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Heft 100: Was ist heute kritische Soziale Arbeit

2006 | Inhalt | Editorial

Titelseite Heft 100
  • Juni 2006
  • 224 Seiten
  • EUR 14,00 / SFr 19,80
  • ISBN 3-89370-420-5
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Zu diesem Heft

Im fünfundzwanzigsten Jahr der Widersprüche präsentiert die Redaktion das Heft Nummer 100, allemal ein Anlass, um die eigene Position zu überdenken und um unsere Leserinnen und Leser dabei einzubeziehen.

1981 erschien das Heft Nummer 1 der "Widersprüche - Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich" zum Thema: "Hilfe und Herrschaft" Aktueller politischer Anlass war der Gesundheitstag 1981 in Hamburg, auf dem die noch junge Selbsthilfebewegung eine zentrale Rolle spielte. Die versammelten Beiträge setzten sich kritisch mit den Ansprüchen der Selbsthilfe und ihrer Protagonisten auseinander (weniger Staat = mehr Autonomie), indem sie auf den Vergesellschaftungsprozess der drei Reproduktionsbereiche fokussierten, beispielhaft die in ihnen schlummernde Dialektik von Gebrauchswert und Herrschaftssicherung thematisierten und auf deren Veröffentlichung und Politisierung drangen.

Diese Position haben wir als "Verteidigen, Kritisieren, Überwinden zugleich" benannt und uns an ihr im Prozess der nunmehr 25-jährigen Redaktionsarbeit, in Reflexion der jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklung und anhand diverser Schwerpunktthemen abgearbeitet, auch wenn die ehemaligen SB-Arbeitsfelder des Gesundheits- und Bildungsbereiches irgendwann wegbrachen und "nur noch" TheoretikerInnen und PraktikerInnen aus dem Feld der Sozialen Arbeit in der Redaktion saßen.

Diesen redaktionellen Selbstverständigungsprozess bündelten wir in drei "Strängen". Im ersten Strang versuchten wir das aufzuzeigen, was zu verteidigen war - und ist: den erreichten Stand sozialpolitischer Absicherungen gegen die Risiken der Lohnarbeit bei Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter. Soziale Garantien gegen die Rutschbahn zum Beispiel vom Arbeitslosengeld über die Arbeitslosenhilfe zur Sozialhilfe forderten wir in Form von unterschiedlichen Sockelungen, die auf den bisherigen Sicherungssystemen aufbauen. Am intensivsten diskutierten wir über ein garantiertes Mindesteinkommen (Heft 15/1985: 91ff.), das wir nicht überschätzen wollten und von dem wir weder annahmen, dass damit aus dem kapitalistischen Staat ein guter "Vater" würde - Gefahr des Etatismus -, noch dass über das Finanzamt die Klassenfrage bewegt werden könne - Gefahr des Ökonomismus. Dass zwanzig Jahre später eine neoliberal gewendete SPD im Gleichklang mit CDU, FDP und Grünen eine Grundsicherung einführt, die nicht einmal mehr versucht, ihren Herrschaftscharakter zu verbergen, sondern ihn ganz offen - und mit Zustimmung wohl der Mehrheit der Bevölkerung - unter dem Titel von "Fördern und Fordern" ausgibt. Die Parole: "Keine Leistung ohne Gegenleistung - Rechtsansprüche muss man sich verdienen". Das ist genau das Gegenteil von dem, was wir damals forderten - und es heute noch tun: nämlich ein garantiertes Grundeinkommen ohne "Eintrittskarte" für jedes Gesellschaftsmitglied, d.h. ohne irgendwelche Bedingungen. Hätte uns damals jemand gesagt, dass vier Millionen "Bedarfsgemeinschaften" in die Zwangslage geraten würden, sich der demütigenden HartzVI-Prozedur zu unterziehen, den hätten wir für einen Geschichtenerzähler a la "1984" gehalten oder für einen Verschwörungstheoretiker.

Die intensive Beschäftigung mit den Fragen sozialer Garantien war eng an den zweiten und dritten Strang unseres Manifestes gebunden, der Produzenten- Sozialpolitik, mit der wir eine Alternative zur Hilfe-Herrschaft-Logik der hegemonialen Sozialpolitik setzen wollten, und der Forderung nach einer "selbstbestimmten Vergesellschaftung im Sozialstaat", die wir uns natürlich völlig anders gedacht hatten als die heute forcierte Privatisierung von Alters- und Gesundheitsversicherungen.

Noch vor der Ausdehnung Westdeutschlands bis an die Oder formulierte Niko Diemer (1989) eine grundlegende Selbstkritik unserer bis dahin ereichten Diskussion. So kritisierte er unter anderem die "Zähigkeit unseres institutionellen Blicks", "der den Subjekten Gutes tun will, präventiv und partizipatorisch, versteht sich" (1989: 13f). Und weiter: "... auch wir haben unsere Rechnung ohne das Geschlechterverhältnis gemacht, zu wenig über mögliche Ausgrenzungsfolgen und möglicherweise verfestigte Geschlechterarbeitsteilung nachgedacht, zu wenig die Frage nach der moralischen Ökonomie' der Subjekte aufgeworfen, nach den subjektiven Bedeutungen von gesichert sein', für sich selber sorgen' und in Arbeit sein'" (ebd.).

In der Folge ging es uns also um die Frage nach den Subjekten beziehungsweise Akteuren in den diversen Arenen der Sozialpolitik. Eine wichtige Anregung für diese Diskussion bekamen wir durch W. F. Haugs Artikel: Gramsci und die Politik des Kulturellen (1988). Haug geht dort der Frage nach, ob Gramscis Hegemonie-Konzept heute noch gültig sein kann. Der Hegemonie einer den "historischen Block" festigenden Kulturpolitik stellt er eine Politik des Kulturellen gegenüber, worunter er die subversive Kraft kultureller Alltagspraxen der Herrschaftsunterworfenen (also der Subalternen) versteht, neben den herrschenden und routinierten auch die eigensinnigen, oppositionellen Praxen zu traktieren beziehungsweise neu zu entwickeln. Diesem Ansatz folgend versuchten wir nun statt von Sozialpolitik unseren Ausgangspunkt in den vielfältigen sozialen Alltagspraxen der Subalternen zu nehmen - also von einer alternativen Sozialpolitik zu einer theoretischen Praxis zu gelangen, die wir in an Anlehnung an Haug als "Politik des Sozialen" auszubuchstabieren trachteten.

Die Positionen dazu fassten wir wiederum in einem Selbstverständigungspaper zusammen (1989). "Politik des Sozialen als Gestaltung der Lebensverhältnisse durch die Subjekte selbst" war und ist unser Ausgangspunkt in der Analyse gesellschaftlicher Relationen, deren Bezugspunkt nicht mehr Institution gewordene Hegemonien sind (wie z.B. der Nationalstaat), sondern empirisch vorfindbare Relationen individueller und kollektiver Subjekte (z.B transversale Sozialitäten; vgl.: Kunstreich 1999: 151ff.). Die Identifizierung derartiger Praxen und Relationen ist Gegenstand in jedem unserer Hefte, zuletzt in "Klassengesellschaft reloaded - zur Politik der neuen Unterschicht'" (Heft 98/ 2005) und "Politik des Sozialen - Verhandlungen über Lebensweisen. Moralische Ökonomien heute" (Heft 99/2006)..

"Politik des Sozialen als Gestaltung von Geschlechterverhältnissen" hat nicht nur die binären Logiken dieses Herrschaftsverhältnisses zum Gegenstand, sondern untersucht seine Verquickung mit den Themen Kultur und Klasse. In den vielfältigen Herausforderungen und Diskussionen zu diesem Themenkomplex stellt sich immer wieder in paradigmatischer Weise die grundlegende Frage nach den Subjekten, deren Differenz erst auf der Basis von Gleichheit zur individuell erlebbaren Freiheit wird. Auch diesen Aspekt versuchen wir jedem unserer Hefte zu thematisieren, aber auch in entsprechenden Schwerpunktsetzungen - zuletzt in "Genders neue Kleider? Dekonstruktivistischer Postfeminismus, Neoliberalismus und Macht" (Heft 95/2005) und: "Der oder die Sozialstaat? Doing Gender europäischer Wohlfahrtsregime" (Heft 84/2002).

"Politik des Sozialen als Gestaltung von Konflikten innerhalb und zwischen Klassen" thematisiert vor allem die Konsequenzen eines praktisch und ideologisch auf Globalisierung angelegten Neoliberalismus:

"Die Deregulierung arbeitspolitischer Strukturen führt durch Re-Privatisierung der Kosten und Risiken zu einer ökonomischen Effektivierung sozialer Dienstleistung durch deren Spezialisierung, Ambulantisierung, Familiarisierung sowie die Regulation und Bearbeitung der für die Flexibilität der nachfordistischen Akkumulationsweise funktional notwendigen Reservearmee und der dauerhaft aus dem Produktionsprozess Ausgegrenzten. Fazit: Es ist nicht mehr Ziel der Regulation, ein ganz bestimmtes Normalitätskonzept durchzusetzen, sondern der Sozialpolitik kommt die umfassendere Aufgabe der Regulation einer gespaltenen Gesellschaft zu" (Schaarschuch 1994: 78).

Welche Tendenzen unterstützt werden können, die zu Alternativen zur hilflosen Hinnahme dieser Regulation und deren scheinbar alternativlosen Duldung führen, haben wir immer wieder versucht herauszufinden, zu beschreiben und zumindest ansatzweise in Konzepte umzusetzen - mit der Hoffnung, dies möge Ferment in einer sich herausbildenden neuen sozialen Bewegung werden. Unser letzter Versuch in diese Richtung findet sich in Heft 97 (2005), in dem wir die "Umrisse einer sozialer Infrastruktur" als "Politik des Sozialen - Alternativen zur Sozialpolitik" vorstellen, in Zusammenarbeit mit "alten Verbündeten" aus der Zeit unseres Beginns wie Joachim Hirsch und Heinz Steinert.

Wenn wir nun aus Anlass des Heftes Nummer 100 uns und unseren Leserinnen und Lesern die Frage stellen: "Was ist heute kritische Soziale Arbeit?", dann sollte klar sein, dass diese Frage heute nicht mehr in gleicher Weise gestellt werden kann, wie wir sie noch in den achtziger Jahren formuliert haben. Dafür sollen im Folgenden vor allem vier Formen von Begründungen angegeben werden, die sich auf die veränderte Situation der Sozialen Arbeit im liberalisierten globalisierten Kapitalismus beziehen. Die Veränderungen sind einerseits in den ökonomischen, gesellschaftlichen und sozialpolitischen Rahmenbedingungen zu sehen, in die Soziale Arbeit eingebunden ist, ferner in den Strukturen von Aktivierung, in die sozialstaatliche Politik die Soziale Arbeit immer stärker einbezieht, dann die Ökonomisierungsprozesse innerhalb der Institutionen Sozialer Arbeit, die viele professionelle Standards und damit den Zugang zu und die Beziehungen zwischen Institutionen und Adressaten verändern - bis hin zu Konzepten der evidenzbasierten Sozialen Arbeit, welche die Subjektivität der Adressaten gar nicht mehr reflektieren - und zuletzt jene Tendenzen und Debatten innerhalb der Disziplin, die sich auf eine Annäherung an die Funktionalitätsansprüche des Wirtschaftssystems richten, und damit eine Suspendierung der disziplinären Differenz vor allem zwischen Sozialpädagogik und Pädagogik (Schule) in Kauf nehmen.

1. Für die Soziale Arbeit verändern sich nicht nur ihre bisherigen sozialpolitischen Rahmungen, sondern zugleich vollzieht sich gesamtgesellschaftliche ein Prozess der Entbettung (Giddens) von Strukturen und Sicherheiten - ökonomisch, politisch, und sozial -, begleitet von einer Entstaatlichung der Gesellschaft, die sich als Rücknahme sozialstaatlicher Risikoabsicherungen von Lohnarbeit und Lebenslauf, auswirkt und die Ressourcen der AdressatInnen (Strukturen, Sicherheiten, Infrastruktur), mit denen sie auf Krisen und in Belastungen reagieren können, schwächt.

Politik treibt diese Entwicklungen in Richtung neuer Grenzziehungen voran. Im bayerischen Kultusministerium wurde im Februar 2006 eine Regelung diskutiert, nach der störende Schüler ab dem 13. Lebensjahr endgültig ihr Recht auf Schulpflicht verwirken und der Schule verwiesen werden können. Viele weitere Beispiele ließen sich im Rahmen von Hartz IV finden; die gesellschaftliche Produktion von überflüssigen Menschen nennt Zygmunt Bauman diese neuen Formen von Exklusion.

Neu ist die veränderte Politik in Bezug auf die "Zone der Prekarität" (Castel). Für einen Teil wird durch Politiken der Aktivierung das Ziel der gesellschaftlichen Integration modifiziert zu einer (erzwungenen) Integration am Rande der Gesellschaft auf einem niedrigeren Niveau von Produktion (Zugang zum Arbeitsmarkt) und Reproduktion (Hartz IV), für den Teil der auch hier Herausfallenden wird Integration im herkömmlichen Sinne nicht mehr angestrebt.

2. Gesellschaftlich und sozialpolitisch treten Diskurse der geforderten Selbstverantwortung in den Vordergrund. Damit werden Modelle in der Sozialen Arbeit geschwächt, die bisher zum professionellen Selbstverständnis der Sozialen Arbeit gehörten, wie die Anerkennung einer "Autonomie der Lebenspraxis", das subjektiv-biografische Handeln als Ausgangspunkt für Soziale Arbeit und das Aushandeln als Prozess. Das ist deswegen in hohem Maße ambivalent, weil zugleich die ökonomischen, materiellen, politischen und sozialen Rahmenbedingungen für eine Autonomie der Lebenspraxis geschwächt werden durch Verarmung, durch Prozesse des Ausschlusses, durch Politiken der Lebensführung, durch den Rückbau des Sozialstaats.

Diese Gouvernementalität schafft einen veränderten Raum des Sozialen, weil nun die einzelnen sich selbst steuern (sollen), und dabei unter vielen Möglichkeiten auswählen können und müssen (dürfen), die ihnen vorgegeben werden. Auch Sozialarbeit betreibt dies teilweise mit, indem sie verstärkt Testverfahren und Diagnostiken zur Auffindung von Risikogruppen anwendet, z.B. im Bereich der frühen Kindheit - als Formen der Kontrolle von Kindern und Familien, wie sie etwa im 12. Jugendbericht angeführt werden. Tendenziell wird dadurch eine innergesellschaftliche Bewältigung von Reproduktionsproblemen aufgegeben. Dem entspricht der neue Kontroll- und Disziplinierungs gegenüber den Adressaten, wobei eine moralisierende Verantwortungszuschreibung die Klassenstruktur der Problemlagen unsichtbar machen will. Insgesamt können durch diese Entwicklung Gruppen oder auch bestimmte Milieus mehr oder weniger von den Lernprozessen in sozialen Klassen und anderen Schichten kulturell und milieumäßig abgekoppelt werden.

3. Die Ökonomisierung in den Institutionen der Sozialen Arbeit verschiebt die Grenzen von Hilfe, Härte und Kontrolle. Kostenrechnung, effizienz- und effektivitätskontrollierte Hilfen mit vorweg bestimmten Anspruchs- und Dauerregelungen zeigen eine Entwicklung zur Managerialisierung bzw. Technologisierung Sozialer Arbeit an, die nur noch Teile der Adressaten erreichen will, und den Rest vorab abgeschrieben hat. Evidenzbasierte Ansätze benötigen theoretische Begründungen nicht mehr wirklich und richten sich auch nicht mehr an ein Subjekt.

Gegenmodelle der genossenschaftlichen Selbstorganisation, der gegenseitigen Versorgung, stellen möglicherweise alternative Vergesellschaftungsformen dar, die wir aufgreifen müssen. Ökonomisierung verändert auch die Steuerungsformen von Sozialer Arbeit. Politik wendet sich zum Teil von infrastruktureller Steuerung ab, und zielt auf Kampagnen und Projekte mit kurzen Laufzeiten und hohem legitimatorischen Outcome.

Im Kontext des 12. Jugendberichtes werden Forderungen erhoben nach Diagnose - und Testverfahren zur Identifizierung von Risikogruppen (in Anlehnung an PISA z.B., um Schwächen von Jugendlichen beim Übergang in die Jugendberufshilfe zu erkennen). Hier geht es in der Tendenz um den beginnenden Aufstieg sozialpädagogischer Technologie, die die alte (kritische, reflexive) Sozialpädagogik verdrängt. Luhmanns Rede vom Technologiedefizit pädagogischer Aktivitäten wird damit zynisch konterkariert.

In diese Linie passt ein sich verstärkender performativer Trend der Thematisierung sozialer Probleme in der Weise, dass aufgrund medialer Dramatisierungen, die Politik und Öffentlichkeit aufgreifen, kurzlebige Programme installiert werden, deren Nachhaltigkeit nicht geklärt ist bzw. gar nicht interessiert. Die ideologische Funktion ist hier, dass die medialen Selbstthematisierungen der Gesellschaft das Klima der öffentlichen Debatte neoliberal verschieben in Richtung Härte und Kälte, wie die Diskussion um Werte-Erziehung oder Sozial-Fahnder deutlich machen.

4. Seit der Neuzeit versteht sich Pädagogik innerhalb des Spannungsverhältnis von Zwang und Selbstbestimmung, und nur die Bewegung der Reflexion darauf stellt die Bedingung der Möglichkeit dafür dar, dass Subjektivität als widerständige und Bildung als kritische aufgenommen und gestärkt werden kann.

Gegenwärtig wird das gesamte System der Betreuung, Erziehung und Bildung insofern Beschleunigungsprozessen unterworfen, als die Kinder bereits mit zwei Jahren in den Kindergarten gehen und schon dort mit Standards und Perspektiven im Hinblick auf Schule und den Arbeitsmarkt befasst werden sollen. Die Schulzeit bis zum Abitur wird bezüglich der "Gesamtlaufzeit" (in Schuljahren) zu Lasten der Freizeit am Nachmittag verkürzt (das fügt sich wiederum in die zunehmende Kontrolle und Institutionalisierung der Jugendphase ein). Das Studium wird ebenfalls entsprechend der Vorgaben von Bologna beschleunigt und auf unmittelbare Verwertbarkeit hin ausgerichtet, was vor allem den reflexiven (geisteswissenschaftlichen) Studiengängen an die Substanz geht.

Anscheinend setzt sich innerhalb der Sozialpädagogik die Auffassung durch, dass man sich dem Trend auf eine utilitaristisch-instrumentelle Ausrichtung des Aufwachsens nicht mehr entziehen könne. Paradigmatisch für diese Entwicklung kann der 12. Jugendbericht (2005) stehen, der die verschiedenen Aspekte von Sozialisation, Betreuung, Erziehung und Bildung im Lebenslauf als gleichrangig darstellt. Professionspolitisch zielt er offenbar auf eine Aufwertung der Sozialen Arbeit und Sozialpädagogik vor allem im Kontext der angedachten Ganztagsschule einerseits und der "Modernisierung" und Subsumtion der Kindertagesbetreuung unter einen auf schulisches Lernen verkürzten Bildungsbegriff andererseits. Diese Position wird durch einen theoretischen Argumentationsstrang abgesichert, der Betreuung, Erziehung und Bildung auf sozialisationstheoretisch nachvollziehbare Entwicklungsschritte hinsichtlich der Handlungsfähigkeit und Lebensbewältigung und auf überprüfbare Kompetenzen nivelliert. Lebensbewältigung zielt auf eine Alltagspraxis, in der das Individuum in krisenhaften Lebenslagen handlungsfähig bleibt, sie wird zu einer Notwendigkeit, um am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können. Bildung wird zur Sozialisation geschrumpft. Damit wird allerdings dann der kritische Bildungsbegriff aufgegeben: "Wo auch immer ausschließlich auf diese Welt hin gebildet wird, erhält die Bildung nicht nur den Charakter frühzeitiger sozialer Determination, sondern der Mensch wird über den Prozess seiner Anpassung intellektuell paralysiert" (Heydorn 1995: 136).

Entscheidend scheint uns hier, dass Soziale Arbeit - als Voraussetzung eines Bildungsgeschehens, welches Lern- und Kritikfähigkeit von Subjekten erst herstellt, Bildung ermöglicht, aber nicht unbedingt selber Bildung ist - in ihrer disziplinären Differenz zur allgemeinen Erziehungswissenschaft und Schulpädagogik verwischt wird..

Zu den Beiträgen im Einzelne.

Die folgenden Beiträge nähern sich aus unterschiedlichen Perspektiven und mit differenten Methoden der Frage nach dem Kern und Potenzial kritischer Sozialer Arbeit. Allen gemeinsam ist jedoch, dass sie fünf Kriterien benennen, quasi als Rahmung einer sich als kritisch bezeichnenden Sozialen Arbeit. Diese fünf gemeinsamen, wiederkehrenden Themen sind.

die Frage nach den endogenen Kritikpotenzialen sozialer Arbeit aufgrund des besonderen gesellschaftlichen Gegenstandes.

  • die Frage nach den Handlungspielräumen und Grenzen für eine Politik der Einmischung ins Handgemenge von Hilfe und Kontrolle.
  • die Frage nach dem Verhältnis zwischen Professionellen und Adressaten und den emanzipatorischen Hoffnungen eines gemeinsamen Projektes zwischen ihnen.
  • die Frage nach der Rolle des Staates und der Relevanz einer Garantie allgemeiner sozialer Rechte für die Sicherung der Lebenspraxis.
  • und schließlich die sozialwissenschaftliche und politische Reflexion der gesellschaftlichen Voraussetzungen von sozialer Arbeit.

Wenn also für alle versammelten Beiträge durch die Thematisierung dieser Fragestellungen bereits ein Zusammenhang hinsichtlich einer "Kritischen Sozialen Arbeit" gestiftet ist, so sollen sie doch in der Gliederung einer Zuordnung unterzogen werden. Wir orientieren uns dabei an den zu Beginn des Editorials genannten vier Veränderungen, die heute den Gegenstand der Sozialen Arbeit rahmen. Es sind dies.

Erstens die gesellschaftlich-ökonomischen und sozialpolitischen Rahmenbedingungen, zweitens die Veränderungen der Sozialen Arbeit durch den Einbezug in staatliche Aktivierungsstrategien, drittens die Veränderungen in Konzepten und Standards der Institutionen sozialer Arbeit durch die Ökonomisierung und viertens die Wandlungen in der theoretischen Selbstreflexion der Profession Sozialer Arbeit. Auch wenn dem Leser und der Leserin bzw. dem Autor und der Autorin die Zuordnung im Einzelfall willkürlich erscheinen mag und eine andere Strukturierung angezeigt erscheint, so hoffen wir dennoch, mit unserer Gliederung einen hilfreichen Beitrag zum neugierigen Lesen zu geben.

Den Einstieg zum ersten Themenkomplex erleichtert mit Rolf Schwendter ein Autor, der dem Projekt der Widersprüche von Anfang an ein solidarisch-kritischer Begleiter war. Sein Beitrag - will man ihn politisch verorten - ist die Antwort auf unsere Titel-Frage aus dem Kontext der AG SPAK (Arbeitsgemeinschaft Sozialpolitischer Arbeitskreise). Ausgehend von der Feststellung einer gesellschaftlichen Entwicklung in Richtung verstärkter Konkurrenzbeziehungen zwischen einzelnen Menschen und sozialen Gruppen mit deutlicher Gewinner- und Verliererproduktion erinnert er an zwei Diskussionsstränge der Widersprüche: der Forderung nach einer Grundsicherung für alle als Anwort auf soziale Verelendung und der Forderung einer Produzierendensozialpolitik. Erstere diskutiert er neu vor dem Hintergrund zunehmender materieller Verarmung und der modernen Wohltätigkeit als Antwort darauf. Letztere betrachtet er vor dem Hintergrund der Erfahrungen einer Vielzahl selbstorganisierter Projekte und alternativer Einrichtungen. In beiden Diskussionssträngen ist die Frage nach der Rolle des Staates und die nach dem prekären Verhältnis von kritisch Sozialarbeitenden und ihrer Klientel enthalten.

Erdmann Prömmel reflektiert den Wandel der gesellschaftlichen und sozialpolitischen Rahmenbedingungen aus der Sicht eines theoretisierenden Praktikers, der im Bereich der Drogenhilfe arbeitet. Für ihn ist es ein unverzichtbarer Bestandteil kritischer Sozialarbeit, mit dem Wissen um den der Profession immanenten Widerspruch von Hilfe und Herrschaft zu arbeiten. Die Bestimmung der Spielräume für eine kritische Sozialarbeit entwickelt er am Beispiel der Drogenhilfe in Deutschland: Kritik am Konzept der Zerstörung sogenannter Sucht- und Fixerpersönlichkeiten, Akzeptanzkonzepte, Effizienz- und Kundenorientierung, Ausstiegsorientierung und Steuerung über deren Outcome. In jeder dieser Phasen hat kritische Soziale Arbeit andere Aufgaben. Unter konservativer oder neoliberaler Hegemonie sieht er sie darin, "nicht einfach so mitzumachen".

Dieses Anliegen teilen auch die Thesen von Kurt Bader, der nach der Aufzählung von ihn bedrückenden und bewegenden Realitäten zusammenfasst, dass Soziale Arbeit in wachsendem Maß disziplinierende und kontrollierende Aufgaben übernimmt. Mit einiger Wut als emotionalem Ausdruck einer gesellschaftlichen Position, die Reflexion ermöglicht, plädiert er für die Entwicklung einer Ethik Sozialer Arbeit "unter der Überschrift, das Menschliche in sich und den Anderen wieder zu entdecken". Zu dieser Ethik gehört ein Katalog von Haltungen, die kritische Professionelle ablegen sollten.

Sabine Stövesand erläutert ihren Begriff kritischer Sozialer Arbeit am Beispiel der Gemeinwesenarbeit. Sie geht davon aus, dass "kritisch" und politisch "links" heute nicht in jedem Falle kongruent sind. Kritisch gedachte Begriffe wie Eigentätigkeit und Aktivierung sind heute "Staatsdoktrin". Emanzipatorische Kritik erweist sich für sie dann, wenn nach den Charakteristika der Herrschaftsverhältnisse gefragt wird, welche Soziale Arbeit und ihre Gegenstände hervorbringen. Von diesen Charakteristika greift sie zwei heraus: die Individualisierung der Zuständigkeit für gesellschaftlich verursachte Probleme und die strukturelle Geschlechterhierarchie, wie sie sich u.a. in Gewalt gegen Frauen in Partnerschaften zeigt. Anhand dieser Herrschaftsverhältnisse - andere würden sagen: "Probleme" - zeigt sie ihr Verständnis einer kritischen Gemeinwesenarbeit auf und formuliert drei Merksätze für eine solche, die sich auf den Begriff des Gemeinwesens, auf die Gewalt im Geschlechterverhältnis und auf das Verhältnis staatlicher und privater Ressourcen beziehen.

Das Verhältnis der Abhängigkeit von staatlichen Mitteln für die Durchführung kritischer Sozialer Arbeit spielt auch im Text von Stefan Schnegg eine wichtige Rolle. Er stellt die Praxis des Vereins DOWAS in Innsbruck vor, der im Feld der Existenzsicherung durch Wohnung und Arbeit und der Flüchtlingspolitik tätig ist. Was ist kritisch-intervenierende Soziale Arbeit in diesem Rahmen, wenn Sozialhilfepolitik in repressiver Weise Arbeits-, Familien- und Inländerorientierung stärkt und Flüchtlinge nicht wohnen dürfen, sondern allenfalls untergebracht werden? Schon das schlichte Festhalten an der Kritik der politisch hergestellten Zustände im öffentlichen Diskurs verdient dieses Attribut, auch wenn mit dem Entzug der öffentlichen Mittel für diese Arbeit gedroht wird.

Die Einstimmung ins zweite Kapitel der Veränderungen, nämlich die Indienstnahme Sozialer Arbeit zum Zweck der eigenverantwortlichen Selbststeuerung, bildet das Gespräch, das Eberhard Bolay und Maria Bitzan mit Hans Thiersch führen. Die Zuordnung zu diesem Kapitel ist gleichsam der Hinweis darauf, dass Thierschs Suche nach einer konkreten Utopie eines besseren Lebens im Alltag ja auf eine Möglichkeitsdimension hinweist, die in Aktivierungskonzepten allenfalls rhetorisch vorhanden ist. Im Gespräch formuliert Thiersch sein Verständnis kritischer Sozialer Arbeit: Die Herstellung eines aushaltbaren Lebens im Horizont von Gerechtigkeit, Solidarität und Autonomie. Die damit verbundenen Fragen der politischen Einmischung unter neoliberaler Hegemonie, des Sozialstaatsverständnisses und der Rolle aufklärerischer Vernunft sind weitere Gegenstände des Gesprächs über die Aufgaben Sozialer Arbeit, "Im Gegebenen das Mögliche (zu) suchen".

Einer solchen Aufgabenbestimmung kann auch der Beitrag von Anne Ames und Frank Jäger von der BAG der Erwerbslosen- und Sozialhilfeinitiativen zugerechnet werden. Die Arbeit dieser Organisationen ist im wesentlich dadurch gekennzeichnet, dass sie in einer Mischung von Informationspolitik, sozialrechtlicher Unterstützung und politischer Mobilisierung Situationen wie Armut und Erwerbslosigkeit wieder der Bearbeitung als gesellschaftliche Probleme durch die Menschen zugänglich machen will. Die Autoren zeigen am Beispiel vom Hartz IV, wie sozialpädagogische Begriffe und Konzepte des Fallmanagements oder der Hilfeplanung im Rahmen dieser Gesetze in Instrumente einer Integration in Arbeit um jeden Preis verwandelt werden. Sie machen deutlich, wie dabei der Begriff sozialer Integration auf "Arbeit" reduziert wird. Kritische Soziale Arbeit dagegen verabschiedet sich bei ihnen und in ihrer vorgestellten Praxis von der bloßen Stellvertretung zur eigenen Interessenvertretung Erwerbsloser und Armer.

Elvira Berndt stellt in ihrem Beitrag über Streetwork mit jungen Menschen in Berlin dar, welchen gesellschaftlichen und politischen Anforderungen Jugendsozialarbeit ausgesetzt wird, soll sie z.B. auf problematisch definierte Erscheinungen im öffentlichen Raum wie Gang-Bildung reagieren und dabei eigene fachlich und politisch begründete Ansprüche nicht aufgeben. Eine kritische Soziale Arbeit wird hier als Gratwanderung beschrieben, deren Aufrichtigkeit durch die respektbasierte gemeinsame Entwicklung von Handlungsalternativen jenseits falscher Predigten und schlichter Anpassung an fragwürdige Normalitäten besteht.

Mark Schrödter stellt in seinem Text die Frage, wie kritische Soziale Arbeit auf Basis der Annahme, dass die lebenspraktische Autonomie der NutzerInnen sozialer Arbeit eingeschränkt ist, denn ohne Bevormundung möglich ist. Er stellt die für ihn möglichen zwei Varianten dar. Einmal Soziale Arbeit als theoretische Kritik, die Konzepte prüft, mit denen Klienten ihre Probleme lösen. Zum anderen Soziale Arbeit als praktische Kritik, die gemeinsam mit den NutzerInnen eine Praxis schafft, die das Gegebene in Frage zu stellen vermag.

Eine weitergehende Frage wird von Catrin Heite und Tino Plümecke aufgeworfen, nämlich die, wie nach der postmodernen und poststrukturalistischen Kritik an Gesellschaft und Subjekt Kritik überhaupt noch gedacht werden kann. Im Rahmen ihrer Beantwortung reflektieren sie verschiedene Begriffe von Kritik. Dabei geht es immer um die Spielräume sich kritisch verstehender Akteure in Feldern mit vorgegebenen Regeln und die Frage, wie ein Einzelner seine Freiräume erweitern kann, ohne das Regierungsverhältnis des ganzen Feldes zu stützen.

Das dritte Kapitel des Jubiläumsheftes - Ökonomisierung der Institutionen, Standards und Konzepte - wird eingeführt mit dem Gespräch zwischen Fabian Kessl, Holger Ziegler und Hans-Uwe Otto. Der betont im Gespräch, dass sich eine kritische Soziale Arbeit nicht (mehr) als Avantgardekonzept verstehen könne. Vielmehr sei sie als Teil Sozialer Arbeit insgesamt zu betrachten. Entscheidend erscheint ihm dabei eine ausgewiesene analytische und empirische Fundierung derselben, um auf dieser Basis das Professionalisierungsprojekt Sozialer Arbeit weiter voran zu treiben. Nur so könne dem "Auftrag", dem sich eine kritische Soziale Arbeit verpflichtet sehen müsse, entsprochen werden: "Soziale Arbeit muss politisch werden".

Ute Straub charakterisiert vor dem Hintergrund des Neoliberalismus und New Deals von New Labour in Großbritannien "Anti-Oppressive Social Work" (AOSW) als kritische Soziale Arbeit. Kennzeichen dieser Tradition ist die Position der politischen Einmischung in als Privatprobleme verklärte gesellschaftliche Angelegenheiten. Vor jeder Einmischung steht jedoch die Analyse der Ursachen von Unterdrückung und Dominanz sowie die Analyse der Beziehung zwischen Sozialarbeiter und Klient. AOSW ist in Ausbildungsinstitutionen präsent und strebt in Kooperation mit sozialen Bewegungen z.B. den Aufbau alternativer sozialer Dienste an. Ute Straub sieht sich in AOSW erinnert an Konzepte Kritischer Sozialarbeit in den 70er Jahren in Deutschland.

Ulrike Urban und Peter Schruth stellen den Berliner Rechtshilfefond Jugendhilfe e.V. als Praxis kritischer Sozialer Arbeit vor. Dieser Ansatz könnte schon als Beispiel eines alternativen sozialen Dienstes im Sinne von AOSW interpretiert werden, ist er doch eine explizite Reaktion auf die (Bewilligungs-)Praxis der offiziellen Institutionen (Jugendämter), und gibt er doch den Nutzerinnen fachliche und finanzielle Unterstützung bei der Rechtsdurchsetzung. Nur wird der "Dienst" nicht staatlich finanziert, sondern geschieht ehrenamtlich.

Das vierte Kapitel - die Selbstreflexion der Profession, die ja in allen anderen Beiträgen implizit oder explizit auch verhandelt wird - hat seine Ouvertüre in dem Gespräch zwischen Manfred Kappeler und C.W. Müller. Gesprächsgegenstand ist David Gils Buch "Gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung - Strategien für Sozialarbeiter". Kappeler und Müller suchen nach den Unterschieden zwischen kritischer Sozialer Arbeit und "radical social work". Stärker als in allen anderen Beiträgen geht es in diesem um das Verhältnis zwischen beruflicher Praxis, politischer Praxis und den Risiken einer kritischen Praxis für die Lebensplanung und die individuelle Reproduktion. Die Frage, in welcher Weise sich kritische Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen kollektive Netzwerke zur Reflexion und Absicherung organisieren können, wird ebenso aufgeworfen wie die Frage nach dem Bedingungsverhältnis von sozialen Bewegungen und kritischer Sozialer Arbeit sowie nach der Reichweite von Gils Bedürfnistheorie. Aus Sicht der Gesprächspartner, die beide lange Jahre in der Ausbildung von SozialarbeiterInnen tätig waren, müssen Fragen nach einer möglichen kritischen Praxis auch in der Gestaltung von Ausbildung und Studium auffindbar und beantwortbar sein.

Martin Dörrlamm geht in seinem Beitrag der Bedeutung von Nähe und Distanz in der Beziehung zwischen Professionelle und Adressaten Sozialer Arbeit nach. Das "Machbare" einer kritischen Sozialen Arbeit kann in seinen Augen nicht die Anpassung der Klienten an Strukturen sein, aus denen sie ausgeschlossen wurden. Auch wenn eine sich kritisch verstehende Praxis mit dem Ziel der Erweiterung von individuellen Handlungsspielräumen Unterordnungsverhältnissen unter herrschende Normalität nicht entgehen kann, so sieht Dörrlamm das Zustandekommen eines gemeinsamen emanzipatorischen Projektes im Verhältnis von Sozialarbeiter und Klient als möglich an. Professionelle Nähe statt professionelle Distanz betont in diesem Sinne die Bedeutung der Beziehung zwischen Sozialarbeiter und Klient.

Die Suche nach einem gemeinsamen Dritten in einer als Erziehung verstandenen Sozialen Arbeit betrachtet auch Eberhard Mannschatz in seinem Text. Er fragt nach den kritischen Potenzen in einer professionellen Praxis, die soziale Probleme im Alltag in ihrer gesellschaftlichen Verursachung bearbeitet. Die kritischen Potenzen findet Mannschatz in der sachlichen Ebene von Aufgabenfindung und Aufgabenlösung. Das methodische Konzept der Aufgabenbewältigung soll individuelle soziale Handlungskompetenz genauso fördern wie Orientierungsfähigkeit und Lebenstüchtigkeit gegenüber Gesellschaft und Politik.

Die Reflexion gesellschaftlicher Bedingungen als Erzeugungszusammenhang von Problemen und Begrenzungszusamenhang für die Möglichkeiten Sozialer Arbeit ist für Albert Scherr wesentlich für einen Begriff kritischer Sozialer Arbeit. In seinem Beitrag erinnert er an die Traditionsbestände kritischer Sozialer Arbeit in der Bandbreite zwischen normativ begründeter Kritik und macht- und herrschaftskritisch ausgerichteter Kritik. Im Anschluss an systemtheoretischer und an Foucault orientierter Kritik an objektiven Wahrheitsvorstellungen muss sich eine heute als kritisch begreifende Soziale Arbeit mit der Frage konfrontieren, inwieweit sie an einem Wissen teil hat, das Machtwirkungen annimmt und Zwangsverfahren legitimiert.

Zu diesem Diskussionsstrang gehört auch der Beitrag von Stephen Webb. Er diskutiert das Spannungs- bzw. Widerspruchsverhältnis zwischen eher neo-marxistischen und solchen Ansätzen die sich an den Arbeiten von Foucault orientieren. Eine Konsequenz, die er aus der teilweisen Unvereinbarkeit dieser Ansätze zieht, besteht darin, eine alternative Verortung einer (post-)kritischen Sozialen Arbeit vorzuschlagen, die sich nicht nur auf Versatzstücke der post-strukturalistischen Deutungsangebote einlässt, sondern diese in einer konsequenteren Weise ernst nimmt und sich damit - so die These von Webb - angemessener zu den politischen Herausforderungen fortgeschrittener liberaler Gesellschaften zu positionieren in der Lage ist, als dies ein Festhalten an den Grundfesten der traditionellen' kritischen Sozialen Arbeit erlaubt.

Für Susanne Maurer ist das Projekt einer kritischen Sozialen Arbeit verbunden mit Denkbewegungen und sozialen Bewegungen. Die Frage, was Kritische Soziale Arbeit ist und was nicht, beantwortet sie vor dem Hintergrund der Neuen Linken und der Neuen Frauenbewegung. Dazu reflektiert sie die Thematisierung der Kategorie Geschlecht als Konfliktfeld in einer von der Neuen Frauenbewegung inspirierten Sozialen Arbeit. Geschlecht ist als politische Kategorie zu verstehen, die sowohl die Dimension von gesellschaftlichen Zuschreibungsprozessen und Identitätsbildung beinhaltet wie auch die Dimension von alltäglicher Handlungspraxis. Kritik benötigt für Susanne Maurer ein Gedächtnis der Kämpfe und Problematisierungen und müsste auch Praxen der Kritik zur Wahrnehmung zulassen, die nicht unbedingt in herkömmlichen Konzepten von Opposition aufgehen.

Ueli Maeder schlägt ein Verständnis Sozialer Arbeit als Menschenrechtsprofession vor, die aus sich heraus, aus ihrem Gegenstand zum kritischen Widerspruch drängt. Für eine reflektierte Arbeitsweise betont er das Festhalten an sozialwissenschaftlichen Grundlagen, um der Sartre'schen Frage nachgehen zu können, was denn der Mensch aus dem macht, was die Verhältnisse aus ihm gemacht haben. Diese Sichtweise auf gesellschaftliche Verhältnisse von Menschen und auf gesellschaftliche (Interessens-)Gegensätze ist vor allem heute erforderlich, wenn sich in vielen Feldern Sozialer Arbeit der Fokus von der gesellschaftlichen zur individuellem Dynamik verschiebt.

Um Dynamik geht es auch in der von einigen Mitgliedern der Redaktion verfassten Ausleitung des Jubiläumsbandes. Hier wird ein vielschichtiges Arbeitsprogramm vorgestellt und erörtert, zu dessen Diskussion alle Leserinnen und Leser dieser Zeitschrift herzlich eingeladen sind.

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