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Heft 111: Staatsbedürftigkeit der Klassengesellschaft - politische Sorge um die "Mitte"

2009 | Inhalt | Editorial | Abstracts

Titelseite Heft 111
  • März 2009
  • 134 Seiten
  • EUR 14,00 / SFr 21,90
  • ISBN 3-937461-62-5
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"Die künftige Mittelklasse orientiert sich an fließenden Formen", so der Titel eines Trendberichts in der Süddeutschen zum Auftakt des alljährlichen Autosalons und den aktuellen Produktionskonzepten der großen Konzerne 2008 (21./22.6.08). Ohne Mühe und ziemlich treffsicher ließe sich mit diesem Slogan der Mainstream der derzeitigen Debatten um die "gesellschaftliche Mitte" kennzeichnen. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein "stand" die Mitte als "Mittelstand". Sie symbolisierte, zusammen gesetzt aus akademischen Berufen, mittleren Angestellten, kleineren Gewerbetreibenden und Selbständigen, den ruhenden gesellschaftlichen Pol und war die beste Versicherung für politische Stabilität und Bollwerk gegen politischen Radikalismus. Sie garantierte Leistungsbereitschaft und versprach in diesem Sinne Aufstieg für leistungswillige Menschen aus der Arbeiterklasse. Sie wurde entsprechend politisch umworben, gehegt und gepflegt.

Spätestens mit der rot-grünen Koalition seit 1998 kam diese gesellschaftliche Mitte ins Fließen: Als modernes urbanes Projekt wurde die "Neue Mitte" von SPD und Grünen ausgerufen, dessen Gestalt künftig dominant geprägt sein sollte durch die in den neuen technischen Berufen (als Angestellte oder Selbständige) Tätigen und durch "intelligente Konsumenten". Die Agenda-Politik 2010 mutete dieser "Neuen Mitte" Großes zu: Bei der Modernisierung des Wirtschaftssystems, bei der Verschlankung und Effektivierung des Sozialstaats sollte sie die dynamische Hauptrolle spielen und gleichzeitig dadurch auch als Schubkraft für den "gesellschaftlichen Rest" wirken. Seitdem fließt die Mitte, wie sich anhand einschlägiger empirischer Studien feststellen lässt. Wenngleich die Aussagen zu Fließmenge und Fließgeschwindigkeit gewisser Interpretation unterliegen (vergl. hierzu z.B. die Beiträge von Lessenich und Vogel in diesem Heft), so kommt man nicht umhin, zur Kenntnis nehmen, dass sich die Schicht der Bezieher mittlerer Einkommen zwischen den Jahren 2000 und 2006 deutlich verringert hat, dass im Laufe der vergangenen 20 Jahre der Bevölkerungsanteil, der einkommensrelevant zur Mitte gezählt werden kann, von Zweidritteln auf nahezu die Hälfte abgesunken ist, und dass eine Abwärtsbewegung der Mitte in Folge von Leiharbeit, Minijobs und geringfügiger Beschäftigung stattfindet (vergl. DIW-Wochenberichte Nr. 10/2008 und Nr.4/2009).

Das (Ab)Fließen der Mitte führt zur Sorge um die Mitte - und zu Sorgen dieser Mitte "um sich selbst" (vgl. Lessenich in diesem Heft). Im öffentlich-politischen Diskurs weisen Attribute wie: "bedroht", "gefährdet", "verwundbar" auf den Ernst der Lage hin; und die Rede vom "harten Kern" der Mitte suggeriert einerseits, dass die Mitte als Mitte unaufgebbar und unverzichtbar erscheint, macht aber gleichzeitig die Unschärfe dieses gesellschaftlichen Gebildes deutlich und die Schwierigkeit, geeignete Kategorien der Zuordnung zu benennen. Mitte ist "gefühlte Mitte", und diese wird stark von "Nervositäten und Ängsten, den sozialen, materiellen oder beruflichen Halt zu verlieren", bestimmt (vgl. Vogel in diesem Heft).

Die Sorge der Mitte um sich selbst, um den Verlust von bislang als Selbstverständlichkeit, als "gutes Recht" für "Leistung" verstandenen Status und Distinktion, zeigt sich auf diversen gesellschaftlichen Feldern. Man verfolge nur einmal die erbitterten Widerstände von "Mitte-Eltern" gegen solche Modernisierungskonzepte im schulischen Bildungsbereich, die dessen soziales Selektionsprogramm zu reduzieren beabsichtigen und damit die Privilegierung gymnasialer Bildung in Frage zu stellen scheinen (vgl. hierzu die Auseinandersetzungen zwischen der Eltenorganisation "Wir wollen lernen" und der Schulbehörde mit ihrem Primar- und Stadtteilschulkonzept in Hamburg).

Wenn im Wahljahr 2009 alle Parteien sich in Sorge um die Mitte zeigen, dann ist dies auf den ersten Blick nicht mehr und nicht weniger als symbolische Politik, also Stimmenwerbung, welche den tatsächlich stattfindenden gesellschaftlichen Umbau übertünchen soll. Auf den zweiten Blick entpuppen sich solche Sorgen dann möglicher Weise als gezielt eingesetzte Strategien im derzeitigen herrschaftlichen Krisenbewältigungsdiskurs: "Mittelschichtgesellschaften entstehen nicht von selbst mit der Reifung einer Volkswirtschaft, sondern müssen durch politisches Handeln geschaffen werden", sagt Paul Krugmann. Und er plädiert dafür, sich von einer Auffassung zu verabschieden, die auch in progressiven Kreisen vorherrsche: nämlich dass der fordistische Kapitalismus, der die Gangsterkultur des Raubritterkapitalismus abgelöst habe, quasi automatisch eine Gleichheitskultur gefördert habe, wohingegen der postindustrielle neoliberale Kapitalismus wieder nahezu naturgemäß zu mehr Ungleichheit führe.

Es ist also weder ein Zufall noch aussschließlich den sozio-ökonomischen und damit auch biografischen Verwerfungen und polarisierenden Ungleichheitsentwicklungen geschuldet, wenn in diesem Ausmaß über die gesellschaftliche Mitte und damit auch über das gesellschaftliche Oben und Unten diskutiert wird, wie es in jüngster Zeit geschieht. Die Diskussion ist in ganz erheblichem Umfang Ergebnis einer Politik des sozialstaatlichen Umbaus, für den "Hartz IV" in den öffentlichen Debatten exemplarisch steht. Mit den im Rahmen der Agenda 2010 unter Rot-Grün beschlossenen Veränderungen im Bereich der sozialen Absicherung bei Erwerbslosigkeit oder nicht existenzsichernden Einkommen, der Rentenversicherung und der Krankenversicherung wird das Prinzip der Orientierung von Sozialleistungen am Lebenstandard in Lohnarbeit verabschiedet. Getroffen werden damit vor allem die Angehörigen der Klassen und Milieus, denen der bundesdeutsche Sozialstaat immer versprochen hatte, dass sich ihre Leistung in der Lohnarbeit insofern lohnt, als die Leistungsansprüche im Falle des Einritts der klassischen gesellschaftlichen Risiken der ArbeiterInnenexistenz sich am erzielten Erwerbseinkommen, sprich an der Position in der Hierarchie der Arbeit orientieren und das Maß an subsidiärer Eigen- oder Familienverantwortung und damit verbundener Bedürftigkeitsprüfungen zumindest für die männliche Fraktion gering hielt. Die sozialstaatliche Politik der Agenda 2010 setzte, so paradox es klingen mag, unter dem Slogan der Modernsierung auf eine Ausweitung des Fürsorgegedankens im Sinne einer minimalen Grundsicherung und einer paternalistischen Politik des Forderns, welche die Integration in Lohnarbeit um jeden Preis zum Modell gesellschaftlicher Inklusion macht. Diese Logik der Fürsorge in Richtung eines Workfare-Regimes, die von jeher zur sozialstaatlichen Behandlung primär armer, gering verdienender, erwerbsloser Haushalte am sogenannten Rand der Gesellschaft gehörte, wurde und wird nun ausgeweitet auf die Klasse der "arbeitnehmerischen Mitte". Die Politik der Aktivierung bringt damit das Ordnungsgefüge des Sozialstaats Bismarck'scher und fordistischer Prägung mit seiner Trennung von Arbeiterpolitik und Armenpolitik ins Wanken. Für die gesellschaftlichen Gruppen, deren Lebensperspektiven aktuell unter der Chiffre der Mitte diskutiert werden, war gerade das Sozialversicherungssystem grundlegendes Moment ihrer "social citizenship". Und für diese Gruppen trifft das von Robert Castel stammende Bild der "Gesellschaft der Ähnlichen" am besten, geht er doch davon aus, dass die Sozialversicherungen als "soziales Eigentum" das erkämpfte Äqivalent zum Privateigentum der Bürger sind und somit sowohl eine Schutzfunktion haben als auch funktional sind für die Mobilität der Menschen mit ihrer ganz besonderen Ware Arbeitskraft. Mit dieser grob skizzierten Politik des aktivierenden Sozialstaatsumbaus wird das in der "arbeitnehmerischen Mitte" vorhandene Gerechtigkeitsempfinden (Tausch von Arbeitsleistung gegen ein soziales Sicherheitsversprechen) empfindlich gestört. Hinzu kommt noch als Verunsicherungsfaktor die Ausweitung von finanzieller Eigenverantwortung für die Alterssicherung und die Gesundheitsversorgung in Zeiten zunehmender Erosion versprochener, erfahrener und geglaubter Sicherheiten in Arbeitsverhältnissen und privaten Lebenslagen. Vor allem letztere erhalten im Rahmen der Grundsicherung von Hartz IV durch die verschärften Unterhaltspflichten in diesen Haushalten einen Schub zugunsten traditioneller Geschlechterverhältnisse bei gleichzeitiger Ausweitung des Lohnarbeitszwangs. Diese aktivierende Politik des sozialstaatlichen Umbaus ist eine Politik der sozialen Verunsicherung, und sie trifft auf höchst ungleich verteilte Vermögen, mit diesen Zumutungen umzugehen.

Zu den Beiträgen im Einzelnen

Berthold Vogel befasst sich in seinem Text mit den Prekarisierungsgefahren und Deklassierungsängsten der Menschen, die sich als qualifizierte Arbeitskräfte in unterschiedlichen Sektoren der Industrie, Dienstleistung und des Staates in mittleren Soziallagen befinden. Er geht den Veränderungen in der sozialen Zusammensetzung dieser sozialen Milieus nach und fragt dabei nach dem Einfluss von sozialpolitischen Regulierungen sowie nach Flexibilisierungs- und Prekarisierungsprozessen in Arbeitsverhältnissen. Er weist dabei auf den hohen Stellenwert hin, den der Ausbau des Sozialstaats in Deutschland historisch für die Konstitution dieser sozialen Gruppierungen z.B. als Aufstiegsmilieus hatte und den der Umbau der Sozialstaatlichkeit aktuell für die Spaltung dieser Milieus in absteigende, abstiegsgefährdete und gewinnende Gruppen hat. In diesen aktuellen gesellschaftlichen Veränderungsprozessen bilden sich neue soziale Ungleichheiten aus und es gibt Kämpfe um rechtliche und politische Positionen, die immer auch Kämpfe um soziale Klassifizierungen und Unterscheidungen sind. Für die Interessensdurchsetzung in diesen Positionskämpfen spielt die Gestalt staatliche Politik eine wesentliche Rolle, so dass man mit Recht davon sprechen kann, dass in diesen Konflikten der Mittelklasse eine Staatsbedürftigkeit artikuliert wird.

Der "Mitte" als einer Metapher für gesellschaftliche Veränderungsprozesse widmet sich auch Stephan Lessenich. Neben der Darstellung des Wissens um die sozio-ökonomischen Dimensionen der Veränderung in der Sozialstruktur befasst er sich vor allem mit der normativen Rolle, die das (Selbst)bild der Mitte in der bundesrepublikanischen Gesellschaft spielte und spielt. Die normative Kraft geht nach Lessenichs Argumentation nicht nur von unterstellten oder realen Integrationsprozessen aus, sondern auch von sozialen Aus- und symbolischen Abgrenzungsprozessen dessen, was als Mitte galt bzw. gilt. Seine Betrachtung stellt die sozialstrukturelle Spaltungs- und Differenzierungsdynamik in den Mittelpunkt und zeigt, wie in sozialstaatlicher Aktivierungspolitik soziale Zensuren zugunsten leistungswilliger Klassenmilieus verteilt werden. Dies ergeben gleichzeitig das Legitimationsmuster für die Existenz einer Unterklasse.

Wie dann von wem die Zensuren, die zuungunsten der unteren sozialen Klassenmilieus vergeben werden, mit der These einer neuen Unterschicht empirisch und kulturalistisch untermauert werden, stellt Thomas Wagner in seinem Beitrag nach. Er bietet einen Rückblick über die Underclass-Debatte in den USA und einen Überblick über die Diskussion um Unterschicht und abgehängtes Prekariat in Deutschland. Er konfrontiert die populären herablassend-kulturalistischen Positionen mit Ergebnissen aus der Armuts- und Ungleichheitsforschung und interpretiert die Unterschichtsdebatte als modernisierte Neuauflage der klassischen Diskussionen über würdige und unwürdige Arme sowie die gefährlichen Klassen, die politisch das Ziel verfolgen, "die da unten" von solidarischen Sicherungs- und Beteiligungspolitiken fern zu halten.

Wie eine aktivierende und an Investitionen in Humankapital interessierte staatliche Sozialpolitik nicht nur programmatisch, sondern im Detail klassenspezifisch und genderspezifisch wirkt, zeigen Gabriele Winker und Ellen Bareis in ihren Texten. Gabriele Winker betrachtet familien- und sozialpolitische Maßnahmen vor dem Hintergrund der Veränderungen der Produktions- und Reproduktionsverhältnisse. Die Krise des klassischen Ernährermodells wird nachgezeichnet, und neue Anforderungen an die Reproduktionsarbeit werden vorgestellt. Familienpolitische Maßnahmen wie das Elterngeld oder der Ausbau frühkindlicher Betreuungsangebote aber auch Maßnahmen im Bereich der Pflegeversicherung werden als wirtschaftspolitisch motivierte Unterstützung der Erwerbstätigkeit von Frauen in mittleren und einkommenstarken sozialen Positionen interpretiert. In welcher Weise die Balanceakte zwischen Lohn- und Reproduktionsarbeit gemeistert werden müssen, wird an drei Familienmodellen gezeigt: outsourcing der Reproduktionsarbeit im Dopperlverdienermodell, weibliche Doppelbelastung im prekären Familienmodell und individuelle Überlebensstrategien im subsistenzorientierten Familienmodell. Vor dem Hintergrund dieser Modelle werden politische Handlungstrategien diskutiert, die professionelle Dienstleistungen, gesellschaftliche Aufwertung von Reproduktionsarbeit und existenzielle Absicherung (Zeit und Geld) der Akteure und Akteurinnen verbinden.

Christine Resch nimmt abschließend die Frage der Staatsbedürftigkeit gesellschaftlicher Verhältnisse wieder auf und verhandelt sie im Rahmen einer Auseinandersetzung um die Grundcharakteristika der kapitalistischen Produktionsweise. Ihr besonderes Augenmerk richtet sie dabei auf die Betrachtung des fordistischen Sozialstaats am Beispiel der Sozialversicherungssysteme und auf die Analyse der neoliberalen Produktionsweise. Dabei kommt sie zu dem Schluss, dass entgegen aller Rede von der Abdankung des Staates unter neoliberaler Regulation gerade auch die marktfromme Programmatik und Praxis staatsbedürftig sei: Die Staatsbedürftigkeit realisiert sich politisch in einer Infrastruktur für die kapitalistische Produktionsweise, zu der nicht zuletzt die Beförderung und Pflege der nötigen Arbeitsmoral und selbstverantwortlichen Subjektivität der ArbeitskraftunternehmerInnen gehört.

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