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Heft 79: Alles im Griff - Prävention als Sozialtechnologie

2001 | Inhalt | Editorial | Abstracts | Leseprobe

Titelseite Heft 79
  • März 2001
  • 120 Seiten
  • EUR 14,00 / SFr 19,80
  • ISBN 3-89370-351-9

Holger Ziegler

Prävention - Vom Formen der Guten zum Lenken der Freien

Abstract: In diesem Beitrag soll es zunächst um eine Bestimmung des Begriffs "Prävention" und eine Differenzierung hinsichtlich seines Herrschafts-, Objekt-, Funktions-, Zeit- und Theoriebezugs gehen. Im Anschluss daran wird die These vertreten, dass im Kontext der Krise des fordistischen Entwicklungsmodells die normalisisierenden Strategien der Prävention vor dem Hintergrund einer (sozial)staatlich erzeugten quasi-universellen Normalität zunehmend durch partikular-gemeinschaftliche und ökonomische Parameter vor dem Hintergrund sektoraler Hegemonien ersetzt werden.

"Belles of the Ball"

Der Begriff der "Prävention" erscheint als geeignete Formel für einen rationalen und vorausschauenden Umgang für alles, was mit Gefahr, Risiko, Unsicherheit, Konflikt und Unerwünschtheit in Verbindung stehen könnte. Damit lässt er sich auf alle möglichen (Problem-) Bereiche anwenden. Zumal in einer "Risikogesellschaft" (Beck 1986) hat die Rede von Prävention auch in der Sozialen Arbeit nicht nur Konjunktur, sondern ist in aller Regel überaus positiv konnotiert. Spricht man von Prävention, so suggeriert man, nicht erst als "Feuerwehr" auf vollendete Tatsachen zu reagieren, sondern selbst zu agieren, hervorzubringen und zu gestalten, "bevor es zu spät ist". Nicht zuletzt der Wandel von reaktiven zu präventiven Hilfeformen in der Sozialen Arbeit kennzeichne demnach ihre "Normalisierung" als "Standardangebot von Normalbiographien" (Merten/Olk 1999: 976). Hier steht Prävention zugleich für eine Kritik der praktizierten Interventionsformen in der Kinder- und Jugendhilfe (vgl. Böllert 1995). Auch bei den Strukturmaximen der "Lebensweltorientierung" wird Prävention an die erste Stelle gesetzt (vgl. Thiersch 1992:17).

Die Bedeutung der Zauberformel

Analytisch bezeichnet "Prävention" zunächst ein gegenwärtiges Bemühen, den Eintritt eines zukünftigen Zustands zu verhindern oder zu steuern, d.h. den Status quo des Nicht-, Nicht so- oder Nicht hier-Eingetretenseins eines Ereignisses zu erhalten. Während sich Prävention im engeren Sinne begrifflich dadurch auszeichnet, dass 'lediglich' ein möglicher Zukunftsentwurf ausgeschlossen wird, beinhalten die praktischen Strategien der Prävention oft zugleich den Versuch, einen bestimmten Zukunftsentwurf umzusetzen. Das bedeutet jedoch immer auch den Ausschluss alternativer Zukünfte, da "bei widersprüchlichen Interessen sich nur ein Impuls realisieren kann, während die anderen unberücksichtigt bleiben" (Schülein 1983: 17). In diesem Sinne ist "Prävention" logisch - nicht methodisch - repressiv.

Präventive Eingriffe vollziehen sich in einem Kontinuum zwischen zwei Polen, das zugleich auf das widersprüchliche Verhältnis von Individuum und Gesellschaft verweist. Bei Prävention kann es um ein Unbill gehen, das einem Individuum von den (Herrschafts-)Verhältnissen, den vorherrschenden Lebens-, Handlungs- und Verkehrsformen, den Strukturen gesellschaftlicher Praxisfelder und seiner Position(en) in diesen (vgl. Bourdieu 1987) widerfährt: Dann bezieht sie sich auf die Bearbeitung dieser Bedingungen im Interesse des Individuums, und zwar immer dort, wo diese dem von ihm gewünschten Zustand entgegenwirken. Prävention ist demnach theoretisch durchaus als subversive Strategie vorstellbar. Praktisch sind diese präventiven Bemühungen jedoch ihrerseits bevorzugtes Objekt einer Prävention, die darauf gerichtet ist, mögliche Subversionen und Abweichungen abzuwehren. In dieser ihrer hegemonialen Form bezieht sich Prävention auf den Ärger, den bestimmte Zustände, Entwicklungen, Einzelne oder Gruppen jenen machen, die diese Bedingungsmatrix aufrechterhalten wollen. In diesem Sinn stellt Prävention "eine Subkategorie sozialer Kontrolle" dar, die sich dadurch auszeichnet, dass sie "antizipatorisch vor dem jeweils praktizierten Verhalten" einsetzt (Lamnek 1994: 216). Gerade ihr antizipatorischer Charakter kennzeichnet Prävention als eine Strategie der Kontingenzbearbeitung. Sie kann entweder darauf abzielen, bestimmte Vorkommnisse zu verhindern, ihre Formen und Ausmaße zu verändern, oder darauf, sie in Kontexte zu leiten, in denen sie weniger störend oder einfacher zu 'managen' scheinen. - Je nach gesellschaftlichem Feld kann die eine oder andere Strategie vorherrschend sein. Wahrnehmbar ist derzeit ein Wandel der präventiven Strategien - von der Inzidenzvermeidung zur Kontingenzkanalisierung.

Differenzierung der Präventionsdimensionen

Bereichs- und zielgruppenbezogene Differenzierung

Eine wesentliche Differenzierung der Präventionskonzepte zielt auf die Frage, in welchen Bereichen etwas oder jemand abgeschreckt, verhindert, vermieden, reduziert, integriert, kontrolliert, diszipliniert, gesichert, unterstützt, (um-)gelenkt, substituiert, verbessert oder aber in Ruhe gelassen werden soll. Grundlegend scheint zunächst die Unterscheidung, ob sich die präventiven Bemühungen auf einen Akt oder Akteur beziehen. Im ersten Fall ist es möglich (nicht notwendig), dass Prävention lediglich durch die bloße Verhinderung einer zukünftigen 'Tat' auf die Erhaltung des Status quo abzielt. Eine Orientierung am Akteur hingegen - beispielsweise durch pädagogische Einflussnahmen - verweist immer auf den Versuch, den potenziellen Urheber einer unerwünschten Handlung selbst zu ändern. Sie zielt damit stets zugleich darauf ab, einen erwünschten Zustand zu erreichen und geht als aktuale Veränderung über eine bloße zukunftsbezogene Verhinderung hinaus. Nach der präventiven Logik ist das zu Verändernde nicht das Problem, sondern die Ursache für eine zu verhindernde Entwicklung. Diese hypothetische Zukunft liefert die eigentliche Legitimation für eine Intervention. Der Eingriff in die aktuale Situation ist jedoch nicht präventiv, sondern reaktiv, weil er auf bestehende Umstände und Zustände reagiert bzw. "zu jener hektischen Variante der Vorsicht (greift), die man Interventionismus nennt" (Castel 1983: 54).

In diesem Kontext lassen sich in fließenden Übergängen personale, soziale, situative und definitionsbezogene Präventionskonzepte unterscheiden. Während eine personale Prävention auf die einzelnen Subjekte selbst fokussiert ist, bezieht sich eine soziale auf die Formen und Verkehrsbeziehungen des gesellschaftlichen Lebens. Im Zentrum des Interesses einer auf den Akt bezogenen Situationsprävention stehen die situativen Gegebenheiten, die Risiken beinhalten oder hervorbringen könnten. Da die Risikowahrnehmung "im besonderen Maße offen für soziale Definitionsprozesse" (Beck 1986: 30) ist, bezieht sich eine definitionsorientierte Prävention auf die sozialen Risikoregulationen, durch die auf das differenzielle Kalkül von Gefahren Einfluss genommen wird (vgl. Ewald 1991). Wesentlich ist dabei, dass Risiken selbst nicht vorab bestimmt sind, sondern durch die Dimensionen von Wahrscheinlichkeit, Regelmäßigkeit und Berechnung konstituiert werden. Die präventive Qualität einer solchen Strategie liegt im symbolischen Kampf um hegemoniale Klassifikationsschemata (vgl. Bourdieu 1992). Die Entwicklungen bestimmter Risiken kann dadurch verhindert werden, dass ihre gesellschaftliche Erkennung und Anerkennung abgewehrt wird. Diese diskursive Form der Prävention verweist auf die Konstitution der zu prävenierenden Sachverhalte und der angemessenen Strategien, die letztlich davon abhängen, welche (klassenspezifisch) "objektiven" Interessen (vgl. Bourdieu 1987) die Risiken und ihre Bewältigungsversuche berühren. Zu unterscheiden wären sichtbare Bedrohungen im öffentlichen Raum, die v.a. von Seiten marginalisierter Gruppen erwartet werden, unsichtbare Aktivitäten der Eliten in den "Suits” sowie bedrohliche Vorkommnisse "behind closed doors", die sich im geschützten privaten Raum ereignen (vgl. Walklate 1996). Diese Differenzierung kann ferner um die risikoträchtigen Routinen und Aktivitäten der "Wohlanständigen" bzw. um die "Abweichung der Angepassten" (Frehsee 1991) und des Staates und seiner Institutionen erweitert werden. Offensichtlich werden Risiken sozialstrukturell hoch selektiv konstituiert.

Differenzierung nach Funktionsweisen

Prävention kann sich auf die Abschreckung eines Einzelnen beziehen, dem die Konsequenzen seiner Handlungen oder Dispositionen vor Augen geführt werden, oder auf allgemeine Abschreckung, indem die hierzu Fähigen bzw. Legitimierten ihre Bereitschaft zur Sanktion unerwünschter Handlungsformen und Lebensäußerungen in allgemeiner Form signalisieren und gelegentlich (am Einzelnen) auch demonstrieren. Diesen abschreckenden Varianten (z.B. in law and order-Kampagnen) stehen fördernde gegenüber, die auf Einsicht, Besserung, Erziehung, (Re-)Sozialisierung sowie Stützung und Aktivierung des 'Guten', Erwünschten und Angemessenen basieren. Beiden Formen ist gemeinsam, dass sie der Integration in die bestehende Logik sozialer Felder und der Reproduktion der jeweiligen Normalität und Normalitätsvorstellungen bzw. der Stabilisierung der bestehenden feldspezifischen Ordnungen dienen. Drittens steht quer zu diesen Varianten die Strategie der Unschädlichmachung bzw. des Ausschlusses: Störende Elemente werden aus einzelnen Sektoren oder insgesamt entfernt, um so ihr Gefährdungspotential zu beseitigen (z.B. Abschiebung von 'kriminellen Ausländern').

Zeitbezogene Differenzierung

Eine in der Sozialen Arbeit prominente Differenzierung geht auf eine medizinische Definition von Georges Caplan (1964) zurück. Im Wesentlichen bezeichnet sie das Einsetzen von Intervention im Zeitverlauf, in Form von primärer (Ausschaltung von Risikofaktoren), sekundärer (frühestmögliche Diagnose) und tertiärer Prävention (Rehabilitation) (vgl. Pschyrembel 1993: 1238). Im Bereich des Sozialen ist der sekundären und der tertiären Prävention eine personalisierende Strategie immanent, da sie sich auf 'gefährdete' bzw. 'gefährliche' Einzelne oder 'Risikopopulationen' bezieht. Demgegenüber stellt primäre Prävention eine weiter gefasste, vom Einzelnen abstrahierende, grundlegende gesellschaftspolitische "Regulation sozialer und klassenmäßiger Konflikte (dar), die normalisierend auf eine spezifische Form gesellschaftlicher Reproduktion zielt" (Böllert 1992: 161). In den Diskursen der Sozialen Arbeit war die Forderung nach primärer Prävention - etwa unter Bezug auf KJHG §1, Abs.1 - mit dem Gedanken verbunden, eine Alternative zu den klientifizierenden personenbezogenen Interventionen zu finden. Diese Perspektive hat für die Soziale Arbeit jedoch deutliche Grenzen. Das "uno actu-Prinzip" der Sozialen Arbeit als Dienstleistung suggeriert bereits, dass die Nutzer tatsächlich anwesend sind. Ist das Verhältnis von Sozialer Arbeit zur Sozialpolitik ferner dadurch gekennzeichnet, dass Soziale Arbeit jenen Bereich der (politischen) Bearbeitung des Sozialen darstellt, der nicht nur auf gesellschaftliche Positionen abzielt, sondern - in der Vermittlung von Individuum und Gesellschaft - immer zugleich eine Sensibilität gegenüber den Dispositionen der Subjekte aufweist, so kann sie strukturell kein Instrument primärer Prävention im engeren Sinne darstellen. Zumindest für die Soziale Arbeit scheinen sich sekundäre und tertiäre Prävention als Interventionslegitimation vor allem dadurch zu unterscheiden, dass die Gefährdung im ersten Fall als potenziell, im zweiten als inzident - genauer: durch hierfür legitimierte Instanzen festgestellt - betrachtet wird. Demgegenüber ist das Ziel - und oft auch die Methode - der Intervention letztlich dieselbe: Ein als wahrscheinlich unterstelltes (Wieder-)Auftreten von Gefahren oder Gefährdungen soll verhindert oder 'gemanaged' werden.

Es spricht einiges dafür, dass der präventive Handlungsmodus Sozialer Arbeit eine im Bezug auf Risiken "reaktive Bedingungsveränderung" (Peters 1995) - d.h. sekundäre Prävention - darstellt. Eine Abgrenzung zur tertiären Prävention innerhalb der Sozialen Arbeit verweist letztlich nur auf den Grad der (unterstellten) 'Gefährdung' bzw. 'Gefährlichkeit' der Adressaten.

Theoriebezogene Differenzierung

Schließlich ist es sinnvoll, die Präventionsstrategien nach ihrem theoretischen Bezug bzw. ihrem impliziten Gesellschaftsbild zu unterscheiden.

Positivistisch-individualisierenden Theorien zufolge ist das Risiko eine "dem Subjekt innewohnende Eigenschaft" (Castel 1983: 53). Die Risikosubjekte können von nicht riskanten anhand intrinsischer Merkmale unterschieden werden. Erklärungen, warum die Dispositionen eines Individuums 'so sind', reichen von (sozio)biologischen Erklärungsansätzen über psychologische, Anlage/Umwelt-Modelle und Lerntheorien bis hin zu soziologisch argumentierenden (multi)faktoriellen Ansätzen. Gemeinsam ist ihnen die Naturalisierung des Sozialen (vgl. WIDERPSPRÜCHE 1999). Die entsprechenden Präventionsansätze abstrahieren von gesellschaftlichen Prozessen und Strukturen zu Gunsten einer Beschränkung auf das Individuum, das entweder 'gebessert' oder 'unschädlich' gemacht werden soll. Präventionsziel ist die Reduktion unerwünschter Verhaltensweisen bei gleichzeitiger aktiver Stabilisierung des gesellschaftlichen Status quo (vgl. Albrecht 1999: 37).

Auch positivistisch-sozialstrukturelle Ansätze gehen von intrinsisch unterscheidbaren Klassen von Handlungen und Akteuren aus. An die Stelle von pathologischen oder fehlgeleiteten Individuen treten auffällige Gesellschaftsstrukturen, die einen sozialen Druck auf bestimmte Lebenslagen ausüben und Risiken evozieren. Diese Erklärungsansätze unterstellen ein inverses Verhältnis von individualisierbaren Gefährdungen und sozioökonomischer Gesellschaftsstruktur, das sozialpolitisch zu bearbeiten ist. Prävention bedeutet hier weitgehend den Versuch, die Anpassung an gesellschaftliche Erfordernisse und Normalitätsvorstellungen zu ermöglichen, die zentraler und unhinterfragter Bezugspunkt bleiben. Methodisch und operational ist die "reaktive Bedingungsveränderung" der Sozialen Arbeit eine Kernkomponente dieser Präventionsform.

Individualisierend-konstruktivistische Ansätze verstehen Risiken, Gefahren oder Gefährdungen als Produkte von Aushandlungsprozessen. Was positivistischen Ansätzen als fixe Eigenschaft gilt, erscheint hier als ein kontingentes Ergebnis von Konstruktionen, Interpretationen und Zuschreibungen, die vom Betroffenen durchaus inkorporiert und "verwirklicht" werden können. Prävention wäre demnach der Versuch, stigmatisierende Einflüsse zu vermeiden, die Interpretationen der Betroffenen mit einzubeziehen und Ressourcen zur Bewältigung von Lebenssituationen zu aktivieren.

Hegemonietheoretische und ideologiekritische Ansätze betrachten Risiken und deren Bearbeitung zwar ebenfalls als sozial produziert, konzentrieren sich aber vor allem auch auf die zu Grunde liegenden Produktionsverhältnisse. Die normativ fixierten Präventionsziele werden selbst nach den ihnen inhärenten Interessenstrukturen, Herrschafts-, Politik- und Staatsformen befragt. Prävention ist damit letztlich Gesellschaftspolitik mit dem Ziel einer Veränderung der kapitalistischen Gesellschaft und der Rolle des Staates (vgl. Albrecht 1999: 46). Es geht also um eine Sensibilisierung gegenüber Herrschaftsmechanismen, um Einmischung in Politikverhältnisse und Demokratisierungsprozesse bzw. um eine Haltung gegenüber dem (Sozial-)Staat, die auf "verteidigen, kritisieren und überwinden zugleich" zielt (Redaktion WIDERSPRÜCHE 1984: 121).

Fordismus: Prävention als Disziplinierung

Wenngleich Prävention in ihrer hegemonialen Form als Versuch einer vorgelagerten, sich selbst legitimierenden sozialtechnologischen Lösung 'sozialer Probleme' gefasst ist, können sich Präventionsstrategien sowohl als Mittel von Herrschaft wie Widerständigkeit, als konservative wie reformerische Ansätze offenbaren. Die Zielbestimmung präventiver Strategien ist von der symbolischen Benennungsmacht abhängig, mittels derer bestimmt werden kann, welche Unsicherheiten und Risiken auf welche Art und Weise präventiv bearbeitet werden sollen. Auch wenn sich die dominanten Zielvariablen mit der Abkehr vom fordistischen Entwicklungsmodell des Kapitalismus verändern, stellt Prävention weiterhin eine Vorverlagerung sozialer Kontrolle dar. Fasst man jedoch soziale Kontrolle als einen Überbegriff, der vor allem die Dimensionen (sanktionierende) Überwachung, soziale Disziplinierung, soziale Regulation - im Sinne einer Anordnung ökonomischer, sozialer und kultureller Elemente im sozialen Raum - und sozialer Ausschluss - als Sonderfall dieser Regulation - beinhaltet, so scheint sich das Verhältnis dieser Dimensionen verschoben zu haben.

Basierte das fordistische Entwicklungsmodell auf Massenproduktion und -konsumtion, so entsprach dem auf der Ebene der Arbeitskraft der Typ des Massenarbeiters. "Lohnarbeit (wurde) zur verallgemeinerten Normal-Existenzform" (Schaarschuch 1990: 60). Auf Seiten des Subjekts war die Orientierung an der Normalerwerbsbiographie das zentrale Moment der Integration in eine solche umfassende Normalität. Prävention war die frühzeitige Abwehr aller (möglichen) Gefährdungen dieser Normalität. Der Kontrollmodus des fordistischen Wohlfahrtsstaates zielte folglich in erster Linie auf deren normative Internalisierung durch das Individuum, dessen Integrationsfähigkeit gegebenenfalls erzeugt werden musste. Prävention war hierbei ein Mittel zur Erweiterung des Kontrollnetzes und stellte - als vermeintliche oder tatsächliche Hilfe verpackt und damit der Legitimationspflicht entzogen - ein Moment der Kolonialisierung von Lebenswelten dar. In einer normativen Verlängerung der Gegenwart in die Zukunft beinhaltete Prävention das Bestreben jener, die die Macht dazu hatten, ein gewünschtes Verhalten durchzusetzen, Lebensrisiken zu definieren, zu entschlüsseln und mit möglicher oder tatsächlicher Abweichung oder Gefährdung in eine kausale Beziehung zu setzen (vgl. Kunstreich/Peters 1990). Die Lebensrisiken ließen sich prospektiv verallgemeinern und auf alle Formen von Defiziten und Unzulänglichkeiten (Armut, Werteverlust, schlechtes Elternhaus, Arbeitslosigkeit etc.) beziehen. Eine solche Logik speiste sich vor allem aus der mystischen Prädestinationslehre, dass Schlechtes Böses erzeuge. Jedoch schien es möglich, den "Reaktionsdeppen" Mensch (von Trotha 1977) mittels der gleichen Kausallogik folgender sozialtechnologischer Maßnahmen umzuformen.

Diese präventive Kontrolle lässt sich als Teil eines Sozialdisziplinierungsmodells darstellen, das vor dem Hintergrund einer verallgemeinerten Normalität auf die Hervorbringung nomozentristischer Subjekte zielte. Getragen wurde es vor allem von Familie, Schule, Arbeit, und - als "'ultima ratio'-System sozialer Kontrolle" (Sack 1998: 98) - einem subsidiären "penal welfare complex" (Garland 2000). In diesem Sinne bedeutete auch staatliche Strafe lediglich einen temporären Ausschluss, der letztlich selbst dem Ziel der (Re-)Integration dienen sollte. Strafe war keinesfalls ausschließlich, aber immer auch Erziehung, Behandlung und Therapie. Die wesentliche Institution des Sozialdisziplinierungsmodells aber war die Fabrik (vgl. Steinert 1993). Das Gefängnis dagegen war, ebenso wie andere Zwangsanstalten, ihr Reflex.

Prävention im Postfordismus

Ab etwa Mitte der siebziger Jahre erfuhr das fordistische Entwicklungsmodell eine fiskalische und politische Krise. Öffentliche Verschuldung, der Rückgang der Rentenrentabilität und der Zuwächse des Sozialprodukts, Deindustrialisierung sowie neue Produktions- und Kommunikationsformen machten den tayloristischen Massenarbeiter zunehmend überflüssig. Ebenso leiteten sinkende Produktionszuwächse, Veränderungen in der organischen Zusammensetzung des Kapitals zugunsten des Finanzkapitals, Ausdifferenzierungen des Konsums, Senkung der Lohnkosten, steigende Sockelarbeitslosigkeit etc. einen Wandel ein, "der öffentlich wie wissenschaftlich als das Ende oder die Grenze des Wohlfahrtsstaates etikettiert und vor dem Hintergrund von Prozessen der Globalisierung oder der Durchsetzung der politischen Rationalität des Neoliberalismus interpretiert wird" (Krassmann 2000: 300). Auf politischer Ebene tritt an die Stelle der Nachfrageregulation des Fordismus das Primat der Ökonomie im Rahmen einer angebotsorientierten Wirtschaftpolitik sowie einer aktiven Gewährleistung der globalen Konkurrenzfähigkeit. Diese sorgt jedoch für ökonomische Wachstumsraten, die eine inverse oder gar negative Korrelation zur Lohnarbeit aufzeigen. In einem Prozess der Ökonomisierung des Sozialen, in dem "das Soziale auf das Ökonomische umkodiert" wird, kündigt sich sukzessive das Scheitern keynesianischer und sozialstaatlicher Lenkungsversuche ein.

In dem Maße, wie die Normalität des Normalarbeitsverhältnisses den neuen Flexibilitätsanforderungen der Produktionsweisen weicht, relativieren sich die dazugehörigen Kontrollmodalitäten und damit auch die Formen und Rationalitäten der Prävention. Dies bedeutet zwar keinesfalls, dass sozialdisziplinierende Strategien nun obsolet wären, jedoch hat eine Gewichtsverlagerung zu anderen Techniken stattgefunden, die es notwendig macht, die konzeptionelle Werkzeugbox zu erweitern (vgl. Cohen 1994). In der produktiven Logik der Sozialdisziplinierung wurde der einzelne soziale Akteur als Objekt gefasst, "mit dem im Interesse der Gesellschaft etwas geschieht." Zu dieser Hypostasierung des common sense passte auf der Seite der Sozialen Arbeit "eine Pädagogik, die als Instrument einer zentralen gesellschaftlichen Lenkung fungiert" (Kupfer 1983: 228). Eine solche Strategie konnte so lange umfassend verfolgt werden, wie eine quasi-universelle (wohlfahrts)staatliche Normalität erzeugt und aufrecht erhalten werden konnte. Das könne, so einige Autoren, "für die Risikogesellschaft nicht mehr angenommen werden" (Böllert 1995: 126). Ein wesentlicher Teil der Normalisierungsdebatte in der Sozialen Arbeit - insbesondere wenn sie die These eines Abschmelzens sozialer Kontrolle vorantreibt - basiert auf diesem Argument.

Relativierung des Disziplinierungsparadigmas

Dieses Abschmelzen betrifft aber keinesfalls die soziale Kontrolle, sondern lediglich einen relativen Bedeutungsverlust der Sozialdisziplinierungsdimension, wie sie dem doppelten Mandat einer auf soziale Integration abzielenden Sozialen Arbeit immanent war. "Um es zuzuspitzen: Die 'Normalisierung' Sozialer Arbeit ist nur um den Preis der Ausblendung der 'Normalität sozialer Desintegration' zu haben" (Schaarschuch 1996: 862). Von einem völligen Verschwinden gesamtgesellschaftlicher Normalität kann jedoch keine Rede sein. Im übrigen war auch diese Normalität schon immer interpretationsbedürftig. Selbst wenn sie kontextueller, flexibler, interpretationsoffener und differenzierter geworden sein sollte, hat sie keinesfalls zwangsläufig an Wirksamkeit und Intrusivität verloren.

Wo eine quasi-universelle Normalität an Bedeutung verliert, gewinnt die Logik einzelner sozialer Felder an Relevanz. Diese Logik ist für denjenigen maßgeblich, der in ein bestimmtes gesellschaftliches Feld eintritt. Aus einer diachronen Perspektive kann davon ausgegangen werden, dass die je vorherrschenden Praxisformen Regelmäßigkeiten erzeugen und praxiswirksame Gültigkeiten beanspruchen, die sich als feldspezifischer common sense darstellen lassen (vgl. Bourdieu 1998; 1987). Dieser common sense kann als eine Art sektorale Hegemonie betrachtet werden. Die sektorale Hegemonie ist relativ autonom, d.h. sie ist zunächst an die Strukturen des je spezifischen Feldes gebunden und als solche nicht restlos auf andere Felder übertragbar. Dennoch wirkt sie mittelbar auf die gesamte gesellschaftliche Organisation, je nach der hierarchischen Beziehung zwischen den einzelnen sozialen Mikrokosmen innerhalb einer Gesellschaft. In diesem Sinne bleibt auch in der 'Risikogesellschaft' soziale Prävention ein je "hegemoniales Problem" (Kunstreich/Peters 1990).

Die harte Hand des Staates

Lothar Böhnisch führte treffend aus, dass das, was jenseits eines öffentlich-sozialstaatlichen Integrationsversprechens "an Integrativem faktisch bleibt, (...) der Ordnungsstaat (sei), dessen Institutionen bei abnehmender sozialintegrativer Dynamik in den Vordergrund treten" (Böhnisch 1994: 28). In der Tat scheint es, als würde die sozialpolitische Unfähigkeit, soziale Bedürfnisse zu befriedigen, zunehmend durch eine symbolische Ersatzpolitik kompensiert, die sich auf basale Ängste richtet (vgl. Fitzpatrick in diesem Heft): "Je deutlicher sich erweist, dass die Politik dem wirtschaftlichen System hoffnungslos unterlegen ist, um so bedeutsamer wird es, dass allein in der Innen- und Kriminalpolitik noch politische Aktionsfähigkeit und Gestaltungsmacht bewiesen werden können" (Frehsee 1998: 132). Dennoch kann sich eine solche Politik als 'bürgernah' profilieren, schreibt sie sich doch selbst zu, die Ängste der Menschen ernst zu nehmen und ihre subjektiven Befindlichkeiten zu achten. Hierbei werden genau jene Prekarisierungen, Flexibilisierungen und sozialen Spaltungen kaschiert, welche nicht zuletzt durch eine "Politik der Unsicherheit" erst erzeugt werden (Legnaro 1998: 262). Betrachtet man diese tendenzielle Verlagerung von der sozialen Sicherheit zur persönlichen Sicherheit bzw. der Sicherheit der Räume vor dem Hintergrund der Maslowschen Bedürfnishierarchie (physiologische Bedürfnisse - Sicherheits- und Schutzbedürfnisse - soziale Bedürfnisse - Bedürfnis nach Achtung - Bedürfnis nach Selbstverwirklichung), so fällt auf, dass die Rhetorik des ernst Nehmens des Bürgers eine Hierarchieebene über, ihr Zielobjekt eine Ebene unter der Gewährleistung sozialer Bedürfnisse liegt.

Der Beitrag des Staates zu diesem reduzierten Sicherheitsversprechen liegt zunächst in einer zunehmend harten Hand gegenüber Abweichlern, die sich in Forderungen nach allen möglichen Formen der strafrechtlichen Verschärfung ebenso zeigt wie in der Entwertung und Verabschiedung des Rehabilitations- und Resozialisierungsmodells (Lindenberg/Schmidt-Semisch 2000). Es spricht einiges dafür, "dass stark ausgebaute Wohlfahrtsstaaten, wenn auch vielleicht nicht Kriminalität, so doch zumindest strafende Repression zurückdrängen können, während in Staaten, wo wohlfahrtsstaatliches Denken wenig Platz hat, die Repression gedeiht" (Ludwig-Mayerhofer 2000: 342). Das spezifisch Neue der Kontrollstrategien liegt aber nicht (nur) in einer repressiven Aufrüstung, sondern darin, dass sie sich zunehmend weniger auf eine umfassende, an einer allgemeinverbindlichen Norm orientierte Disziplinierung, Normierung und Normalisierung beziehen.

Neue Paradigmen

Sukzessive zeichnen sich Kontrollformen ab, die sich von Versuchen der direkten Formung des Individuums verabschieden und versuchen, es als rationalen und eigenverantwortlichen Unternehmer seiner selbst zu rekonzeptualisieren. Es hat sich "über aktive Selbstkontrolle durch Einsicht im Angesicht der aufgewiesenen Konsequenzen" (Krasmann 2000: 306) als kontextsensibles Dividuum an der Normalität und Normativität einer relativ eigenlogischen herrschenden Praxis einzelner gesellschaftlicher Felder zu orientieren - oder es wird eben ausgeschlossen. In diesem Sinne findet eine Verschiebung von der bürokratischen Überwachung und Erzeugung der individuellen Bringschuld für die rechts- und sozialstaatlich garantierte soziale Teilhabe hin zur Motivation und Befähigung zur Teilnahme an zunehmend einerseits kommunitär, andererseits marktförmig gestalteten kleinräumigen Lebens-, Praxis- und Sinnzusammenhängen statt. Eine bürokratische "Kolonialisierung von Lebenswelten" weicht der Kolonialisierung des Einzelnen durch die Lebenswelt, die Erzeugung des homo legalis weicht der des sozial, moralisch und ökonomisch selbstverantwortlichen rationalen Akteurs. Die Disziplinierung weicht der Exklusionsverwaltung und der Regulation im Sinne des Managements und der Gestaltung des sozialen, ökonomischen und räumlichen Arrangements.

Prävention zeigt sich auf der Ebene staatlichen Strafens zunehmend in der Form punitiver Ausgrenzung, aber daneben ist auch eine Strategie auszumachen, in der der Staat 'partnerschaftlich' durch die Gesellschaft hindurch agiert und Prävention stärker betont als die Verfolgung und Bestrafung von Individuen (vgl. Garland 2000: 348f.). Hierbei ist Kontrolle nicht mehr auf bestimmte Anlässe bezogen, diskontinuierlich, individualisierend und lokalisierbar, sondern hat kontinuierliche, immanente und kybernetische Formen angenommen (vgl. Deleuze 1993). Wesentliches Merkmal des Neoliberalismus als gesellschaftliches Projekt und sozialer Prozess ist "ein Umcodieren der Sicherheitspolitik, das die Entwicklung von interventionistischen Technologien ermöglicht, die Individuen führen und anleiten, ohne für sie verantwortlich zu sein. (Er) ermutigt die Individuen, ihrer Existenz eine bestimmte unternehmerische Form zu geben" (Lemke 1997: 253). Dies entspricht im Kern auch dem Politikstil eines sozialdemokratischen "eingebetteten Neoliberalismus" (vgl. Rhodes/Apeldoorn 1997), der im Modell des aktivierenden Sozialstaats zum Ausdruck kommt. Diesem Modell entsprechend wird der Präventionsdiskurs zunehmend aus einem (autoritären) Kommunitarismus und ökonomischen rational choice-Modellen gespeist (vgl. Krasmann 2000: 301). Beide stellen Antworten auf den Bedeutungsverlust des wohlfahrtsstaatlich erzeugten Sozialen dar. Die Gemeinsamkeit dieser scheinbar konkurrierenden Orientierungen besteht in der Betonung der Verantwortung und des rationalen Wahlhandelns des Einzelnen.

Kommunitarismus und Prävention

In diesem Abschnitt möchte ich mich zunächst auf die kommunitaristischen Elemente der neuen Prävention konzentrieren. Gleichwohl wird deutlich werden, dass letztlich auch diese mit Momenten des rationalen Wahlhandelns einhergehen. Ein wesentlicher Faktor dieser Entwicklung ist, dass die Produktion von Sicherheit zunehmend nicht mehr nur als "staatliche Aufgabe" gefasst wird, sondern als "permanente gesellschaftliche Anstrengung, ein Regime des täglichen Lebens" (Legnaro 1997: 271). Die neuen Präventionsstrategien konzentrieren sich hierbei insbesondere auf die Aktivierung sozialen Kapitals zur Bildung 'guter Gemeinschaften' und - in einer "Entpersonalisierung präventiver Strategien" (Lindenberg/Schmidt-Semisch 1995) - auf die Kontrolle von Räumen, Orten und Situationen. Sie stellen eine flexible Möglichkeit der Steuerung und Aktivierung relativ autonomer, d.h. sich bis zu einem gewissen Grad selbst regulierender sozialer Felder dar. In diesen Präventionsstrategien vermischt sich in einem je nach Sektor unterschiedlichen Verhältnis die 'moralische' Gestaltung der sozialen Felder durch die je dominanten gemeinschaftsstiftenden Wertbezüge der 'Wohlanständigen', mit einer von moralischen Überlegungen freien, strategischen (räumlichen) Gestaltung von Handlungsfeldern und Gelegenheitsstrukturen, durch die es möglich wird, die Psyche, d.h. das Innere bzw. das Seelenleben der Subjekte weitgehend zu ignorieren. Der Staat bleibt zwar ultima ratio, Träger des Gewaltmonopols, kann sich aber ansonsten eher regulierend (steuernd) als disziplinierend (rudernd) damit begnügen, die Ökonomie der je feldspezifischen Praxis (vgl. Bourdieu 1998) aus der Distanz zu aktivieren und zu managen. So scheinen die Bezüge auf das Soziale als Ursache für Gefährdungen und die staatliche Verantwortung für ihre Bekämpfung zu Gunsten der Initiative der lokalen Gemeinschaften, der Nachbarschaftsgruppen, der Familien und des Einzelnen relativiert zu werden (vgl. Stenson 1996: 103). Es entstehen Initiativen, die auch die Soziale Arbeit (wieder) entdeckt hat und die sie in vielfältigen Projekten und Konzepten zu initiieren, aktivieren und zu empowern versucht (vgl. Kessl 2000).

Mit Garland (1996) kann diese Strategie der Verantwortungszuschreibung an Individuen oder kleinräumige Gemeinschaften als eine Form des "Regierens aus der Distanz" verstanden werden. Damit wird es dem Staat möglich, durch eine Gestaltung der Rahmenbedingungen lenkend auf die Selbststeuerungskapazitäten der "autonomen Individuen" in einer "arrangierten" Freiheit einzuwirken und zu vermeiden, selbst direkt intervenierend in Erscheinung zu treten (vgl. Lemke 1997: 251ff). Bezogen auf den Präventionsdiskurs gehören hierzu die rhetorische und tatsächliche Aufwertung informeller sozialer Kontrolle und die Etablierung informeller Konfliktregulierungsmöglichkeiten, vor allem aber jene Strategien, die unter den Überschriften "Prävention als gesamtgesellschaftliche Aufgabe" oder "Prävention als Teil der aktiven Bürgergesellschaft" vorangetrieben werden. "Diesen Ansätzen ist gemein, dass der gesellschaftlichen Selbstregulation und Selbstorganisation eine neue Rolle bei der Regulierung sozialer Probleme und sozialer Konflikte und eine neue Funktion bei der Konstruktion sozialer Ordnung zugedacht wird" (Groenemeyer 1999: 88).

Das Problem liegt dabei in einer graduellen Überführung quasi-universeller und rechtsförmig geregelter Sicherungssysteme in die "lokalidiosynkratische" Willkür partikularer Gemeinschaftlichkeiten (vgl. Hitzler/Göschl 1997: 144). Maßgeblich für die Stellung innerhalb dieser Gemeinschaft scheinen in erster Linie Form und Maß des je verfügbaren sozialen Kapitals (vgl. Kessl 2000). Jene Gemeinschaften basieren letztlich auf der mechanischen Solidarität (Durkheim) idealtypisch Gleicher. Ihre Konzeption als möglichst unitäre, homogene und durch starke moralische Gewissheit aufrechterhaltene Form des Zusammenlebens liefert hierbei jedoch implizit eine "moralisch präskriptive Agenda für die soziale Exklusion marginalisierter und 'devianter' Kategorien von Personen" (Hughes 1998: 110). Wenn als zentrale Referenzgröße weniger eine staatlich institutionalisierte Gesellschaft als vielmehr kleinräumige Gemeinschaften dienen, so wird ein formal für jeden Einzelnen gleiches Recht durch ein de facto sowohl personen- als auch klassenspezifisch ungleich verteiltes und bewertetes soziales Kapital substituiert. Dies bedeutet dann aber nicht nur, dass direkte staatliche Herrschaft und Kontrolle für die privilegierte Mehrheit relativiert wird, sondern vor allem auch, dass das wohlfahrtsstaatliche Versprechen allgemeiner Teilhabe und rechtsstaatlich geregelter und durchgesetzter Sicherheit an das Maß spezifischer soziokultureller Teilnahme - gemäß der hegemonialen Logik der jeweiligen sozialen Felder - gebunden wird, die der weniger privilegierten Minderheit gerade vorenthalten wird.

Die Orientierung an der Selbstregulation kleinräumiger Gemeinschaften, an deren sozialem Kapital und informeller Kontrolle könnte für weniger Privilegierte und jene, denen man den sektoral hegemonialen Status der 'Wohlanständigkeit' abspricht, weitreichende Konsequenzen haben. Das wäre dann vor allem klassische Klientel Sozialer Arbeit. Wenn das klassenspezifisch ungleich verteilte soziale Kapital nicht nur eine Ressource, sondern ein Machtmittel darstellt, so wird es, ebenso wie eine partikulare sektorale Hegemonie, der quasi-universellen Rechtsförmigkeit mitsamt deren (einigermaßen) demokratischen Verfahrensregeln und Rechtsgrundsätzen gegenüber aufgewertet. Dieser Prozess verläuft logischerweise nicht nur zu Ungunsten der marginalisierten Gruppen, deren Mangel an sozialem Kapital sozialstaatlich kompensiert wird (vgl. Karstedt 1997), sondern beraubt diese darüber hinaus noch ihrer (spärlichen) Möglichkeiten, sich überhaupt zu Wehr zu setzen. Mehr noch: Diese Gruppen brauchen nicht einmal mehr durch strafbare Handlungen oder Gefährlichkeit in Erscheinung zu treten, denn die präventiven Strategien verweisen auf "umfassend(e) und ausgreifend(e) Zugangsansprüche, Strukturierungen von Lebensraum, Regulierung von Partizipation und Einengung von Aneignungsmöglichkeiten im Vorfeld eventuell möglicher Störungen." Dabei geht es dann "gar nicht (nur) und nicht einmal vorrangig um Kriminalität (...), sondern um Beförderung von Ordnung in einem unbestimmten und variablen Sinne, so dass die Ordnungserwartungen auch immer mehr nicht nur durch das Strafrecht bestimmt werden" (Frehsee 1998: 130).

Rationale Wahl

In der fordistischen Formation des Kapitalismus wurde die Risikovorsorge kollektiviert und vom Staat und seinen Institutionen aufrechterhalten (vgl. Ewald 1993). Sie hatte eine quasi-universelle Normalität als Referenzpunkt und wendete diese rechtsförmig geregelt auf den einzelnen Fall an. Demgegenüber entspricht es einer neoliberalen Form der Regulation, verstärkt die "Individuen zu ermutigen, sich als freie, kreativ, moralisch und ökonomisch Handelnde zu betrachten, die fähig sind, sich selbst zu regulieren und ihre eigenen kreativen Energien so zu kultivieren, dass sie im weitesten Sinne den Erwartungen der Autoritäten entsprechen" (Stenson 1996: 106). Diese Form der "Gouvernementalität" (Lemke 1997) erfolgt in kriminalpolitischer Hinsicht jedoch nicht umfassend. Folgt man Garland (1996), so kann man in diesem Zusammenhang eher von zwei Kriminologien sprechen: eine "criminology of the self" und eine "criminology of the other". Erstere verweist auf eine Form des Empowerments, das die Einzelnen ermutigen und die in die Lage versetzen soll, ihre Konflikte selbst zu regulieren und größere Selbstverantwortung für die Organisation ihrer Sicherheit jenseits staatlicher Interventionen zu übernehmen. Ein Moment dieser Verantwortungszuschreibung liegt in dem Rückzug der staatlich regulierten kollektiven Risikoversicherung: Die jeweils von Risiken und Gefahren betroffenen potenziellen Opfer sind "selber schuld", wenn sie nicht ausreichend präventiv und sicherheitsorientiert handeln (vgl. Schmidt-Semisch 2000).

Während die Strategie des individuellen Empowerments sich für die Mehrheit der Bevölkerung als effektiv erweisen könnte, "bleibt eine widerständige und wachsende Minderheit, insbesondere unter den Armen und Marginalisierten, die gegenüber diesen Techniken resistent bleiben oder womöglich nicht über die Kapazitäten verfügen, von diesen Gebrauch zu machen" (Stenson 1996). Für diese "Anderen" am unteren Rand der Gesellschaft wird verstärkt auf staatliche Techniken der punitiven Ausgrenzung zurückgegriffen (vgl. Feeley/Simon 1996: 378). Auch für die Soziale Arbeit könnte dies bedeuten, dass das "konstitutive doppelte Mandat (...) in Zukunft aufgespalten (wäre) in Hilfe für die Integrierten und Kontrolle für die Ausgeschlossenen" (Chassé/Wensierski 1999: 11). Aber auch die Empowerment- oder Befähigungsstrategien selbst sind Techniken des Risikomanagements (vgl. O'Malley 1992), die eher ausschließend als integrierend wirken. Sie befördern eine kalkulierte Verengung der selbstorganisierten Gemeinschaft derer, die sich denselben Risiken ausgesetzt sehen und freilich wenig daran interessiert sind, Risikoträger wie 'Nicht-Vertrauenswürdige', 'Gefährliche', 'Fremde' oder (zu) Arme in ihren Reihen zu dulden (vgl. Stenson 1996: 109). Die Freiheits-, Sicherheits- oder finanziellen Gewinne der 'wohlanständigen' Mehrheit müssen von einer wachsenden Minderheit dreifach bezahlt werden: Relativ arm an 'legitimem' sozialem Kapital, sind sie nicht nur der informellen Moralisierung und formellen Kriminalisierung, sondern auch einer erhöhten Wahrscheinlichkeit ausgesetzt, selbst Opfer zu werden.

Während die individuellen Empowermentstrategien als personale Prävention und die kommunitären Formen der Prävention als soziale Prävention verstanden werden können, scheint es soziale Felder zu geben, in denen auf Empowerment verzichtet werden kann und eine Simulation sozialer Ordnung durch eine Aktivierung der lokalen Gemeinschaft an ihre Grenzen stößt. In diesen Feldern dominieren situative Präventionsstrategien, die auf die moralisierende Kontrolle partikularer Gemeinschaften verzichten und sich a-moralischer technischer Kontrollformen bedienen. In ihrer derzeit hegemonialen Form scheint sich situationsbezogene Kriminalprävention in erster Line auf die Kontrolle von (geographischen) Räumen zu beziehen. Mit Bourdieu (1991) kann man davon ausgehen, dass die Herrschaft über die Räume eine der privilegiertesten Formen der Herrschaft ist. Machtausübung über die Lenkung und Manipulation der räumlichen Verteilung von Gruppen beinhaltet zugleich die Möglichkeit, sich Räume symbolisch und materiell anzueignen, für bestimmte Gruppen auf- oder abzuwerten, zu öffnen oder abzuschotten, und letztlich die Manipulation und Kontrolle der Gruppen selbst.

Während die personalen und sozialen Formen der Prävention zwar auch Aspekte des rationalen Wahlhandelns betonen, basiert die neoliberale Variante situationsbezogener Strategien allein auf der simpelsten Variante der rational choice-Ansätze[/em]. Wird Kriminalität als Ergebnis einer unmittelbaren Wahl des Abweichenden verstanden, so gibt es eine ganze Palette von Möglichkeiten, diese Wahl zu beeinflussen: die substanzielle Reduktion oder technische Erschwerung von Tatmöglichkeiten, die Erschwerung des Zugangs zu möglichen Tatorten sowie die Erhöhung der Entdeckungswahrscheinlichkeit (vgl. Clarke 1996). Für 'freie', 'angebotsorientierte' Markgesellschaften ist eine allgemeine substanzielle Reduktion von Gelegenheiten denkbar kontraproduktiv. Gangbar erscheint hingegen der Weg über selektive Zugangskontrollen sowie die Erhöhung der Kontrolldichte und der 'Zielsicherheit', etwa durch privates Wach- und Sicherheitspersonal, Videokameras oder andere technische Geräte. Am effektivsten ist jedoch die Gestaltung und Regelung der Räume selbst in einer Form, die den hegemonial erwünschten Praktiken entspricht und die Räume damit für 'zweckentfremdete' Nutzung möglichst unattraktiv macht. Die Attraktivität insbesondere privatisierter Räume kann durch die Etablierung von Sonder- und Hausregeln für bestimmte Zielgruppen erhöht, für andere jedoch gesenkt werden (vgl. Ronneberger et al. 1999). Besonders in den Innenstädten entspricht die hegemonial erwünschte Praxis freilich derjenigen zahlungskräftiger Kunden, nicht etwa derjenigen der Jugendlichen, 'Asozialen', 'Penner' etc.. A-moralisch ist diese Strategie insofern, als sie das Innere, die Einstellungen, Haltungen, moralischen Gründe und Motive des Abweichlers ignoriert. Sie möchte ihn weder bestrafen noch ändern, läutern, erziehen oder bessern. Im weitesten Sinne möchte sie genaugenommen nicht einmal seine Handlungen verhindern, er soll sie nur nicht hier durchführen, nicht stören und lästig sein oder noch besser einfach verschwinden.

Trotz der Rückkehr zur Härte sind die wesentlichen Momente der neuen Prävention nicht nur staatlicher Zwang und Disziplinierung, sondern auch eine Regierung über Freiheit. Fraglich ist nur, ob diese Form der 'Freiheit' selbst noch eine emanzipatorische Stoßrichtung hat. In diesem Sinne ist es gerade für die linken Kritiker Leviathans notwendig, zu prüfen, ob sie auf dem Weg aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit nicht irgendwo eine Abzweigung verpasst haben.

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