Pfad: Startseite > Hefte > 2004 > Elitendiskussion und politische Kultur in...

 

Druckansicht: Benutzen Sie bitte die Druckfunktion Ihres Browser | Zurück zur Bildschirmansicht

Startseite Suchen Druckansicht imagemap Schrift verkleinern Schrift vergrößern

Heft 93: Eliten-Schwindel: Gesellschaft zwischen Demokratisierung und Privilegierung

2004 | Inhalt | Editorial | Abstracts | Leseprobe

Titelblatt Heft 91
  • September 2004
  • 92 Seiten
  • EUR 11,00 / SFr 19,80
  • ISBN 3-89370-398-5
PDF Herunterladen

Elitendiskussion und politische Kultur in Deutschland

Lächelnd scheidet der Despot, Denn er weiß, nach seinem Tod Wechselt Willkür nur die Hände, Und die Knechtschaft hat kein Ende. Heinrich Heine

I.

Elite ist "Abschaum", so Plot und Titel des Bremer Tatort vom 4.4.04 und auch M. Hartmanns fulminante Elitenstudie verweist u.a. auf "das hässliche Gesicht der Bourgeoisie" (2002: 129) (1), das im deutschen Fall aufgrund der 'Eliten'-Verantwortung für zwei Weltkriege, Massenmord und Völkermord im 20. Jh. besonders hervortritt. (2)

Deutlich wird hiermit, dass aus sehr unterschiedlichen Perspektiven die vorgeblichen "Eliten" - und ihr Status - nicht unumstritten sind, sodass die Fragen, in wessen Interesse und zu wessen Nutzen das Thema politisch auf die Tagesordnung gebracht wird, welche Instrumentalisierung im Rahmen einer kapitalistischen Klassengesellschaft damit verbunden ist, welche historischen Einschätzungen vorzunehmen sind, sich stellen.

Sicher ist es so, dass vor dem Hintergrund des "Klassenkriegs von oben", der "Rückkehr zum Raubtierkapitalismus" (Chomsky 1998, S.12ff) die Frage der Legitimation des herrschenden Systems sozialer Ungleichheit und Ungerechtigkeit, damit das Problem der Sicherung von Massenloyalität, sich verstärkt stellt. Denn im Widerspruch zu allen Reden über Integration, mit denen der soziale Konflikt geleugnet werden soll, "ist der objektive Antagonismus nicht verschwunden. Nur seine Manifestation im Kampf ist neutralisiert. Die ökonomischen Grundprozesse der Gesellschaft, die Klassen hervorbringen, haben aller Integration der Subjekte zum Trotz sich nicht geändert" (Adorno/Jaerisch 1968, S. 8). Dieser Befund ist historisch nicht obsolet, sondern wird noch einmal durch die neueste Sozialstrukturanalyse zur deutschen Gegenwart bestätigt, wenn Vester et al. gegen die individualisierungstheoretischen Thesen von Beck und Giddens herausstellen, es seien nicht die klassenbasierten Milieus, die heute zerfielen: "Die Klassenstrukturen des Alltags sind vielmehr, gerade wegen ihrer Umstellungs- und Differenzierungsfähigkeit, außerordentlich stabil. Was bis zu einem bestimmten Grade zerfällt, sind die Hegemonien bestimmter Parteien (und Fraktionen der Intellektuellen) über ihre Anhänger in den ideologischen Lagern. Daher haben wir auch heute keine Krise der Milieus (als Folge des Wertwandels), sondern eine Krise der politischen Repräsentation (als Folge einer zunehmenden Distanz zwischen Eliten und Milieus)" (2001, S. 103f.; vgl. S. 58ff). Dies führt die Autoren zur These einer "Pluralisierung der Klassengesellschaft" (2001, S. 45).

Hinzu kommen zu verallgemeinernde Erkenntnisse über das gegenwärtige "Staatsversagen" als Folge der "Krise einer Produktionsweise" und der "Rigiditäten einer Machtkonstellation" (Jänicke 1986: 132), die zu vermitteln sind mit jenen über die Grenzen der "Erwerbsgesellschaft", deren unterschiedliche Entwicklungspfade (Bonß 2000). Angesichts von Einsichten in das Verhältnis von Wohlfahrtsstaat, hegemonial strukturierten Klassenverhältnissen und Prozessen der Reproduktion sozialer Ungleichheit (Wright 1997), der Einsicht in die politische, ökonomische und kulturelle Bedeutung des Wohlfahrtsstaates als "Gesellschaftsersatz" im Rahmen des fordistischen Kompromisses (Gorz 1989: 261ff) stellt sich heute entweder die Frage nach den Möglichkeiten einer gesellschaftlichen Alternative oder die nach einer "verbesserten" Verteidigung des status quo, damit von Macht und Herrschaft.

Da der alte Wohlfahrtsstaat der herrschenden Klasse und ihren Dienern angesichts der Weltlage nach 1989 wie des Postfordismus als offensichtlich überholt, weil ihre Profitraten tangierend, gilt, kommen diese gerade im Kontext einer pseudorot/pseudogrünen Regierungspolitik dazu, die angesichts der 'Krise der Repräsentation' besonders veraltete"Eliten"-Semantik (3) hervorzuholen. Der "Masse", denn dies ist das Gegenstück zu "Elite", soll unter den Bedingungen einer Mixtur von Neoliberalismus und Neokonservatismus die Notwendigkeit von "Eliten" verkauft werden (vgl. zur Leitmotivik Schumacher 1972: Kap. 10, 16). (4) In Deutschland ist dies vor dem Hintergrund der Geschichte des 20. Jahrhunderts und der darin vielfach eingelassenen Verbrechen von "Eliten" besonders umkämpft und bedarf/bedurfte offensichtlich einer besonderen Unterstützung durch die heutige Regierung. (5)

II.

In diesem Kontext ist die besondere Widersprüchlichkeit entscheidender Traditionslinien in deutscher Geschichte, damit auch der Geschichte der politischen Kultur herauszustellen. Handelt es sich auf der einen Seite, der der demokratisch interessierten wie engagierten Minderheiten, um die mit der französischen Revolution einhergehende Einsicht, "Ein Volk muss seine Freiheit selbst erobern" (Grab 1984), mehrdimensional im 19. Jahrhundert verlängert in Entwicklungen von Vormärz und Nachmärz (Koebner/Weigel 1996; Würffel 1986; Schneider 1980; Kohlhammer 1973), so verbindet sich mit der anderen Seite, der der konservativen und reaktionären Kräfte, das Gegenteil. Dementsprechend beginnt H.-U. Wehler seine "Deutsche Gesellschaftsgeschichte", die der Entwicklung der deutschen Lande seit dem 18. Jahrhundert gewidmet ist, mit dem Satz: "Am Anfang steht keine Revolution". Und in komparativer Perspektive formuliert er: "Während die Geschichte Englands, Frankreichs, der Vereinigten Staaten von Nordamerika durch ihre Revolutionen im 17. und 18. Jahrhundert in einem so fulminanten Sinn geprägt worden ist, dass eine Darstellung ihrer modernen Entwicklung mit dieser Zäsur einsetzen kann, fehlt der deutschen Geschichte jener Zeit ein derart dramatischer Einschnitt" (1987, S. 35). Damit kennzeichnet Wehler nicht nur eine entscheidende Differenz deutscher Geschichte zu der anderer Nationen, mit diesem Manko verbindet sich zudem ein spezifisch deutsches Problem in Sachen Theorie und Praxis von Demokratie - verweist so auf einen allgemeinen Makel deutscher 'Eliten'.

Für das Kaiserreich als undemokratische Gesellschaft besonderer Art ist von Beginn an das Fehlen eines selbstbewussten bürgerlichen Liberalismus (Wehler 1988a, S. 38f.), die "Klassensymbiose von Junkertum und Bourgeoisie" (Machtan/Milles 1980) zu konstatieren. Dies führte u.a. zur Militarisierung des Alltagslebens im Wilhelminischen Reich, was wiederum hierarchisches Denken und Untertanengeist sowie eine Präferenz für gewaltförmige Lösungen bei gesellschaftlichen Konflikten unterstützte. Bedeutsamer aber noch für die deutsche Entwicklung wird in den späten 70er Jahren die Ersetzung eines frühen liberal-emanzipatorischen durch einen konservativen Nationalismus im deutschen Bürgertum, dem die Aufgabe, als Integrationsideologie zu wirken, zukommt. Hieraus resultiert der "Beginn der fatalen Pathogenese des Bürgertums", damit derer, die sich gerne als 'Elite' apostrophieren lassen: "Unter den neuen Bedingungen findet der extreme Nationalismus und Rechtsradikalismus seine Einbruchstellen, wuchert die Illiberalität, wächst der Fremdenhass: gegen polnische Staatsbürger im Inneren, gegen Slawen und Gallier im 'Vorfeld des Reiches', steigert sich vor allem die erbitterte Feindschaft gegen die 'vaterlandslosen Gesellen', gegen ihre Utopie des freien, republikanischen 'Volksstaats'. ... Wägt man die Faktoren ab, scheint vom konservativen, imperialistischen, illiberalen Nationalismus der stärkste Einfluss ausgegangen zu sein" (Wehler 1988b, S. 214). Somit gehe die auf vielen Gebieten erstaunliche Modernität des Kaiserreichs, die zum größten Teil eine bürgerliche Leistung verkörpere, einher mit der damals einsetzenden Pathologie verschiedener Sozialformationen des Bürgertums, die im Nationalsozialismus ihren absoluten Tiefpunkt erreichten (Wehler 1988b, S. 192). (6)

Diese Pathologie verlängert sich in die Weimarer Republik hinein, wenn - wie hier exemplarisch zu nennen - die Verantwortung von 'Eliten' für politischen Mord und Umgang damit herausgestellt wird. Emil Julius Gumbel hat bereits 1922 in seiner Analyse "Vier Jahre politischer Mord" auf den Zusammenhang von politischen Morden, Klassenjustiz und Formierung der öffentlichen Meinung hingewiesen. Wesentlich für die Einschätzung der Qualität politischer Kultur in Weimar ist die Differenz in der Behandlung politischer Morde von rechts und links durch Gereichte: 354 politischen Morden von rechts stehen 22 von links in vier Jahren gegenüber. Einer Gesamtsühne auf der rechten Seite von 90 Jahren, zwei Monaten Einsperrung, 73o Mark Geldstrafe und einer lebenslänglichen Haft (für den Mord an Eisner) steht als Gesamtsühne auf der Linken gegenüber: zehn Erschießungen, 248 Jahre, neuen Monate Einsperrung, drei lebenslange Zuchthausstrafen (Gumbel 1980, S. 78ff). Insgesamt gehört dies in einen Kontext, in dem durch Untertanengeist bürgerliche Positionen sowie durch 'Etatismus' der SPD und 'Bolschewisierung' der KPD die Seite der Arbeiterbewegung insgesamt zur Fragilität einer demokratischen politischen Kultur beitragen.

III.

Vor diesem Hintergrund ist es dann nur analytisch konsequent, wenn Lepsius (1990; S. 63) zu dem Urteil kommt, dass eine demokratische politische Kultur im Kaiserreich nur bei Minderheiten aufzufinden war, diese sich in Wimar nicht durchsetzen konnte und in der Zeit des Nationalsozialismus, der deutschen Gestalt von Faschismus, mit allen Mitteln bekämpft und ihre Vertreter verfolgt, terrorisiert und ermordet wurden. Verbinden lässt sich dies mit der Einschätzung Wehlers, unter dem Krisendruck (vor allem seit 1929) seien die seit einem halben Jahrhundert wirkenden Integrationsideologien so radikalisiert worden, dass der neue Rechtsradikalismus - vor allem in bürgerlichen Schichten (vgl. Bollenbeck 1999) - ständig an Attraktivität gewonnen habe: "Insofern präsentiert 1933 auch die Quittung für bürgerlichen Konservativismus und Nationalismus, für bürgerliche Scheu vor der riskanten Machtprobe, für das Defizit an liberal-bürgerlicherKultur, an erfolgreicher bürgerlicher Prägung von Staat und Gesellschaft überhaupt" (Wehler 1988b, S. 217; Hervorh. d.V.).

Für die Aufgabe, Elemente einer Sozial- wie Mentalitätsgeschichte der deutschen Entwicklung - als Verlängerung der Erkenntnis, dass der Nationalsozialismus die Form einer imperialistischen Expansion von Krisenlösung verkörpert (Neumann 1984, S. 60f.) - zu entziffern, um die historisch-gesellschaftliche Besonderung des NS jenseits des Wissens darum, dass die Krise des Kapitalismus in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jh. universell war, nicht aber die Krise demokratischer Regierungen (Feldman 1986, S. 25), zu erfassen, ist die Befassung mit der 'Eliten-Frage' unabdingbar.

Vor allem handelt es sich dabei um die Verantwortung der herrschenden Eliten für die Etablierung der nationalsozialistischen Terrorherrschaft (7); das "Bündnis der Eliten" (Fischer 1979), ein Bündnis zwischen den alten Eliten und der neuen Elite der NSDAP, ist hier maßgeblich in der Verknüpfung mit der Konstruktion der "Volksgemeinschaftsideologie" (Otto/Sünker 1991). Peukerts Darstellung macht die Konstellation deutlich: "Als Hindenburg der am 30.1.1933 gebildeten 'Regierung der nationalen Konzentration' die Möglichkeit gab, sich in Neuwahlen eine Mehrheit unter Einsatz des Staatsapparats und inzwischen reichlich fließender Industriespenden zu erringen, löste er die Dynamik der so genannten 'Nationalen Revolution' aus, die die Machtübertragung nach dem Zähmungskonzept in wenigen Monaten zur 'Machtergreifung' transzendierte. Davon wenig betroffen war das inzwischen etablierte Elitenkartell der Wirtschaft, der Armee und der NSDAP, die unter den gemeinsamen Zielen der Zerschlagung der Arbeiterbewegung, der Etablierung des 'Führerstaats' und der Forcierung der Aufrüstung die Machtstruktur und Entwicklungsdynamik des 'Dritten Reiches' ausformten. ... Aber bei aller Differenzierung bleibt am Ende das Faktum, dass das Deutsche Reich, nachdem seine politisch und gesellschaftlich Mächtigen die republikanischen Institutionen und die Kompromisse der Demokratiegründung von 1918 wie eine verschlissene Hülle abgeworfen hatten, bewusst einen Ausweg aus der absichtlich verschärften Krise gesucht hat, der die zerstörerische Dynamik des Nationalsozialismus freisetzte" (1987, S. 264f.). (8)

Auch die Diskretierung von "Eliten" in der Folge der mehr als aktiven Beteiligung an mörderischen Politiken des deutschen Faschismus ist bekannt, wenngleich de facto ihrer Integration und Beförderung im Postfaschismus nur wenig entgegenstand. (9)

IV.

"Im Anfang war Auschwitz", so der Titel der Studie von F. Stern zur postfaschistischen Gesellschaft in Deutschland; "es prägt sie, wenngleich oft negiert ..." (1991, S. 342). Und er belegt den Versuch der deutschen 'Eliten', sich aus der Verantwortung zu stehlen, exemplarisch an der ersten Regierungserklärung des Kanzlers Adenauer im September 1949: "Kriegsgefangene, Vertriebene, Verschleppte, Leid der Angehörigen nehmen nun breiten Raum ein, die Ansprüche auf die abgetrennten Ostgebiete des ehemaligen Reiches werden geltend gemacht. ... Kein Wort über Auschwitz, Maidanek, Treblinka, kein Wort über Schuld oder Scham des deutschen Volkes. ... Die historische Verantwortung für das an den Juden verübte Verbrechen dingt nicht bis in die Eröffnung des ersten Bundestages des neuen Deutschland. ... Diese erste westdeutsche Regierungserklärung beweist, dass es der politischen Führungsspitze in Bonn zum Zeitpunkt der Gründung der Bundesrepublik nicht angebracht schien, sich mit der deutschen Vergangenheit und den Verbrechen an den Juden Europas kritisch und selbstkritisch auseinander zu setzen" (1991, S. 307).

Die sog. "Entnazifizierung" verläuft weitgehend im Sande; die Sorge politischer, ökonomischer und kirchlicher 'Eliten' gilt mehrheitlich verurteilten oder angeklagten Kriegsverbrechern und anderen Mördern (Klee 1991; Giefer/Giefer 1991).

Darüber hinaus entpuppt sich die sog. "Währungsreform" von 1948 als Enteignung von - vor allem - kleinen Geldbesitzern; denn der Wert von Produktivvermögen (Fabriken, Grund und Boden, Aktien) wird kaum angetastet: die Absicherung der ökonomischen Eigentumsverhältnisse und die Fixierung der herrschenden Klassenstukturen war damit vollkommen (vgl. Hochhuth 1971a, S. 44ff; Schneider 1985). Die Adenauer-Ära war somit auf gesellschaftlichem und politischem Gebiet überwiegend eine restaurativ-reaktionäre Periode, mit Ausbruchsversuchen im Kulturellen (s. Rühmkorf 1972). Erst 1968 schlägt die Stunde der Intellektuellen (10), werden demokratische Alternativen zu herrschenden Positionen in Politik, Gesellschaft, Kultur allgemein diskutiert und als Herausforderung der herrschenden Verhältnisse verstanden.

V.

Wenn also heute den "Eliten", ihrer "Notwendigkeit" im internationalen Konkurrenzkampf durch Bezug auf den Leistungsbegriff (11), das Wort in hegemonialen Kämpfen geredet wird, so stellt sich das Problem der Alternative im Anschluss an die Erfahrungen von 1968.

Es könnte eine Vorstellung von Intellektuellen, ihrer gesellschaftlichen Funktion und Rolle, sein, wie H. Brunkhorst (1987) dies in der Gegenüberstellung von Intellektuellen und ihren elitären Gegenspielern, den Mandarinen, entfaltet hat. Die in der deutschen Geschichte insgesamt wie der der politischen Kultur im Besonderen feststellbare Hegemonie der Mandarine, der konservativen Ideologieproduzenten und -planer, ist das Ergebnis einer normativ überhöhten Identifikation von Wahrheits- mit Machtansprüchen. Die darin enthaltene ideologische Kompensation für nicht vorhandene demokratische Verständigungsverhältnisse, die einer demokratischen, d.h. auf egalitäre öffentliche Diskussionen ausgerichteten Gesellschaft entsprächen, soll heute durch die Elite-Vorstellung geleistet werden. Es lassen sich daher die bis heute geltenden entscheidenden gesellschaftlichen Konfliktlinien benennen: Einem Elitenmodell der rechten Gesinnung mit Führer- und Gefolgschaftsvorstellungen steht der emanzipatorische Anspruch auf eine Demokratisierung aller Lebensbereiche und Institutionen entgegen; einem privilegierten Erkenntnisanspruch, der Weisheit, Wahrheit und Macht verknüpft, wird mit der Auffassung von der Autonomie der Vernunft, der Bildsamkeit aller widersprochen; Herrschafts- und Machtansprüchen wird mit freiheits- und rechtverbürgenden universalistischen Prinzipien der Beteiligung aller an gesellschaftlich bedeutsamen Entscheidungen begegnet. (12)

Auch dafür gibt es eine deutsche Tradition, die sich als anti-elitär, egalitär orientiert, lesen lässt: Selbstverständnis wie politische Perspektive einer Orientierung, die alternativ zum Eliten-Motiv in der Olympier-Gestalt sich verhält, kommen - konstrastiv formuliert - in ihrer Öffentlichkeit durch Debatten und gleichberechtigte Teilnahme und Teilhabe aller konstituierenden Weise in der Darstellung Wienbargs bereits vor 170 Jahren zum Ausdruck: "Welches Merkmal ist es also, das die Ästhetik der neuesten Literatur, die Prosa eines Heine, Börne, Menzel, Laube, von früherer Prosa unterscheidet? Ich möchte ein Wort dafür geben und sagen, dies Merkmal ist die Behaglichkeit, die sichtbar aus der Goetheschen und Jean Paulschen Prosa spricht und die der neuesten fehlt. Jene früheren Großen unserer Literatur lebten in einer von der Welt abgeschiedenen Sphäre, weich und warm gebettet in einer verzauberten, idealen Welt und sterblichen Göttern ähnlich auf die Leiden und Freuden der wirklichen Welt hinabschauend und sich vom Opferduft der Gefühle und Wünsche des Publikums ernährend. Die neuern Schriftsteller sind von dieser sichern Höhe herabgestiegen, sie machen einen Teil des Publikums aus, sie stoßen sich mit der Menge herum, sie ereifern sich, freuen sich, lieben und zürnen wie jeder andere, sie schwimmen mitten im Strom der Welt, und wenn sie sich durch etwas von den übrigen unterscheiden, so ist es, dass sie die Vorschwimmer sind und, sei es nur trocken und elegant auf dem Rücken eines Delphins wie Heine oder naß und bespritzt wie Börne, den Gestaden der Zukunft entgegeneilen, welche die Zeit für 'ihre hesperischen Gärten glücklicher Inseln' ansieht" (1967: 117).

"Whose Millennium? Theirs or Ours? fragt D. Singer (1999) angesichts gegenwärtiger Weltverhältnisse und hegemonialer Auseinandersetzungen. (13) Mit 'kritischer Intellektualität' im Rücken könnte eine Anti-Eliten-Politik im Interesse aller, ausgerichtet auf die Demokratisierung unserer Gesellschaft möglich werden.

Prof. Dr. Heinz Sünker
Redaktion Widersprüche

Anmerkungen

1. Neben soziologischen Analysen kommen für diesen Zusammenhang anschaulicher Literatur und Film zum Tragen.

2. Dass 'Eliten' wie Bourgeoisie insgesamt immer gerne von historischer Verantwortung ablenk(t)en und sich zu exkulpieren suchten, darauf verweist bereits im Falle des 1. Weltkriegs einerseits der Versuch, den "Griff nach der Weltmacht" (Fritz Fischer) zu leugnen - also anderen Nationen die Schuld zuzuschieben -, andererseits verbindet sich mit der Erfindung des "Geistes von 1914" (Verhey 2000) der Versuch, 'alle' schuldig aussehen zu lassen.

3. Dabei wird selbst in der "normalen" Soziologie darauf hingewiesen, welch überragende Bedeutung wirtschaftlichen Interessengruppen, also "Eliten", bei der Bestimmung und Durchsetzung ökonomischer und politischer Ziele zukommt (Hoffmann-Lange 1992: 40ff); zur verbreiteten Manager-Kriminalität s. Brenner (2003).

4. Gesellschaftspolitisch zu überprüfen wäre hier die Bedeutung des Formwandels, der im "Übergang vom Bildungsbürgertum zur Funktionselite" liegt (Heydorn 1979: 297).

5. Allerdings macht bereits vor mehr als 30 Jahren Hochhuth klar, dass sowohl die "Klassenkrieg"-Tradition (1971a) für die BRD nichts Neues darstellt als auch die SPD mehrheitlich auf der Seite der Herrschenden zu finden ist (1971a: 75; 1971b: 130f.).

6. Wehler geht weiterhin in seiner Analyse des Kaiserreichs davon aus, dass in vielen gesellschaftlichen Bereichen die alte Machtelite des Adels ihre Vorherrschaft aufrecht erhielt - und dies auch in einer für die Gestaltung der politischen Kultur entscheidenden Weise über 1918 hinaus: "Welche Durchsetzungsfähigkeit er trotz der für ihn katastrophalen Niederlage von 1918 behält, zeigt seine verhängnisvolle Rolle in den Krisensituationen der Weimarer Republik bis hin zum 30. Januar 1933. Der 'diskrete Charme' des ostelbischen Adels degeneriert zwischen 1914 und 1944 zu einer abgrundtiefen politischen Verantwortungslosigkeit, welche die Nemesis mit Vernichtung beantwortet" (1988b, S. 203).

7. Zusammenfassend zu neueren Forschungsergebnissen zu Gesellschaftsgeschichte und Terror im NS s. die Darstellung von Nelles/Rübner/Sünker (2002).

8. Zu Funktion und Rolle des Bildungsbürgertums bei der Machtübergabe an die Nazis s. die grundlegende Studie von Bollenbeck (1999); zu "Funktionseliten" im NS s. Lüdtke (1991); zu Aspekten von "Wissenschaft" s. Dickinson (2004); zur Debatte um Arbeiter und Arbeiterbewegung s. Geary (2002).

9. In diesen Kontext gehört sowohl die Debatte um die "Verwandlungspolitik" (Loth/Rusinek 1998), nicht nur von unmittelbaren NS-Eliten, als auch die Erinnerung an den Skandal der Renten für Kriegsverbrecher und Mörder aller Art, bei Diffamierung des Widerstands (vgl. Hochhuth 1971a: 44), sowie die "Sorge" bürgerlicher Kreise und Institutionen um die Mörder in der postfaschistischen Ära (Klee 1991).

10. Zu deren Kontextualisierung s. Würffel (1986, S. 5): "Von der modernen Intellektuellenschelte, die nach dem Zweiten Weltkrieg mit den Wellen eines erstarkenden Neokonservativismus einherging, über den Vorwurf des Vaterlandsverrats und des Defätismus, der Liebknecht 1914 nach dem Widerspruch gegen die Bewilligung der Kriegskredite traf, bis zum Verbot des 'Jungen Deutschland' durch den von Metternich gelenkten Deutschen Bundestag im Jahre 1835 entrollt sich ein leicht um weitere Beispiele zu ergänzender roter Faden der Diffamierung und Verunglimpfung eines Geistes, der sich nicht als affirmativer, sondern als kritischer und widersprechender begreift".

11. Zur Entmythologisierung der Vorstellung eines Zusammenhangs von Elite und Leistung s. instruktive Beispiele wie Analyse bei Hartmann (2002: 15ff, 179f.).

12. Zudem ist in diesem Kontext zum einen die Vermittlung von demokratischer Bildung und der Bildung von Demokratie (vgl. Sünker 2003, Kap. X), zum andern das antagonistische Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus (vgl. Meiksins Wood 1995) zu diskutieren.

13. Auch hier ist noch einmal auf Besonderheiten der politischen Kultur Deutschlands abzuheben; s. dazu die historische Einschätzung von Kohlhammer (1973, S. 9): Gerade in Deutschland musste die Tatsache der nationalen Zersplitterung und eines gewaltsam - wie auch immer notdürftig - restaurierten vorrevolutionären Zustands der Gesellschaft das Gefühl des transitorischen Charakters des Bestehenden verstärken; was aber eben nicht notwendig zu politischem Aktivismus, zur Revolte gegen die objektiv unvernünftige Wirklichkeit führte, sondern im Gegenteil Verunsicherung und ratlose Passivität zur Folge haben konnte".

Literatur

Adorno, Theodor W./Jaerisch, Ursula 1968: Anmerkungen zum sozialen Konflikt heute, in: H. Düker et al.(Hg.): Gesellschaft, Recht und Politik. Neuwied, 1-20

Bollenbeck, Georg 1999: Tradition, Avantgarde, Reaktion. Frankfurt/M.

Bonß, Wolfgang 2000: Was wird aus der Erwerbsgesellschaft?, in: U. Beck (Hg.): Die Zukunft von Arbeit und Demokratie. Frankfurt/M., 327-415

Brenner, Robert 2003: Schwungvoll auf Talfahrt. Ursachen und Mechanismen der US-amerikanischen Wirtschaftskrise, in: lettre international Frühjahr, 50-57

Brunkhorst, Hauke 1987: Der Intellektuelle im Land der Mandarine. Frankfurt/M.

Chomsky, Noam 1998: Haben und Nichthaben. Bodenheim

Dickinson, Edward R. 2004: Biopolitics, Fascism, Democracy: Some Reflections on Our Discourse about "Modernity", in: Central European History 37 (No. 1), 1-48

Fischer, Fritz 1979: Bündnis der Eliten. Zur Kontinuität der Machtstrukturen in Deutschland 1871-1945. Düsseldorf

Geary, Dick 2002: Nazis and Workers before 1933, in: Australian Journal for Politics and History 48 (No. 1), 40-51

Giefer, Renate/Giefer, Thomas 1991: Die Rattenlinie. Fluchtwege der Nazis. Frankfurt/M.

Gorz, André 1989: Kritik der ökonomischen Vernunft. Berlin

Grab, Walter 1984: Ein Volk muß seine Freiheit selbst erobern. Zur Geschichte der deutschen Jakobiner. Frankfurt/M.

Gumbel, Emil J. 1980 (1922): Vier Jahre politischer Mord. Heidelberg

Hartmann, Michael 2002: Der Mythos von den Leistungseliten. Frankfurt/M.

Heydorn, Heinz Joachim 1979: Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft. Frankfurt/M.

Hochhuth, Rolf 1971: Krieg und Klassenkrieg. Studien. Reinbek

Hochhuth, Rolf 1971a: Der Klassenkampf ist nicht zu Ende, in: ders., 21-86

Hochhuth, Rolf 1971b: Die Sprache der Sozialdemokraten, in: ders., 130-141

Hoffmann-Lange, Ursula 1992: Eliten, Macht und Konflikt in der Bundesrepublik. Opladen

Jänicke, Martin1986: Staatsversagen. München

Klee, Ernst 1991: Persilscheine und falsche Pässe. Frankfurt/M.

Koebner, Thomas/Weigel, Sigrid (Hg.) 1996: Nachmärz. Der Ursprung der ästhetischen Moderne in der nachrevolutionären Konstellation. Opladen

Kohlhammer, Siegfried 1973: Resignation und Revolte. Immermanns "Münchhausen": Satire und Zeitroman der Restaurationsepoche. Stuttgart

Loth, Wilfried/Rusinek, Bernd (Hg.) 1998: Verwandlungspolitik. NS-Eliten in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Frankfurt/M.

Lüdtke, Alf 1991: Funktionseliten: Täter, Mit-Täter, Opfer? Zu den Bedingungen des deutschen Faschismus, in: ders. (Hg.): Herrschaft als soziale Praxis. Göttingen, 559-590

Machtan, Lothar/Milles, Dietrich 1980: Die Klassensymbiose von Junkertum und Bourgeoisie. Zum Verhältnis von gesellschaftlicher und politischer Herrschaft in Preußen-Deutschland 1850-1878/79. Frankfurt/M.

Meiksins Wood, Ellen 1995: Democracy Against Capitalism. Renewing Historical Materialism. Cambridge

Nelles, Dieter/Rübner, Hartmut/Sünker, Heinz 2002: Organisation des Terrors im Nationalsozialismus, in: Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau 25 (H. 45), 5-28

Otto, Hans-Uwe/Sünker, Heinz 1991: Volksgemeinschaft als Formierungsideologie des Nationalsozialismus, in: dies. (Hg.): Politische Formierung und soziale Erziehung im Nationalsozialismus. Frankfurt/M., 50-77

Peukert, Detlev 1987: Die Weimarer Republik. Frankfurt/M.

Rühmkorf, Peter 1972: Die Jahre die ihr kennt. Reinbek

Schumacher, Joachim 1972 (1937): Die Angst vor dem Chaos. Über die falsche Apokalypse des Bürgertums. Frankfurt/M.

Schneider, Manfred 1980: Die kranke schöne Seele der Revolution. Heine, Börne, das "Junge Deutschland", Marx und Engels. Frankfurt/M.

Schneider, Michael 1985: Die Wiedergutmachung oder wie man einen verlorenen Krieg gewinnt. Köln Singer, David 1999: Whose Millennium? Theirs or Ours? New York

Sünker, Heinz 2003: Politik, Bildung und soziale Gerechtigkeit. Frankfurt/M.

Verhey, Jeffrey 2000: Der "Geist von 1914" und die Erfindung der Volksgemeinschaft. Hamburg

Vester, Michael et al. 2001: Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Frankfurt/M.

Wehler, Hans-Ulrich 1987: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 1 München

Wehler, Hans-Ulrich 1988a: Die deutsche Frage in der europäischen Politik 1648-1986, in: ders.: Aus der Geschichte lernen? München, 34-43

Wehler, Hans-Ulrich 1988b: Wie "bürgerlich" war das Deutsche Kaiserreich?, in: a.a.O., 191-217

Wienbarg, Ludolf 1967 (1834): Heine als Vorbild eines witzigen Stils, in: J. Hermand (Hg.): Das Junge Deutschland. Texte und Dokumente. Stuttgart, 114-124

Wright, Erik O. 1997: Class Counts. Cambridge/Paris

Würffel, Stefan B. 1986: Der produktive Widerspruch. Heinrich Heines negative Dialektik. Bern

2004 | Inhalt | Editorial | Abstracts | Leseprobe