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Heft 106: Wer nicht hören will, muss fühlen? - Zwang in öffentlicher Erziehung

2007 | Inhalt | Editorial | Abstracts

Titelseite Heft 106
  • Dezember 2007
  • 120 Seiten
  • EUR 14,00 / SFr 19,80
  • ISBN 3-89370-438-5
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Zu diesem Heft

"Zwang stellt eine sozialpädagogische Option dar. [...]. Zwang und Kinderrechte müssen kein Widerspruch sein [...]." Diese Sätze aus einem Vortrag, den Mathias Schwabe im März 2007 in Hamburg gehalten hat und die sich um seine Thesen bereits vor Ort entspinnende, kontroverse Diskussion waren Anlass für dieses Heft - nicht zuletzt angeregt von Mathias Schwabe selbst, der dankenswerterweise (die) Widersprüche nicht scheut.

Timm Kunstreich hat diese Diskussion für die Redaktion begonnen, indem er seine Position zu obiger These in Form eines Exposés zum Thema Zwang in öffentlicher Erziehung als Einladung zur Auseinandersetzung an verschiedene KollegInnen versandt hat. Dieses Exposé sowie die Antwort von Burkhard Müller - in Form eines Briefes - bilden den Auftakt dieses Heftes und skizzieren gleichsam die Positionen, Widersprüche und Diskussionen. Daher erklärt sich auch dieser für ein Editorial eher ungewöhnliche Auftakt: Die Beiträge von Kunstreich und Müller ersetzen die Hinführung an das Thema so prägnant, dass uns eine Vorab-Wiederholung in anderen Worten schlicht überflüssig erscheint. Stattdessen wird zunächst noch einmal der weitere Kontext der Debatte umrissen - das Verhältnis von Macht, Gewalt, Zwang und Strafe in der Sozialen Arbeit vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und sozialpolitischen Entwicklungen.

Mit Bezug auf den Umbau des Wohlfahrtsstaates zum aktivierenden Sozialstaat bzw. Sicherheitsstaat wird schon seit geraumer Zeit diskutiert, dass die wohlfahrtstaatlich integrierende Kontrolle zugunsten des sozialen Ausschlusses, der Sanktionierung und Kriminalisierung der 'Anderen', d.h. der Fremden, der Arbeitslosen und anderer Randgruppen zurückgefahren werde. Cremer-Schäfer und Steinert stellten 1998 in diesem Zusammenhang die These auf, dass sich die Position "Kriminalpolitik statt Sozialpolitik" (ebd.: 75) längst durchgesetzt habe, und Frank Bettinger (2002) spricht davon, dass auch Schule, Jugendarbeit und -hilfe sich zunehmend am Sicherheitsdiskurs ausrichten und eine verstärkt ordnungspolitische Funktion wahrnehmen. Das Leitziel des aktivierenden Sozialstaates - die Stärkung und Aktivierung der individuellen Eigenverantwortung der Bürger bzw. der Zivilgesellschaft - wird mit der Bindung von Hilfe an Wohlverhalten verknüpft und beinhaltet verstärkt Zwangs- und Kontrollmaßnahmen.

Paradebeispiel sind die zu Beginn dieses Jahres weiter verschärften Regularien des SGB II, die drastische Sanktionen bei Fehlverhalten bzw. Verstößen beinhalten (vgl. allg. Schumak 2004). Das Thema 'Innere Sicherheit' tritt auch in der Sozialen Arbeit immer stärker in den Vordergrund und inzwischen wird (auch) in der Bundesrepublik von einer Kultur der Punitivität bzw. einer neuen "Straflust" (Hassemer 2001) gesprochen, die einen Paradigmenwechsel von sozialer Integration zu sozialem Ausschluss in Kriminal- und Sozialpolitik markiere1.

Mit Blick auf die Jugendhilfe ist damit eine spürbare Renaissance des Zwangs auf der Ebene der Konzepte und Maßnahmen verbunden - die geschlossene Unterbringung in der Jugendhilfe ist nicht nur in Hamburg wieder im Aufwind; Glenn-Mills artige Trainingscamps, Time-Out Räume u.v.m. zeigen, dass die u.a. von Jens Weidner (1997) geforderte zeitgemäße und realistische Alternative zur unprofessionellen, "freundlichen Weichspülerbehandlung, die die kritischen Tat- und Opferfragen ausklammert" (ebd: 18) im Trend liegt: "Die deutsche Jugendhilfe, die vor 30 Jahren entwickelt worden ist, war für die damalige Zeit supergut. Aber Kuschelpädagogik, das klappt nicht mehr", so bspw. Lothar Kannenberg, Erfinder und Leiter des gleichnamigen Trainingscamps, der für seine Engagement mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt wurde (vgl. Süddeutsche Zeitung 03.04.2007).

Nun sind weder die mediale und politische Thematisierung der Jugend als gefährliche Gruppe, der mit Grenzziehung, Zwang und Ausschluss begegnet werden muss, noch die darauf folgenden immer wieder kehrenden politisch-medialen Forderungen nach entsprechenden Maßnahmen besonders neu (vgl. Stehr 2002; Heinz 2003: 7). Neu - und darum geht es u.a. in diesem Heft - ist zum einen die kritisch-verhaltene bis offene Zustimmung von Seiten der Jugendpolitik, Jugendarbeit und von Experten, wie sie sich etwa in der 14. Shell Jugendstudie (2002) wiederfindet, die eine bestimmte Gruppe Jugendlicher ausmacht, bei der es "zuallererst um eine strenge Setzung von Grenzen [gehen muss], weil diese (auch besonders gewalterfahrene) Gruppe keine andere Sprache versteht oder verstehen will" (ebd.: 21). Auch eine kritische Stellungnahme des Bundesverbands privater Träger der freien Kinder-, Jugend- und Sozialhilfe e.V. gegen geschlossene Unterbringung und den 'Strafersatzcharakter' von Jugendhilfemaßnahmen konstatiert, dass die "Zeiten träumerischer, völlig zwangfreier und einer nur auf Selbstbestimmung setzenden Pädagogik […] lange in Mode" waren, nun aber vorbei sind: "Praktiker in der Jugendhilfe benötigen die Sicherheit und Souveränität, dass sie das Recht und die Pflicht haben, deutlich und energisch bei Normverstößen von Kindern und Jugendlichen zu reagieren und zu intervenieren".2 C.W. Müller (2004) bringt es auf den Punkt: "Waren viele Pädagogen und Jugendpolitiker früher einmal davon ausgegangen, dass die Jugendphase der passagere und lustvolle Durchgang zu neuen Ufern wäre, so sieht es jetzt aus, als wollten wir Jugend als eine Krankheit betrachten und befürchten, die es zu therapieren gilt" (ebd.: 65). Und, so könnte man ergänzen, bei dieser 'Therapie' stellt sich die Frage nach den legitimen Mitteln erneut.

Diese Entwicklungen in Richtung mehr Kontrolle, Ausschluss und Zwang sind Ausdruck der Rationalitäten des aktivierenden Sozialstaats und seiner Formel 'Fördern und Fordern', die die traditionelle Redewendung 'Hilfe zur Selbsthilfe' ablöst bzw. in eine ganz bestimmte Richtung konkretisiert. Anders ausgedrückt lassen sich Zwang und Disziplin als Kehrseite der gleichzeitigen Betonung von Freiheit und Sicherheit sowie der Anforderung an die selbstverantwortlichen Gestaltung des eigenen Lebens lesen, die zur Disziplinierung und Ausschließung für diejenigen führt, die sich nicht gemäß diesen Anforderungen erziehen lassen (können).

Eine Grundfigur des aktivierenden Sozialstaats oder Workfare-Staats ist das Regieren durch Freiheit (vgl. bspw. Rose 2000). Dieses beinhaltet mit Blick auf die Gesamtgesellschaft einen neuen Rechte- und Pflichtenkatalog und das Bild des 'selbstverantwortlichen Kunden', der sein Leben möglichst rational, autonom und selbstverantwortlich regelt und individuell für seine Zukunft und Sicherheit selbst sorgt: besser selbst sorgen soll - ausgerichtet "an betriebswirtschaftlichen Effizienzkriterien und unternehmerischen Kalkülen" (Lemke et al.: 30). Für die AdressatInnen der öffentlichen Erziehung (und der Sozialen Arbeit i.A.) bedeutet dieses Steuerungs- bzw. Selbstführungsmodell, dass ihnen mittels Vereinbarungen bestimmte Verpflichtungen, z.B. auch eine 'persönliche Wachstumsverpflichtung', auferlegt werden. Entgegen der Selbstbeschreibungen seiner Apologeten produziert dieses Regieren über Freiheit jedoch einen "Schub an Bürokratisierung, Normierung und Standardisierung" (Stehr 2007: 35). Deren Einhaltung und Erreichung wird den Subjekten als eigenverantwortlichen Individuen aufgebürdet. Gleichzeitig produzieren diese Anforderungen neue Formen von Ausschluss und Marginalisierung: Die neuen Eingegliederten sind die Unternehmer ihrer selbst, die sich als aktive Bürger ihrer Selbstverantwortung stellen (können) und sich innerhalb der vorgegebenen Grenzen und Begriffe bewegen, die mittlerweile den gesamten Alltag bestimmen. Die neuen Ausgegrenzten sind diejenigen, denen die Zugehörigkeit zu den anerkannten Gemeinschaften abgesprochen wird, da sie entweder nicht willens oder nicht in der Lage sind, den neuen moralischen Anforderungen an Autonomie und Selbstverantwortung gerecht zu werden - die 'nicht Integrierbaren', oder diejenigen, die aufgrund gegensätzlicher Lebensstile, Moral- und Ordnungsvorstellungen als Gefahr wahrgenommen werden (vgl. Rose 2000: insbes. 94ff). Auch für die Letztgenannten wird Soziale Arbeit und öffentliche Erziehung zuständig.

Bei den primär ausschließenden Maßnahmen wie der geschlossenen Unterbringung liegt dieser Zusammenhang auf der Hand. Doch auch die zunehmende Bedeutung von Zwang und Disziplinierung in der 'integrationsorientierten öffentlichen Erziehung' lässt sich unter dieser Perspektive beleuchten: So verdeutlicht das Leitmotiv des 'Forderns und Förderns' nicht nur eine individualisierte Zurechnung der Verantwortung für Verhaltensänderungen an die Adressaten. Die Gewichtsverlagerung von 'passivierenden', monetären Transferleistungen zu personenbezogenen 'aktivierenden' Dienstleistungen beinhaltet auch, dass "zunehmend 'pädagogische Interventionen' an die Stelle ökonomisch-distributiver und (sozial-)rechtlicher treten und 'distanziertere Formen der Regulierung von Armut mittels bürokratischer Mittel ersetzt werden durch aggressives, zupackendes, paternalistisches Mikromanagement'" (Lutz/Ziegler 2005: 128).

Dahinter steht auch eine neue Konstruktion der KlientInnen bzw. AdressatInnen sowie der Strategien, wie Abweichung korrigiert werden soll: Diese stellen nicht mehr die soziale Einbindung oder die Integrationspotenziale der Lebensführung in den Vordergrund, sondern das unmittelbare Fehlverhalten und dessen Vermeidung. Kurz: die wohlfahrtsstaatlich inspirierte 'normierende Normalisierung' 'andersartiger' Akteure wird abgelöst durch Behandlungs- und Trainingsprogramme, die auf Verhaltenskontrolle zielen (vgl. ebd.). Die damit verbundene 'Philosophie des Trainings'3 - die sich deutlich in den erwähnten explizit auf kriminelle Jugendliche fokussierten stationären Einrichtungen sogar im Namen ("Trainingscamp Lothar Kannenberg") widerspiegelt - beinhaltet naturgemäß Druck und klare Regeln, die an die Strukturen der Heimerziehung der 1050er und 1960er (vgl. bspw. Freigang/Wolf 2001) erinnern und in denen auch das Fordern, also Anreize und Sanktionen ein zentrales pädagogisches Mittel darstellen.

Der bis hierher skizzierte breitere Kontext des Zwangs in öffentlicher Erziehung fokussiert natürlich auf der einen Seite Extreme, also Einrichtungen, die gewissermaßen idealtypisch für die dargebotene soziologisch inspirierte Analyse stehen. Auf der anderen Seite ist deutlich zu erkennen, dass sich die hier grob umrissenen Veränderungen bezüglich Klientenbild, Maßnahmen und Rechtfertigungen zunehmend in der (Professions-)Kultur verankern und - selbstverständlich reflektiert und kritisch gewendet - auch in der progressiveren Fachwelt ankommen. So zeigt bspw. eine Studie aus dem Jahr 2003, dass sich eine Mehrheit der in der Sozialen Arbeit Beschäftigten unter anderem darüber beklagt, über zu wenig Mittel zu verfügen, um Druck auf ihre Adressaten ausüben und unwillige Adressaten bestrafen zu können (vgl. Wohlfahrt 2004). Auch der - mit Sicherheit weder besonders konservative noch für Scharfmacherei anfällige - 11. Jugendbericht erinnert daran, "dass Delinquenz von Kindern und Jugendlichen pädagogische Antworten provoziert, die eher etwas mit Erziehung, sozialer Kontrolle, Intervention bzw. Eingriff, Grenzsetzung und Normverdeutlichung zu tun haben" (11. Kinder- und Jugendbericht 2002: 239).

Zu den Beiträgen im Einzelnen

Timm Kunstreich ordnet die Position von Mathias Schwabe den letztgenannten "fortschrittlichen Protagonisten der Heimerziehung" zu, die dazu übergegangen sind, Zwang auch positiv zu konnotieren. In einem kurzen Expose expliziert Kunstreich seine Ablehnung und seine Kritik gegenüber dieser Tendenz, gleichzeitig lädt er offen dazu ein, das Thema möglichst eng an konkreten Phänomenen des Zwangs und deren Analysen zu diskutieren. Seine Aufforderung zum Widerspruch nimmt Burkhard Müller dankend an und skizziert in einem offenen Brief seine (Gegen-)Position: angesichts des heuchlerischen Umgangs der Jugendhilfe mit ihrer staatlichen Sanktionsmacht unterstützt er die Forderung von Schwabe, die Schönrednerei bei Seite zu lassen und reflexiv über Formen, Bedingungen und Grenzen von Zwangselementen in der Heimerziehung sowie deren Folgen und Alternativen zu diskutieren. Im Kern wendet sich Müller jedoch gegen jegliche Grundsätzlichkeit in dieser Diskussion - in personae also sowohl gegen Kunstreich als auch gegen Schwabe - und eröffnet damit argumentativ die vertiefende Debatte in den Folgebeiträgen.

Zunächst stellt Mathias Schwabe seine Position zu "Zwang in der Erziehung und in den Hilfen zur Erziehung" dar. Ihn interessieren reale Erziehungsprozesse mit all ihren "Licht- und Schattenverhältnissen". In der Buntheit und Vielfalt dieser Erziehungsrealitäten gäbe es keine Gewissheiten mehr und schon gar keine normative Eindeutigkeit. Vielmehr gehe es um die Suche nach Settings, von denen man erst im Nachhinein weiß, ob sie hilfreich waren: "Diese erlebnis-gestützten Überschneidungen interessieren mich mehr als die vermeintlich klaren, theoretischen Distinktionslinien von progressiver und repressiver Erziehung" (siehe Schwabe in diesem Heft). An den folgenden Beispielen macht Mathias Schwabe deutlich, wie "bisher getrennt und antagonistisch Gedachtes - Kinderrechte auf der einen und Professionalisierung von Zwangselementen auf der anderen - zusammenfinden kann" (ebd.) und wie körpergestützter und abhängigkeitsgestützter Zwang sinnvoll unterschieden werden kann. "Im Unterschied zur direkten handgreiflichen Ausübung von körpergestütztem Zwang […], der einen Fremdzwang darstellt, setzt die Preisgabe an existentielle Gefühle von Verlassenheit auf den Selbstzwang. Insofern nenne ich diese Form von Zwang abhängigkeitsgestützter Zwang" (ebd).

Das Fazit: "Das Doppelgesicht von Zwang, als konstruktivem Erziehungsmittel und destruktiver Gewaltausübung ist nicht aufhebbar. Dieses Doppelgesicht ist im Hinblick auf Erziehung nichts ihr Äußerliches. Es gehört zu ihrem Kern" (ebd.). Diese Feststellung untermauert Mathias Schwabe anschließend mit Überlegungen, wann und wie reflektiert und kontrolliert mit Zwangselementen in Erziehungssituationen umgegangen werden kann. Dabei hebt er besonders hervor, dass Zwangselemente in die pädagogische Kultur eine Einrichtung bewusst und transparent eingeführt werden müssten.

Susanne und Michael May kritisieren die Thesen von Mathias Schwabe ebenso direkt wie grundsätzlich und begründen dies aus einer psychoanalytischen Perspektive, indem sie insbesondere Schwabes narzissmustheoretische Begründung des 'Zwangs als korrigierende Erfahrung' fokussieren. Dabei verdeutlichen sie mit Aussagen von Adressaten aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie, dass die Jugendlichen die pädagogischen Intentionen erzieherischer Zwangsmaßnahmen sehr wohl antizipieren und kontextualisieren. Ihre kritische Antwort endet damit, dass sie dem ihre Vorstellung 'guten Pädagogik' entgegenstellen, die May und May mit einer auf Hegel und Honneth gründenden Subjekt-Subjekt-Dialektik der Anerkennung begründen.

Sabine Pankofer nähert sich dem Thema 'Zwang' über die geschlossene Unterbringung - der Form öffentlicher Erziehung, in der sich Zwang am sichtbarsten manifestiert. Diese und ihre Wirkungen thematisiert sie sowohl aus der Perspektive von Adressatinnen als auch aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen als Pädagogin in einem geschlossenen Heim. Im Zentrum stehen dabei einerseits die Ambivalenz dieser Erfahrungen für die alle Akteure, und andererseits die Anforderungen an die Profis, "in kontinuierlicher Auseinandersetzung zu bleiben und dabei eine klare, wenngleich nicht immer für die Jugendlichen (und auch die PädagogInnen!) angenehme Haltung einzunehmen und durchhalten zu können, ohne in Rigidität zu verfallen." Im Ergebnis stimmt Pankofer der These von Schwabe zu, dass eine neue und ehrlichere Auseinandersetzung um Zwangselemente notwendig sei, insbesondere um extremen Formen und den neuen 'Blüten' entgegenzuwirken.

Im Gegensatz bzw. Widerspruch dazu erinnert Helga Cremer-Schäfer in ihrem Beitrag an die Gefahren, die gerade wissenschaftlich begründete Rationalisierungen von Zwang bergen und spricht in Anspielung auf Freud (1930) von dem "Unbehagen in der punitiven Kultur", dem sie eine weitergehende - wenn auch nicht ausreichende - Kontrolle von Zwang zutraut als einer Verrechtlichung und Professionalisierung. Zum zweiten ruft sie die derzeit augenscheinlich 'bedrohten' (alten?) Wissensbestände über die Folgen von Strafen, Geschlossenheit, und offen autoritärem wie direkten Zwang für die Adressaten ebenso in Erinnerung wie das Wissen um die prinzipielle Macht- und Herrschaftsförmigkeit der Sozialen Arbeit. Ein Wissen, das - wenn es ernst genommen wird - die Legitimierung von Zwang undenkbar mache. "Um der machtvollen Durchsetzung der Legitimation von Zwang entgegen zu arbeiten brauchen wir das Rad nicht neu erfinden, sondern nur vorhandenes Wissen zu aktualisieren." Diese Erinnerungen bettet Cremer-Schäfer in eine Analyse und Kritik des Diskurses um Zwang in öffentlicher Erziehung aus der Perspektive des Populismus bzw. des populistisch Werden von Theorien sowie des 'Control-Talk', des 'Kontrollsprech', ein. Anhand dieser beiden Perspektiven verdeutlicht Cremer-Schäfer Prozesse und Mechanismen, die zum 'Vergessen' der genannten Gewissheiten führen, und plädiert für das genaue und ehrliche Hin- und Dahinterschauen sowie das 'auf den Begriff bringen' als Kernaufgabe von Wissenschaft: "Begriffe zu finden, die den Konflikt und die Positionen darin offen legen."

Mit diesem Beitrag schließt die Debatte in diesem Heft. Gleichzeitig eröffnet gerade die letzte Forderung die hoffentlich ebenso kontroverse und fruchtbare Fortsetzung der Diskussion in den nächsten Heften, für die sich - dann im Forum - schon weitere Diskutanten angekündigt haben.

Neben diesen Beiträgen zum Schwerpunkt setzt sich Joachim Weber im Anschluss an den Mord in der Vollzugsanstalt Siegburg grundsätzlich mit dem Gewissen als innerer Instanz auseinander. Durch den engen Bezug zum Jugendstrafvollzug schließt sich der Forumsbeitrag in gewisser Weise an den Schwerpunkt dieses Heftes an.

Literatur

11. Kinder- und Jugendbericht 2002: Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland - 11. Kinder- und Jugendbericht. Bundestagsdrucksache v14/8181

Bettinger, Frank 2002: Der Kriminalitätsdiskurs - Bedeutung und Konsequenzen für eine kritische Soziale Arbeit. In: Bettinger, Frank / Mansfeld, Cornelia / Jansen, Mechthild M. (Hg.): Gefährdete Jugendliche? Jugend, Kriminalität und der Ruf nach Strafe. Opladen, S. 145-154

Cremer-Schäfer, Helga / Steinert, Heinz 1998: Straflust und Repression. Zur Kritik der populistischen Kriminologie. Münster

Deutsche Shell (Hg.) 2002: Jugend 2002. Zwischen pragmatischem Idealismus und robustem Materialismus. Frankfurt a.M.

Freud, Sigmund 1930: Das Unbehagen in der Kultur; Gesammelte Werke Bd. XIV, Frankfurt S. 419-506

Hassemer, Winfried 2001: "Gründe und Grenzen des Strafens". In: Vormbaum, Thomas (Hg.): Jahrbuch der juristischen Zeitgeschichte Bd. 2. Baden-Baden, S. 458-484

Heinz, Wolfgang 2003: Jugendkriminalität in Deutschland. Kriminalstatistische und kriminologische Befunde. Aktualisierte Ausgabe Juli 2003. URL: http://www.uni-konstanz.de/rtf/kik/Jugendkriminalitaet-2003-7-e.pdf [Stand: 12.06.2006]

Lautmann, Rüdiger / Klimke, Daniela/ Sack, Fritz (Hg.) 2004: Punitivität. 8. Beiheft des Kriminologischen Journal

Lutz, Tilman/Ziegler, Holger 2005: Soziale Arbeit im Post-Wohlfahrtsstaat - Bewahrer oder Totengräber des Rehabilitationsideals? In: Widersprüche 97, S. 123-134

Müller, C.W. 2004: Versozialarbeiterung autonomer Jugendarbeit. In: Jugendhilfe 42, S. 64-65

Rose, Nikolas 2000: Tod des Sozialen. Eine Neubestimmung der Grenzen des Regierens. In: Bröckling, Ulrich/Lemke, Thomas/Krasmann, Susanne (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart: Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt am Main, S. 72-109

Schumak, Renate 2004: Die neue Anthropologie des Arbeitslosen. Diskursanalyse eines Gesetzestextes: Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II). In: Widersprüche 94, S. 75-87

Stehr, Johannes 2002: Außerstrafrechtliche Reaktionen auf Kriminalität. In: Anhorn, Roland / Bettinger, Frank (Hg.): Kritische Kriminologie und Soziale Arbeit. Impulse für professionelles Selbstverständnis und kritisch-reflexive Handlungskompetenz. Weinheim und München, S. 189-199

Stehr, Johannes 200): Normierungs- und Normalisierungsschübe - Zur Aktualität des Foucaultschen Disziplinbegriffes. In: Anhorn, Roland / Bettinger, Frank / Stehr, Johannes (Hg.): Foucaults Machtanalytik und Soziale Arbeit. Eine kritische Einführung und Bestandsaufnahme. Wiesbaden, S. 29-40

Weidner, Jens (Hg.) 1997: Gewalt im Griff. Neue Formen des Anti-Aggressivitäts-Trainings. Weinheim

Wohlfahrt, Norbert 2004: Soziale Arbeit in der sozialwirtschaftlichen Transformation - Auswirkungen auf die Profession. Vortrag auf der Konferenz Soziale Arbeit zwischen Deprofessionalisierung und Neuer Fachlichkeit. Bielefeld

Anmerkungen

1. Die Verbindung von kriminalpolitischen und sozialpolitisch-sozialarbeiterischen Leitorientierungen sowie die Rolle der Sozialen Arbeit im Postwohlfahrtsstaat wurde bereits 2005 von Lutz und Ziegler in den WIDERSPRÜCHEN kritisch diskutiert. Für die Debatte um die Kultur der Punitivität vgl. die Beiträge in Lautmann et al. 2004.

2. Diese Stellungnahme wurde u.a. im DVJJ Journal abgedruckt und ist im Internet zu finden. URL: http://www.vpk.de/mitteilungen/positionen/15122002.html (Stand: 28.10.2007)

3. Susanne Krasmann (2000) spricht u.a. von 'Normierung an der Oberfläche' und dem 'Abtrainieren' spezifischer Verhaltensweisen.

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