hansestadt Hamburg, Januar, S. 5-8

1999 | Inhalt | Editorial | Leseprobe