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Heft 97: Politik des Sozialen - Alternativen zur Sozialpolitik. Umrisse einer Infrastruktur

2005 | Inhalt | Editorial | Abstracts | Leseprobe

Titelseite Heft 97
  • September 2005
  • 160 Seiten
  • EUR 11,00 / SFr 19,80
  • ISBN 3-89370-409-4
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Politik des Sozialen. Alternativen zur Sozialpolitik. - Die "Politik des Sozialen" wird von den WIDERSPRÜCHEN als ein emphatischer Begriff und als eine gesellschaftlich mögliche Gegenvorstellung zu herrschenden Ideen und Institutionen des Sozialen verstanden. Die "Aktualität" von Gegenvorstellungen beruht auf der Aktualisierung ihrer theoretischen Zugänge und ihrer demokratischen Voraussetzungen.

Seit es die Zeitschrift WIDERSPRÜCHE gibt, seit 1982, war sie ein Ort, an dem gegen eine "blinde Verteidigung des Sozialstaats" argumentiert wurde. Die "Politik des Sozialen" können wir als eine spezifische Form von Kritik verstehen. Kritik und die Formulierung von "Alternativen", von nicht herrschenden Ideen der Produktion des Sozialen gehen zusammen. Die mehr als zwanzigjährige Diskussion zeigt, dass man "für" einen (wenn auch in Umrissen formulierten) Gegenentwurf nur sein kann, wenn jeder Diskussionsstand und jede Neubestimmung diskutiert, kritisiert und weiterentwickelt wird. Im Kontext des emphatischen Begriffs einer Politik des Sozialen ist in Bezug auf formulierte und realisierte Alternativen "immer wieder einer neuer Anfang zu machen" - wie es im Editorial des Heftes 91 über "scheiternde Erfolge" ausgedrückt wurde. Derzeit gibt es Chancen, Diskussionen von Alternativen zur herrschenden Sozialpolitik, die an verschieden Orten stattfinden, miteinander zu verbinden.

Mehr Bewegung und Protest?

Im Vergleich zu der bisherigen Stille, mit der die Restrukturierung des fordistischen Sozialstaats hingenommen wurde, sorgte die Intensivierung des neoliberalen Projektes und seine Vermarktung als "agenda 2010" für deutlich mehr öffentlich artikulierten Protest. Wenn man die Organisierung von Gegenmacht nicht ganz verabschieden will, ist es unabdingbar, sich mit den Praktiken und Modellen von Kritik auseinander zu setzten. Wie wäre sonst das Hegemoniale, das durch seine Selbstverständlichkeit Herrschende zu identifizieren? Wie wäre mit den Selbstverständlichkeiten zu brechen, wenn nicht über die Diskussion des Widerspruchs, der Kritik und radikale Gegenentwürfe verbindet? Eine Verbindung von radikal-demokratischen Denkweisen mit einer Kritik am fordistischen und am neoliberalen Sozialstaat sowie die Suche nach Alternativen zu jeder bürokratisch-herrschaftlichen, sozialstaatlichen Regulation war nicht in vielen Positionspapieren des Protestes zu finden. Von dem Interesse ausgehend, eine Alternative zur Sozialpolitik zu skizzieren, war es besonders naheliegend und interessant die Diskussion um das Konzept von "Sozialpolitik als Infrastruktur", das die AG links-netz im Herbst 2003 vorgelegt hat, mit dem Diskurs der WIDERSPRÜCHE über eine "Politik des Sozialen" zusammenzuführen. Der Schwerpunkt des vorliegenden Heft dient dazu, Wahlverwandtschaften herauszuarbeiten und kritische Punkte zu markieren. Die in diesem Heft versammelten Beiträge kommen einer gegenseitigen Einladung nach: der der WIDERSPRÜCHE zum "Mitstreiten" im Diskurs über die "Politik des Sozialen" und der Einladung der AG links-netz durch die Formulierung radikaler Alternativen, hegemoniale Ideen "zum Tanzen zu bringen".

Radikale Kritik als Lernprozess

Die Arbeit an "Alternativen zu", an "Gegenentwürfen" oder gar an "utopiekritischen Utopien" folgt dem Modell der Hausarbeit, nicht dem Modell einer Umwälzung. Für die Weiterentwicklung der Politik des Sozialen waren spezifische Erfahrungen und Einsichten zentral. Dies waren die Erfahrung der äußerst begrenzten Veränderungsmöglichkeiten im Hinblick auf eine Überwindung der sozialstaatlichen Regulation und die Erfahrung der leichten Instrumentalisierung von Elementen des Alternativen im Kontext der neoliberalen Restrukturierung. Diese Erfahrung von Grenzziehungen hatte einen gewissen Vorteil: Es konnte gelernt werden, dem notwendigen theoretischen Pessimismus der Analyse die Haltung eines "realistischen Pessimismus" im eingreifenden Denken beiseite zu stellen. Dass dem Handeln (anders als der Theorie) ein einfacher "Optimismus" zugrunde liegen könnte, davon müssen wir wohl Abstand nehmen. Gegen herrschende Selbstverständlichkeit und institutionelle Festlegungen anzudenken wurde damit nicht verlernt - im Gegenteil. Der Lernprozess bei der Weiterentwicklung der Politik des Sozialen bestand darin, "Alternativen" nicht an einer "Wirkung" zu messen. In den verschiedenen Veröffentlichungen zum "Stand der Diskussion über die Politik des Sozialen" (wie im Sonderband von links und WIDERSPRÜCHE 1997; vgl. auch Timm Kunstreich im gemeinsamen Jahresband des SB und WIDERSPRÜCHE 1999) und in folgenden Veröffentlichungen der Diskussion zwischen verschiedenen Mitgliedern der Redaktion schieben sich zwei Beurteilungskriterien in den Vordergrund. Bezogen auf die Seite der Institution kam es darauf an, mit der herrschenden Logik des Sozialstaats zu brechen und die Kritik theoretisch anspruchsvoller zu machen: mit der Lohnarbeitszentrierung, der kompensatorischen und der subsidiären Logik des Sozialstaats zu brechen, die Verbindungen zwischen seiner fordistischen und neoliberalen Logik heraus zu arbeiten, andere Organisationsprinzipien zu finden, Dienstleistung neu und von ihren Gebrauchswerten her zu bestimmen. Auf der Seite der Subjekte kam es darauf an, sich ihren Alltagspraxen zu nähern, ihrem Eigensinn, ihren Kämpfen um Teilhabe und den dabei entwickelten sozialen Erfindungen sowie ihren "Sozialitäten". Das geschah nicht zuletzt dadurch, dass die Vorstellung von dem "einen" Subjekt aufgegeben und die Geschlechterverhältnisse sowie die Konflikte innerhalb und zwischen Klassen(-fraktionen) sowie die sich daraus ergebenden Praxen mit gedacht wurden. Eine "selbstbestimmte Vergesellschaftung im Sozialstaat" kann, wenn sie überhaupt zu denken ist, nur von der Seite der Subjekte gedacht werden. Diese letzte, subjektbezogene Perspektive stand in der Diskussion der WIDERSPRÜCHE in der vergangenen Dekade im Vordergrund. Eine Politik des Sozialen (verstanden als "Gestaltung der Lebensverhältnisse durch die Subjekte selbst") würde wohl nur ermöglicht durch eine Sozialstaatlichkeit, die nicht lohnarbeitsfixiert bleibt und die nicht als diskriminierend erfahren wird. In Bezug auf die institutionelle Seite steht es an, "wieder einen Anfang zu machen". Die Politik, die wenigen in herrschenden Strukturen angelegten Emanzipationsmöglichkeiten zu verschütten, ist widersprüchlich genug, um Befreiungsmöglichkeiten im Kapitalismus erneut zu denken und die Kritik durch einen Gegenentwurf von der Norm des Sozialstaates wie wir ihn (noch nie) hatten unabhängiger zu machen.

Die Produktivität von Gegenentwürfen

Die Regelmäßigkeit der Diskussion einer Politik des Sozialen in den WIDERSPRÜCHEN ergibt sich aus der Entscheidung, auf die "82er Wende" - auf den Beginn der neoliberalen Restrukturierung des fordistischen Sozialstaats - mit einem Widerspruch zu antworten, der Kritik am sozialstaatlichen Zusammenhang von Hilfe und Herrschaft mit einem Gegenentwurf zu herrschenden Ideen und institutionalisierten Festlegungen von Lebensweisen verbindet. Das zu Beginn der politischen Re-Regulierung gewählte Modell ("Verteidigen, kritisieren und überwinden zugleich!") bietet wohl nur unter bestimmten Bedingungen einen Ausweg aus der unproduktiven Dichotomie zwischen Kritik und Affirmation: "Für eine 'Politik des Sozialen' mit vielen Fragen" lautete der Titel eines 1989 in Heft 31 erschienenen Beitrages von Nico Diemer. Vorbereitet wurde das zweite Posititionspapier der WIDERSPRÜCHE (für eine "Politik des Sozialen"), in das die Kritik des ersten Papiers (für den "Umbau des Sozialstaats") eingegangen ist. "Für" einen (wenn auch in Umrissen) ausformulierten Gegenentwurf kann man nur sein, wenn jeder Diskussionsstand und jede Neubestimmung der Politik des Sozialen diskutiert, kritisiert und weiterentwickelt werden.

Mit ausformulierten Alternativen haben sich schon früh Erfahrungen der Enteignung von Begriffen und des Umbiegens von Alternativen verbunden - allerdings auch Lernprozesse, dies zu bearbeiten. Nachhaltig sind wohl Projekt und Begriff des "alternativen Umbaus des Sozialstaats" geworden, der inmitten der ersten politische "Wende" der frühen 80er Jahre und im ersten Positionspapier der WIDERSPRÜCHE die Möglichkeit eines "alternativen Ausgangs aus der Krise" des fordistischen Sozialstaats anzeigen sollte. Der Forderung nach einer Sozialen Garantie (einem Existenzgeld bzw. Grundeinkommen unabhängig von Lohnarbeit), das Konzept einer Produzierenden-Sozialpolitik (eine Infrastruktur von Diensten, "... die hilfreich, aber nicht beherrschend sind, individuell zureichend, aber nicht parzellierend; Lebenszusammenhänge stützend, aber nicht kompensatorisch; und die wirkungsvoll, aber nicht herrschaftlich funktional sind") und die Arbeit an einer Alternativen Hegemonie wurden als Perspektiven gedacht, "in den sozialstaatlichen Institutionen und durch sie hindurch" zu selbstbestimmten Formen der Vergesellschaftung im Sozialstaat und im Kapitalismus zu kommen.

Ein Jahr nach der Veröffentlichung des ersten Positionspapiers hielt Nico Diemer in seinem einleitenden Beitrag zum Schwerpunktthema des Heftes 12 "Umbau des Sozialstaats - Die Debatte geht weiter" fest: "Ein 'Umbau des Sozialstaats' ist nicht etwas, das von unserer Seite gepachtet wäre." (Diemer 1984, S. 7) Die "Perspektiven einer alternativen Sozialpolitik" erhielten einen Sinn nicht durch eine "Realisierung". Geschult wurde vielmehr der erwähnte "realistische Pessimismus". Es zeigte sich, dass formulierte Gegenkonzepte - wegen der Skepsis und Selbstkritik an den "Muttermalen der Antworten" - ihre eigene Produktivität entfalten. "Alternativen" schärfen den analytischen Blick. Die ab der zweiten Hälfte der 80er stattfindende Politik mit dem Sozialstaat wurde nicht (wie bis heute üblich) als revidierbare, "konjunkturelle" Abweichung von einer überzeitliche Norm "Sozialstaat" bestimmt, sondern als ein (wenig) umkämpfter Umbau des fordistischen Regulationsmodells. Die formulierten "Perspektiven" fungierten als eine Kritikfolie, durch welche die Logik der absehbaren neoliberalen Transformation des Reproduktionsbereiches bzw. des Sozialen zu Beginn der Epoche erstaunlich klar sichtbar wurde. Mit wenigen sprachlichen Aktualisierungen würden wir die "Prognose" der kommenden Sozialpolitik als eine "Diagnose" der aktuell herrschenden Logik lesen:

"Der 'Umbau des Sozialstaats nach rechts' besteht einmal in der weiteren Reduktion der sozialstaatlichen Leistungen bei gleichzeitiger Verschärfung von Selektion und in der Erosion bürgerlicher Freiheiten (Dienstverpflichtungen, Zwangsarbeit) innerhalb des Rest-Sozialstaats, in der Verwahrung (Jugendliche) und Vertreibung (Ausländer) von Opfern, zum zweiten in der staatlichen Subventionierung marktförmiger Privatfürsorge oder subsidiärer Selbsthilfe. Instrument der Durchsetzung des 'Umbaus ist die konservative Bürokratie-Kritik, die nach dem erprobten Verkehrungsmuster verfährt. Es soll also ein duales Modell der sozialen Reproduktion entstehen, parallel zur Spaltung der Gesellschaft in 'Kern und 'Rand: Ein Armen-Zwangs-Sozialstaat und daneben auf dem Markt käufliche soziale Reproduktionsleistungen plus hegemonial kontrollierte Selbsthilfe, sprich: Subsidiarität mittels ehrenamtlicher Arbeit von (Mittelschichts-) Frauen, über denen Kirche, Caritas und christliche Sozialmanager thronen. Dieser 'Umbau' wird sicher an Grenzen stoßen, Grenzen historisch-sozialpsychologischer Natur (deutsche Tradition des sorgenden Staates), Grenzen aus den Eigeninteressen der Profiteure der Verstaatlichung des Sozialen (Ärzte, Kassen, Verbände, Pharmakonzerne) und auch die 'silicon valleys der CDU benötigen staatlich gewährleistete Voraussetzungen an 'kollektivem Konsum (Qualifikation, Infrastruktur). Doch soviel ist klar: ein 'Umbau des Sozialstaats ist nicht etwas, das von unserer Seite gepachtet wäre." (Diemer in Heft 31, 1984, S. 7)

"Politik des Sozialen" verbindet sich mit einer intellektuellen Praxis, den Positionen und Bestimmungen des "Nötigen" und dem in der Politik nach objektiven Bedingungen "Möglichen" nicht vorschnell die Beurteilung des "Alternativen" zu verleihen. Die Reflexion von skizzierten Alternativen und Perspektiven, ihre Kritik, Diskussion und Reformulierung lässt einen weniger in Illusionen abdriften. Eher gibt es eine selbsterzeugte Drift, theoretisch anspruchvoller zu werden (weniger funktionalistisch und die politische Ökonomie im Auge behaltend) und die findigen und/oder entfremdeten Strategien der "Wohlfahrtspolitik von unten" in Erfahrung zu bringen. Mit solchen Reflexionsschleifen verbessern sich Kompetenzen Brüche, zu benennen, die nötig sind, um in einem realistischen Pessimismus auch künftig Perspektiven von Alternativen zur herrschenden (Sozial-)Politik formulieren zu können. Das traditionalistische, normative Muster von Kritik wäre damit endgültig zu verabschieden. Die Diskussion der Überlegungen von "Sozialpolitik als Infrastruktur" kann genau dies leisten und eine Weiterentwicklung einer "Politik des Sozialen" ermöglichen.

Zu den Beiträgen im Einzelnen:

Der Beitrag von Wolfgang Völker analysiert die Aufrufe und Erklärungen, die sich gegen die agenda 2010 richten. Er bringt die Bezugspunkte und die Begründungsmuster der verschiedenen Kritikmodelle auf einen Begriff; die Situationsanalysen sowie die Vorschläge für Gegenstrategien werden verglichen. Seine Typisierung der Proteste und der Vergleich von fachpolitischen Statements, von politisch-programmatischen Texten und analytisch-programmatischen Beiträgen ordnen das Feld nicht nur, sondern ermöglichen eine Beurteilung des durchaus unterschiedlichen kritischen Potentials - eben einen "Durchblick".

Der Bezugpunkt der Diskussion - die "Umrisse eines Konzeptes von Sozialpolitik als Infrastruktur" der AG links-netz aus dem Jahr 2003 wird in diesem Heft in Auszügen dokumentiert. Der Schwerpunkt liegt auf den Prinzipien, auf der Struktur und den Ebenen, auf denen Infrastruktur hergestellt wird, sowie auf einigen Aspekten der Finanzierung. Damit soll der Bruch mit dem herrschenden Verständnis und den Organisationsprinzipien der bestehenden Infrastruktur betont werden. Es handelt sich um eine öffentliche Infrastruktur, die unmittelbar auf die Bedürfnisse der Arbeitskraft bezogen ist, erst dies könnte "Soziale Infrastruktur" genannt werden.

Der Beitrag von Joachim Hirsch nimmt die Kritik und die Diskussion des AG links-netz-Papieres auf. Er knüpft explizit an die Überlegungen zu "Alternativen zur Sozialpolitik" an, die zu Beginn der neoliberalen Restrukturierung von der Erwerbslosenbewegung, von Teilen der Frauenbewegung und mit der "Politik des Sozialen" formuliert wurden. Einer der Gemeinplätze der neoliberalen "Re-Regulierung" ist die Hegemonie der Lohnarbeit auf der ideologischen Ebene bei faktischem Zerbröseln des Normallohnarbeitsverhältnisses. Das Konzept einer Sozialen Infrastruktur hält dazu an, die durchgesetzten Arbeitsverhältnisse und die dagegen entwickelten Formen von Arbeit stärker in die Kritik einzubeziehen bzw. insbesondere die Ermöglichung und Sicherung letzter als eine öffentlich/staatliche Aufgabe zu denken. Es ist ein Versuch über und eine Aktualisierung des Themas der "Dekommodifizierung", die auch der Vorstellung über eine "Produzierenden-Sozialpolitik" zugrunde liegt. Die Schwierigkeit der Einordnung der "Sozialpolitik als soziale Infrastruktur" zwischen reformistisch und utopisch wird in seiner Diskussion von (bisher) formulierten Einwänden deutlich.

Mit dem Beitrag von Heinz Steinert wird deutlich, dass die wichtigste Verbindung zwischen der "Sozialpolitik als Infrastruktur" und der "Politik des Sozialen" in der Erweiterung des Arbeitsbegriffs liegt. Dass Arbeit nicht in Lohnarbeit aufgeht, sondern vielmehr andere Formen von Arbeit voraussetzt (Hausarbeit, öffentliche, freiwillige Arbeit, Eigenarbeit, Bewältigung von Situationen sozialer Ausschließung) ist eher im politischen und dem Alltagsbewusstsein verankert, denn ein Ausgangspunkt für Sozialpolitik. Die Kritik an der Durchsetzung des "Lohnarbeitskraft-Unternehmers" nimmt die nur in Ausnahmefällen zur Kenntnis. Die Zu- und Unterordnung anderer Formen der Arbeit auf den Fixpunkt Lohnarbeit konstituierte bereits den Widerspruch des fordistischen "impliziten Arbeitsvertrages". Die diesem Vertrag zugrundeliegende Figur nennt Steinert den "Arbeitskraft-Beamten". Die mit dem neoliberalen Kapitalismus und mit dem "Lohnarbeitskraft-Unternehmer" vorausgesetzte und die durch ihn (noch üppiger als durch den Arbeitskraftbeamten) anfallende Arbeit gehörte durch eine öffentliche Infrastruktur eigenständig ermöglicht und gesichert. Die Perspektive von Alternativen zur Sozialpolitik, die Steinert gleichwohl aus den Widersprüchen der fordistischen Sozialstaatlichkeit des "Arbeitskraft-Beamten" entwickelt, liegt in der Aufwertung aller Formen der informellen Arbeit und der Relativierung von Lohnarbeit. Zur "Sozialpolitik als Reproduktion der Arbeitskraft nach ihren eigenen Bedürfnissen" gehört auch die Ermöglichung einer Freiheit zur "Nicht-Teilnahme".

Oliver Brüchert verwendet in seinem Beitrag das Konzept Sozialpolitik als Infrastruktur, um die Kritik der neoliberalen Rationalisierungen des Bildungssystems vor dem "ideologischen Trick" zu warnen, sich den betriebwirtschaftlich rationalisierenden Modernisierern als Bewahrer emanzipatorischer Ideen (einer Autonomie der Universität etwa) gegenüber zu stellen. Erinnert wird daran, dass sich im Zuge der Bildungsexpansion der 60er und 70er Jahre, die durchaus instrumentell und utilitaristisch angelegt war, Möglichkeiten ergeben haben, emanzipative und antiautoritäre Forderungen zu entwickeln und auch ein Stück umzusetzen. Die darin sichtbare "Dialektik der Bildungspolitik" sieht er allerdings (besonders, wenn sie in die befreiende Richtung gehen soll) nicht als eine Gesetzmäßigkeit an. Sie ist abhängig von der Art und Weise, wie das Bildungssystem und die Bildungspolitik analysiert und kritisiert wird. Gibt es heute Perspektiven, durch die man sich der instrumentellen Logik, der allgemeinen Disziplinierung für und in der Lohnarbeitswelt entziehen kann? Mit dem Konzept der Infrastruktur "zur Reproduktion der Arbeitskraft nach ihren eigenen Bedürfnissen" lassen sich zumindest gegen die (auch in der Kritik zelebrierten) "Erfolge" der neoliberalen Wende deren die Widersprüche herausarbeiten und die gebrauchten "wirklichen" Kompetenzen und Fähigkeiten der Bildung umreißen. Kritik ist möglich ohne "klassische", d.h. normative Bezugspunkte.

Der Beitrag von Thomas Gehrig arbeitet sich sorgfältig durch das Dilemma hindurch, in das sich gerade nicht-reformistische Linke seit Beginn der "Sozialen Frage" bringen, wenn sie bewerkstelligen wollen den Kapitalismus aus und im Sozialstaat zu überwinden. Gegenüber dem Selbstzutrauen, mit Alternativen die feine Linie ins bloße "Sollen" nicht zu überschreiten, ist er skeptisch und belegt dies an der Geschichte und den Inhalten der Positionspapiere der WIDERSPRÜCHE zur "Politik des Sozialen". Die Gefahr, in die "Sozialdemokratieschleife" zu geraten, sieht er für die politische Linke nicht gebannt. Auf Anstöße von Minderheiten, Sozialstaatlichkeit im Kapitalismus wieder einzufordern, gebe es als redliche politische und intellektuelle Reaktion nur, die Grenzen ihrer Politik zu verdeutlichen. Radikale Linke sollten sich insofern "nicht in den Widersprüchen der Sozialpolitik herumtreiben".

Andreas Bachmann setzt sich mit Fragen der Finanzierung von Systemen der Sozialen Sicherung auseinander. Gegen das Votum im Papier der AG lins-netz vom Versicherungsprinzip als einem Finanzierungsmodus, trägt er - bei aller angebrachten Kritik des Sozialversicherungsstaates - Argumente für diese Organisationsform zusammen. Finanzierungsfragen und Fragen einer demokratischen Organisation bzw. ihr Charakter als einer sozialen Garantie und einer Sicherung über einem Mindestniveau hängen zusammen. Und damit ist auch die Chance einer "Dekommodifizierung der Arbeitkraft" von Finanzierungs und Kassenfragen nicht unabhängig. Die Möglichkeiten, im Sozialversicherungssystem dessen Bürokratie und entpolitisierende Tendenzen zu überwinden, sieht Andreas Bachmann noch nicht ausgeschöpft.

Timm Kunstreich unternimmt es, eine Verbindung zwischen der "Sozialen Infrastruktur" (und deren Ausgangpunkt und Aufgabe "das eigene Leben zu betreiben") und der "Politik des Sozialen" (deren Ausgangspunkt die "Produktion des Sozialen" durch die Subjekte ist) herzustellen. Er sucht diese Verbindung in der "antiquiert" erscheinen Idee der Sozialgenossenschaften als eine Ebene und ein Element einer "Sozialen Infrastruktur". Die Genossenschaftsprinzipien (Förderung und Gebrauchswertorientierung, Identitätsprinzip, Demokratie, Ermöglichung von Solidarität) und die Bildung von Sozialgenossenschaften im Reproduktionsbereich enthalten ein Potential, die Warenförmigkeit der ökonomischen Verhältnisse in Teilbereichen und im Innenverhältnis der Zusammenschlüsse von Einzelnen zu (unter-)brechen, um "wirkliche" soziale Austauschverhältnisse zu (er-)finden. Der nach genossenschaftlichen Prinzipien organisierte Zusammenschluss (von partiell oder weitgehend Ausgeschlossenen und Diskriminierten, von Treuhändern und Professionellen) impliziert nach außen Möglichkeiten der Bildung einer kollektiven Gegenmacht. Die These, dass "überall dort, wo durch Ausschluss von sozialen Teilhaberechten die praktische Wahrnehmung politischer Rechte eingeschränkt und zivile Schutz- bzw. Freiheitsrechte ausgehebelt werden, (...) Sozialgenossenschaften notwendig" sind, begründet Timm Kunstreich sowohl durch die Geschichte dieser radikal-reformerischen (und konsequenterweise minoritären) Tradition und aus der Arbeitsweise von heutigen, am Prinzip der Sozialgenossenschaft orientierten Zusammenschlüssen. Eine offensive Diskussion um Sozialgenossenschaften wäre eine Perspektive, dass alternative Formen von Vergesellschaftung und eine alternative Infrastruktur sich auf einer lokalen, kommunalen Ebene gegenseitig weiterbringen - durch ihre sicher vorhanden Widersprüche hindurch.

Für alle, die die Geschichte der Diskussion um die "Politik des Sozialen" im Detail in den WIDERSPRÜCHEN (und auch in ihren Widersprüchen) nachvollziehen möchten, seien hier in aller Kürze die Hefte genannt, in denen sich Dokumente und Beiträge von verschiedenen Redakteuren und Redakteurinnen finden. Selbstreflexion ist nötig und möglich durch die Hefte 11 und 12 (1984); Heft 15 (1985); Heft 31 und 32 (1989); Heft 59 (1996); Heft 66 (Sonderband mit links, 1997); mit dem gemeinsamen Jahresband des Sozialistischen Büros 1999 und den Zeitschriften express und WIDERSPRÜCHE (Heft 73, 1999); in vielen Editorials der folgenden Hefte und schließlich ist auf das vorangegangen Heft 96 (2005) hinzuweisen.

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