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Heft 106: Wer nicht hören will, muss fühlen? - Zwang in öffentlicher Erziehung

2007 | Inhalt | Editorial | Abstracts

Titelseite Heft 106
  • Dezember 2007
  • 120 Seiten
  • EUR 14,00 / SFr 19,80
  • ISBN 3-89370-438-5
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Burkhard Müller
Zum Themenheft "Zwang" - ein offener Brief

Lieber Timm, danke für Deine Einladung zur Beteiligung an der Diskussion über "Zwang in der öffentlichen Erziehung". Die Diskussion ist notwendig und es freut mich, dass gerade die Widersprüche Gelegenheit geben, sie offener als bisher zu führen. Dein Brief vom 06.05.2007. ist zwar nicht gerade der des Moderators zwischen unterschiedlichen Positionen. Denn wenn es "das Schlimme ist, dass fortschrittliche Protagonisten der Heimerziehung Begleitforschung betreiben um den Einsatz von Zwangsmittel zu rechtfertigen", wer mag da noch widersprechen wollen? Da ich aber weiß, dass Du in einer solchen Diskussion gar kein unparteiischer Moderator sein willst und andererseits Widerspruch wirklich schätzt, was auch für "Widersprüche" gilt (mehr als für andere bekannte Zeitschriften), so wage ich es trotzdem. Ich muss aber zunächst etwas ausholen...

Matthias Schwabe
Zwang in der Erziehung und in den Hilfen zur Erziehung

Ich bin dankbar darüber in diesem Heft meine Position darstellen zu können und hoffe, dass es nicht bei einem einmaligen "Schlagabtausch" bleibt, sondern das argumentative "Ringen" in eine zweite und dritte Runde geht wie das bei der Dienstleistungsdiskussion (1996) oder der Diagnose-Debatte (2005) gelungen ist. Diese Hefte der "Widersprüche" zählen für mich zu den Höhepunkten sozialpädagogischer Diskussionskultur in Deutschland. Mein Text besteht aus vier Punkten: Zu Beginn versuche ich zu begründen, warum es mir wichtig ist, offen über Zwang als Erziehungsmittel nachzudenken (1). Anschließend schildere ich an einem Beispiel aus der Praxis eine typische Herausforderungssituation für ForscherInnen, aber auch Vertreter von Jugendhilfeverbänden etc. (2). Das dritte Kapitel stellt das theoretische Zentrum meines Aufsatzes dar: hier will ich zeigen, warum einzelne Begegnungen mit Zwang für die Überwindung und Weiterentwicklung von kindlichen Omnipotenzphantasien und Autonomieillusionen bedeutsam sind (3). Zum Abschluss stelle ich einige Überlegungen darüber an, wie ein auch durch fachliche Standards kontrollierter Umgang mit Zwangselementen im Heim aussehen kann (4). Auf die zum Teil sehr detaillierten Untersuchungsergebnisse aus unserem Projekt in Bezug auf "Auszeiträume" oder zeitweilig verschlossene Türen etc. kann ich hier nicht eingehen (Evers/Schwabe/Vust 2007, S.92-108).

Michael May, Susanne May
Pädagogik als Subjekt-Subjekt-Dialektik denken
Eine Antwort auf Mathias Schwabe

Wenn Mathias Schwabe daran erinnert, dass pädagogisch motivierte Eingriffe nicht losgelöst von der Erfahrung derjenigen beurteilt werden können, die dadurch erzogen werden sollen, dann rückt er damit etwas ins Bewusstsein, was Konsens in so höchst unterschiedlichen Theorien ist, wie der Psychoanalyse (vgl. z.B. Trescher 1985), der Systemtheorie Luhmannscher Prägung (vgl. z.B. Luhmann/Schorr 1982), den verschiedenen Ansätzen eines (radikalen) Konstruktivismus (vgl. z.B. von Schlippe/Schweitzer 2002 sowie Watzlawick 1992), Ansätzen einer Theorie der Selbstregulierung (vgl. z.B. Negt 1986 sowie May 2004) oder dem theoretischen Versuch, Soziale Arbeit als Produktion Sozialer Dienstleistung zu rekonstruieren (vgl. z.B. Schaarschuch 1996). Sehr viel weniger scheint dies in aktuell populären Konzepten Berücksichtigung zu finden, sei es nun aus dem Bereich der so genannten "Konfrontativen Pädagogik" (vgl. Weidner/Kilb 2004) oder der pädagogischen Wendung von Strategien des angeblich "gewaltfreien" Widerstandes (vgl. Ômer/von Schlippe 2002)...

Sabine Pankofer
Beziehung durch oder trotz Zwang?
Ambivalente Erfahrungen aus dem pädagogischen Alltag geschlossener Unterbringung von Mädchen

Geschlossene Heime oder freiheitsentziehende Maßnahmen sind zwar grundsätzlich eindeutige Zwangsmaßnahmen, eine Betrachtung von Selbstaussagen ehemals geschlossen untergebrachter Mädchen zeigt jedoch die große Komplexität und Ambivalenz auf, mit der pädagogische Beziehungen in einem solchen Kontext zu betrachten sind.

Helga Cremer-Schäfer
Populistische Pädagogik und das "Unbehagen in der punitiven Kultur"

Wer über einen Begriff von Strafe (als Leidzufügung, Unterwerfung, eliminatorische Ausschließung, Demonstration von Überlegenheit, Darstellung von Herrschaft) und einem Begriff von Disziplinierung (in der ganzen Palette ihrer Techniken) verfügt, kann keine Legitimation von Zwang konstruieren. Als Beitrag für eine wissenschaftliche Kontroverse wird eine Aktualisierung des Wissens über Strafe und Disziplinierung gewählt. Dieses Wissen kann nur zur Kontrolle der Benutzung von Zwangsmitteln verwendet werden. Wissen über Strafe und Disziplinierung stellt eine Ressource für die Weiterentwicklung des noch vorhandenen praktischen und theoretischen "Unbehagens in der punitiven Kultur" dar. "Professionalisierung von Zwangselementen" ist nicht nur ein logischer Widerspruch: diese Rationalisierung entgrenzt den Zwang und ermächtigt zu seiner Nutzung.

Joachim Weber
Über Gewissenlosigkeit
Einige Gedanken im Anschluss an den Mord in der Justizvollzugsanstalt Siegburg

Das Gewissen ist eine innere Instanz, die unser Handeln mit eigenen und fremden Ansprüchen, Normen und Bedürfnissen abgleicht. Diese Instanz ist in der Moderne – insbesondere durch das Denken von Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud – in Verruf geraten. Doch die Freiheit vom Gewissen, die Gewissenlosigkeit, stellt mitnichten eine Befreiung dar, sondern eine existentielle Bedrohung unseres Zusammenlebens. Der Mord von Siegburg führt uns vor, wozu Menschen fähig sind, wenn das Gewissen nicht mehr funktioniert, er führt uns allerdings auch vor, dass Strafvollzug Gewissenlosigkeit begünstigt wenn nicht gar selbst erzeugt.

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