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Heft 99: Politik des Sozialen - Verhandlungen über Lebensweisen - Moralische Ökonomien heute

2006 | Inhalt | Editorial | Abstracts

Titelseite Heft 99
  • Dezember 2005
  • 112 Seiten
  • EUR 11,00 / SFr 19,80
  • ISBN 3-89370-415-9
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Zwischen Wirtschaft und Institutionen der "Moral" finden wir in jeder Phase der kapitalistischen Entwicklung geschäftige Verbindungen, um die Lebensweisen von anderen zu strukturieren und die Leute mit "Moral" zu versorgen. Die heutigen Propagandisten der neoliberalen Transformation der Gesellschaft moralisieren arbeitsteilig. Die Werbung für die Erwerbsmentalität und die Selbstmobilisierung des Arbeitskraft-Unternehmers (und der durch Arbeit, Kinderbetreuung und Zeitmangel-Management über sich hinauswachsenden Arbeitskraft-Unternehmerin) richten sich an "uns", an die "Mitte der Gesellschaft". "Nach oben" werden von Medien-Intellektuellen Moralpredigten und moralische Appelle veröffentlicht, doch nicht allzu marktradikal zu agieren und das Wohl Aller eines "Wirtschaftsstandortes" im Auge zu behalten. "Nach unten" beobachten wir als Teil der "Politik der neuen Unterschicht" (so der Untertitel des vorherigen Heftes 98 der WIDERSPRÜCHE) moralische Deklassierungen und die Verbindung von Moral und Sanktion(-sdrohung). Wir können zudem bemerken, dass die veröffentlichte Kritik des neoliberalen Umbaus des Sozialstaates leicht als eine "Besitzstandswahrung" abgewehrt werden kann. Die Machtlosigkeit dieser Kritik liegt auch daran, dass die Akteure an ihrer Neutralisierung durch die Modernisierer tüchtig mitarbeiten: Der vielfach begrenzte und zu überwindende, weil auf Warenform, disziplinierte Lebensweise, Bürokratie und geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in der Form der fordistischen Kleinfamilie bezogene Kompromiss "Sozialstaat" wird zu einem wiederherstellbaren Zustand definiert und zur überhistorischen Norm erklärt. Gegen dieses traditionalistisch werdende, normative Muster von Kritik wurde in Heft 97 der WIDERSPRÜCHE (gemeinsam mit der AG links-netz) das Projekt verfolgt, die Politik des Sozialen auszubuchstabieren und Umrisse einer "sozialen Infrastruktur zum Betreiben des eigenen Lebens" zu skizzieren. Verhandelbar werden Lebensweisen erst, wenn wir herrschende Begriffe kritisieren und neue entwickeln.

Durch Klassenpolitik, patriarchale, lohnarbeitsbezogene Sozialpolitik, das zugehörige mehr oder weniger benevolente oder aber repressive Moral-Unternehmertum sowie durch Prozesse sozialer Ausschließung wird machtvoll eine je benötigte Arbeitsweise und die darauf bezogene Lebensweise hergestellt. Der Fortschritt der Herrschaftstechniken hat mit der Durchsetzung des Arbeitskraft-Unternehmers keinen Einbruch erfahren. Die zugehörige Sozialpolitik des "Forderns und Förderns" einschließlich einer darauf zugeschnittenen aktivierenden Sozialen Arbeit wird durchgesetzt; davon können wir ausgehen; Situationen sozialer Ausschließung, erzeugt durch den Markt und die Sozialpolitik werden zu normalen Erfahrungen werden.. Dies ist angebrachter Pessimismus in Bezug auf die Durchsetzbarkeit der neoliberaler "Arbeitsmoral", verstanden als ein Prinzip von Strukturen und Institutionen.

Dass diese Lebens- und Arbeitsweise notwendig, selbstverständlich und unvermeidbar ist und ohne Anstrengungen der Abwehr oder der strategischen (Aus-)Nutzung durch die Subjekte sich durchsetzt, müsste zumindest die gebildete Klasse gegen ihr verfügbares, reflexives historisches Wissen behaupten. Doch die notwendigen Voraussetzungen und das Interesse, durch Begriffe und erzählbare Geschichten für die Verstehbarkeit der alltäglichen adaptiven oder widerständigen Praktiken zu sorgen, scheinen fast allen Fraktionen der heutigen Wissensarbeiter zu fehlen. Ein Arbeitsbündnis, das Formen der Bearbeitung der veränderten Form kapitalistischen Wirtschaftens durch die Subjekte sowie die Folgen der Entgrenzung der Warenförmigkeit im Bereich des Sozialen in Erfahrung bringt und ihren Sinn dokumentiert, lässt sich jedoch in einem Lernprozess herausarbeiten. Dies ist sowohl die Voraussetzung, das Ideologische der Politik der "neuen Unterschicht" zu analysieren wie radikale Gegenentwürfe zur herrschenden Politik mit dem Sozialstaat zu denken. In dieser Hinsicht führt dieses Heft Diskussionen der beiden vorangegangenen Hefte der WIDERSPRÜCHE fort. Der Akzent verschiebt sich auf die Seite der Subjekte und dem "Nicht-Warenförmigen" (Heinz Steinert) ihrer Lebensweisen.

Unter gegebenen neoliberalen Verhältnissen Formen der Sozialen Arbeit einzuschmuggeln, die an Befreiungen orientiert sind, erfordert entschiedene Anstrengungen, Motive und Vorstellungen von einem "guten Leben" aus Formen des Wirtschaftens und des sozialen Austauschs derer herauszufinden, die als "Überflüssige", als "Ausgegrenzte", als "Marginalisierte" oder als "Unterschicht" etikettiert werden. Die notwendige Annäherung an die alltäglichen Anstrengungen und Kämpfe um Teilhabe der sozialen Akteure hält sich bei Intellektuellen nicht zuletzt deshalb in Grenzen, weil in den Gegenstrategien die Dialektik von Befreiungzu fehlen scheint. Gegen die vorschnelle Denkfaulheit, dass alles, was wir nicht sehen, den Anderen "fehlt", wenden sich die unter dem Schwerpunktthema versammelten Beiträge. Im Zentrum steht der Begriff der "moralischen Ökonomie" von Edward P. Thompson sowie die Anwendung und Aktualisierung seiner Perspektive, um Alltagspraktiken der Leute verstehbar zu machen.

Zu den Beiträgen im Einzelnen:

Um die Selbstverständlichkeit aufzubrechen, mit der die "Moral" des Marktes und die "Moral" der modernisierenden sozialen Steuerungs-Technologien im Bereich der Sozialen Arbeit hingenommen werden, erinnert Timm Kunstreich an die Marx'sche Kritik des Warentauschs und an den Inhalt dieser Moralen: Menschliche Arbeit und Kooperation auf das Tauschprinzip reduziert. Gegen den Moraldiskurs in der Sozialen Arbeit sowie gegen die vorherrschende Begriffsarmut für Formen der "impliziten Kritik" in Alltagspraxen skizziert Kunstreich Prinzipien der Sozialen Arbeit, die dialogisch agiert und ein "gemeinsames Drittes" von Professionellen und Adressaten verhandelt. Diese gegen die hegemonialen Moralen und Moralisierungen gerichteten Prinzipien und Praktiken nennt er "moralische Ökonomie" der sozialen Arbeit. Cornelia Frieß und Marcus Hußmann führen uns an den Begriff der "moralischen Ökonomie" und die Perspektive von Thompson auf die "plebeische Kultur" heran. Eine Kultur, die aus der Auseinandersetzung mit der verordneten frühkapitalistischen Lohnarbeit und der disziplinierten Lebensweise entstand, die traditionelle Erfahrungen eines "guten Leben" bewahrt und dennoch damit eine neue Lebensweise erzeugt hat. Am Beispiel der "Kinder- und Jugendhilfezentren" in Hamburg aktualisieren die Autorin und der Autor den Begriff der "moralischen Ökonomie" und konkretisieren die Möglichkeiten einer auf die Situationen und die (meist individualisierten) Nutzerinnen und Nutzer von sozialen Dienstleistungen eingehenden "generativen Methode" der Sozialen Arbeit. Hans Jürgen Benedict legt dar, dass es verkürzt wäre, Christentum nur als eine nützliche Institution der Moral von Äquivalententausch und sozial "gemilderter" kapitalistischer Warenökonomie zu sehen. Er erinnert an die christlichen Quellen und den "Charme" der nicht verpflichtenden Gabenökonomie sowie die ermunternden Erfahrungen mit dem Gabenaustausch gerade in den heutigen, spätkapitalistischen Verhältnissen. Die Kontinuität der Moralisierung von Bewältigungsstrategien armer Leute und ihrer Subkulturen bzw. Lebensweise ist das Thema von Helga Cremer-Schäfer. Wissenschaft spielt in den sozialen Klassifikationskämpfen mit, so die These, weil die Reflexion ihrer Individuum und Gesellschaft verbindenden Handlungsmodellen unterbleibt und kulturalistische bzw. ätiologische Erklärungsmuster für soziales Handeln reproduziert werden. Dagegen helfe, Moralen und Lebensweisen (wie die "moralische Ökonomie" der plebeischen Kultur) als ein widersprüchliches Ganzes zu verstehen. Die zugrundeliegende "Moral" wäre, unterschiedliche Interessen und normative Prinzipien auszubalancieren. Zum Schwerpunktthema passt schließlich der Rezensionsessay von Barbara Rose zu der Publikation von Klassikern der "Soziologie der Reziprozität" und des sozialen Austauschs. Mit der aktuellen Rezeption wird sichtbar, dass Normen des sozialen Austauschs keineswegs überhistorischer Natur sind, sondern Formen und Inhalte der Gegenseitigkeit stets umkämpft, festgelegt und von ungleichen sozialen Akteuren ausgehandelt werden.

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