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Heft 94: Kampf ums Herz - Neoliberale Reformversuche und Machtverhältnisse in der 'Gesundheits-Industrie'

2004 | Inhalt | Editorial | Abstracts | Leseprobe

Titelseite Heft 94
  • Dezember 2004
  • 102 Seiten
  • EUR 11,00 / SFr 19,80
  • ISBN 3-89370-400-0
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Nadja Rakowitz
Klassen-Medizin
Die Gesundheitsreform als Instrument der Umverteilung von unten nach oben

Kaum eine öffentliche Debatte ist im Moment mehr von Mythen geprägt als die über das Gesundheitswesen und die Gesundheitsreform. In der Auseinandersetzung finden wir, propagandistische Verkürzungen und den Austausch vermeintlicher Evidenzen. Permanent wird das Gespenst der "Kostenexplosion" und des "Demographieproblems" an die Wand gemalt - und das alles vor dem Hintergrund einer Debatte über den Standort Deutschland und die "zu hohen Lohnkosten", von denen ein Teil, nämlich die sogenannten Lohnnebenkosten, nicht weiter belastet werden soll durch steigende Beitragssätze für die Krankenversicherung. Unter diesen Prämissen konnte die rot-grüne Gesundheitsreform nur die Richtung annehmen, die sie nun eben auch hat: faktisch bedeutet sie eine Individualisierung des Risikos, krank zu werden und die Kosten dafür tragen zu müssen. Der folgende Text versucht, die wirklichen Probleme und ihre Ursachen zu analysieren und die Gesundheitsreform vor diesem Hintergrund einzuschätzen.

Rolf Schmucker
Freiheit für Gesundheitsdienste?
Zur marktorientierten Europäisierung der Gesundheitspolitik

Entgegen der ursprünglichen Intention der EG-Gründer, vollzieht sich in den vergangenen Jahren eine Europäisierung sozial- und gesundheitspolitischer Regulierung. Die Mitgliedsstaaten müssen bei der Gestaltung der Gesundheitspolitik europäisches Recht beachten. Da es sich dabei vor allem um das Recht des Binnenmarktes handelt, kommt es seit einigen Jahren zu einer marktorientierten Deregulierung in den nationalen Gesundheitswesen. Bei der "Marktöffnung" der Gesundheitssysteme spielen die Kommission und der Europäische Gerichtshof eine entscheidende Rolle. Der aktuell vorgelegte Entwurf einer Dienstleistungsrichtlinie verstärkt diese Entwicklungstendenz. Sollte die Richtlinie in dieser Form in Kraft treten, werden weite Bereiche nationaler gesundheitspolitischer Regulierung auf den Prüfstand einer quasi uneingeschränkt wettbewerbsorientierten Rechtsgrundlage gestellt. Mögliche Folgen, wie die Privatisierung der gesundheitlichen Versorgungssysteme, ein schlechterer Zugang für sozial schwächere Bevölkerungsschichten oder negative Konsequenzen für die Qualitätssicherung werden weitgehend ausgeblendet.

Winfried Beck
Privatisierung von Früherkennungsleistungen am Beispiel der Osteoporose

Die Erfindung von neuen chronischen Massenkrankheiten und die Bereitstellung von dagegen wirkenden Medikamenten ist ein neues und besonders lukratives Operationsgebiet des medizinisch-industriellen Komplexes. Am Beispiel der Osteoporose und der Hormonersatztherapie in der Menopause der Frauen wird gezeigt, wie und mit welchen Folgen für die Bevölkerung die Öffentlichkeit und die ÄrztInnen manipuliert werden. Bei der Durchsetzung der kommerziellen Interessen der medizinisch-technischen und der pharmazeutischen Industrie kann diese nicht auf die Ärzteschaft verzichten. Deren Korruption ist daher trotz aller Standesgesetze an der Tagesordnung. Leseprobe

Walburga Freitag
Von orthopädischer Ordnungs-Macht an un-ordentlichen Körpern und biographischem Eigen-Sinn

Im Mittelpunkt des Beitrags stehen Ergebnisse einer foucaultschen Analyse orthopädischer Behandlungsdiskurse, die für die in den frühen 1960er Jahren geborenen durch Contergan geschädigten Kinder in Westdeutschland entwickelt wurden, sowie die Frage, in welcher Weise diese diskursiven Praktiken das Leben der contergangeschädigten Frauen und Männern beeinflusste, ob sie aus biographischer Perspektive als bedeutsam bewertet oder gar anerkannt wurden. Wochen- bis monatelange Krankenhausaufenthalte und die Verpflichtung der Mütter als 'Ko-Therapeutin' waren für die Umsetzung erforderlich. Die Normalisierung des Körpers (Foucault) wurde von den orthopädischen Disziplinen mit der Aussicht auf einen in der Ferne liegenden Dauerarbeitsplatz' legitimiert. Obschon früh deutlich wurde, dass die Kinder die Prothesen nicht wie erwartet in ihr Körperschema einbezogen, sondern ablehnten, konnten die orthopädischen Disziplinen mit dem 'Versorgungsbedarf' der contergangeschädigten Kinder bzw. Jugendlichen nahezu 25 Jahre lang Mittel in Millionenhöhe akquirieren, die in erster Linie der technologischen Weiterentwicklung und somit Professionalisierungszielen der orthopädischen Disziplinen dienten. Auf der biographischen Ebene konnte zwar Widerstand mobilisiert werden, die Folgen der Normalisierungspraktiken für das Leben der geschädigten Frauen und Männer sind jedoch gravierend.

Renate Schumak
Die neue Anthropologie des Arbeitslosen
Diskursanalyse eines Gesetzestextes: Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

Das neue Sozialgesetzbuch II, besser bekannt als Hartz IV, regelt ab 2005 die Existenzgrundlage für alle Erwerbsfähigen und ihre engsten Angehörigen, die keine Arbeit finden können bzw. deren Arbeitseinkommen nicht zum Lebensunterhalt ausreicht. Der Beitrag untersucht, wie der Gesetzestext seine Adressaten konstruiert: Mit zunächst wohlklingenden Vokabeln wie 'Grundsicherung', 'Eigenverantwortung' oder 'Eingliederungsvereinbarung' werden Praktiken festgeschrieben, die die Handlungsspielräume der Betroffenen erheblich einschränken und ihre Rechte beschneiden. Hintergrund ist die Konstruktion von Erwerbslosen als Inaktive, die motiviert und aktiviert werden müssen (unter Androhung des Entzugs der Existenzgrundlage) sowie als Anspruchsvolle, denen Grenzen aufgezeigt werden müssen. Diese Konstruktion wird im Rahmen des folgenden Beitrags mit praktischen Erfahrungen in der psychologischen Beratungsarbeit mit Erwerbslosen sowie deren eigenen Aussagen konfrontiert. Es ergibt sich ein paradoxes Bild: Maßnahmen, deren ausgemachtes Ziel es ist, die Eigenverantwortung ihrer Adressaten zu stärken, führen tatsächlich zu Bevormundung und Entmutigung. Der Beitrag schließt mit Überlegungen dazu, unter welchen Bedingungen diese scheinbar widersinnige Psychologie des Gesetzes dennoch folgerichtig sein könnte.

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