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Heft 114: Die immerwährende Lust am Genetischen - ein posthumer Beitrag zum Darwin-Jahr

2009 | Inhalt | Editorial | Abstracts

Titelseite Heft 114
  • Dezember 2009
  • 144 Seiten
  • EUR 15,00 / SFr 21,90
  • ISBN 3-937461-65-6
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Zu diesem Heft

Das Heft 71 der Widersprüche erschien unter dem Schwerpunkttitel "Die Biologisierung des Sozialen?". Im Editorial bezeichnete die Redaktion der Widersprüche als "eigentlichen Knackpunkt" ihrer Diskussion über biologische Argumentationen in gesellschaftspolitischen Zusammenhängen, dass neben individuellem menschlichem Verhalten auch "soziale (Ungleichheits-)Verhältnisse zweckdienlich kategorisiert und auf biologisches Schicksal zurückgeführt" werden. Beispielsweise werde das Geschlechterverhältnis in der bürgerlichen Gesellschaft nicht als Ausdruck bestimmter gesellschaftlicher Machtverhältnisse erkannt, "sondern aus 'Notwendigkeiten' der biologischen Fortpflanzung beziehungsweise der maximalen Genweitergabe abgeleitet". Die Gen-Forschung trage mit ihren "immer neuen Funden" zur Legitimation gesellschaftlich hervorgebrachter Ungleichheit bei, indem fast jede Normabweichung auf ein spezifisches Gen zurückgeführt werde. Dieser Befund ist in dem seither vergangenem Jahrzehnt nicht obsolet geworden. Im Gegenteil: Mit dem neuen Jahrtausend wird der alte naturwissenschaftliche Fortschrittsoptimismus von der Eugenischen Vervollkommnung der Menschen-Gattung durch das Human Genome Project von Bio-Medizin, Gen-Forschung und ‑Technologie im Verein mit der Bevölkerungspolitik quasi neu begründet.

In ihrem Beitrag "Molekulargenetische Regierungsprogramme" erinnert Erika Feyerabend an die Verkündigung der "Entschlüsselung des menschlichen Genoms" an die Weltöffentlichkeit durch Bill Clinton und Tony Blair im März 2000. Feyerabend zeigt, wie es zu diesem "historischen Ereignis", mit dem eine neue Epoche in der Menschheitsentwicklung eingeläutet werden sollte, kam und wie die Entwicklung danach bis in die unmittelbare Gegenwart verlief. In den Spitzenlaboratorien diverser Wissenschaftszweige von Biologie und Medizin steigerte sich die übliche Konkurrenz um Nobel- und andere Preise zu einem gnadenlosen Kampf um Patentierungen und Verwertungsrechte, dessen vorläufiger Höhepunkt der "Stammzellenbetrug" eines Süd-Koreanischen sogenannten Spitzenforschers war. Begleitet wurde dieser Wettlauf um den ökonomischen Zugriff auf das menschliche Genom von Versuchen hierzulande, ethisch begründete gesetzliche Beschränkungen, zum Beispiel der Embryonen-Forschung, mit dem stereotypen Hinweis auf drohende "Nachteile für den Standort Deutschland" zu kippen, und von zugespitzten Auseinandersetzungen in Enquete-Kommissionen und Ethik-Beiräten auf der politischen Bühne.

Auch Sloterdijks "Regeln für den Menschenpark" und die Kritik von Habermas an diesem philosophischen Tabubruch gehören in diesen Zusammenhang. Zur Erinnerung ein Sloterdijk-Zitat: "Aber der Diskurs über die Differenz und Verschränkung von Zähmung und Züchtung, ja überhaupt der Hinweis auf die Dämmerung eines Bewusstseins von Menschenproduktionen und allgemeiner gesprochen: von Anthropotechniken - dies sind Vorgaben, von denen das heutige Denken den Blick nicht abwenden kann, es sei denn, es wollte sich von Neuem der Verharmlosung widmen [...]. Ob aber die langfristige Entwicklung auch zu einer genetischen Reform der Gattungseigenschaften führen wird - ob eine künftige Anthropotechnologie bis zu einer expliziten Merkmalsplanung vordringt; ob die Menschheit gattungsweit eine Umstellung vom Geburtenfatalismus zur optionalen Geburt und zur pränatalen Selektion wird vollziehen können - dies sind Fragen, in denen sich, wie auch immer verschwommen und nicht geheuer, der evolutionäre Horizont vor uns zu lichten beginnt" (zitiert nach Kappeler 2008).

Fast auf den Tag hundert Jahre zuvor schrieb Ellen Key in ihrem reformpädagogischen Bestseller "Das Jahrhundert des Kindes": "Wer weiß, dass der Mensch unter unablässigen Umgestaltungen das geworden, was er nun ist, sieht auch die Möglichkeit ein, seine zukünftige Entwicklung in solcher Weise zu beeinflussen, dass sie einen höheren Typus Mensch hervorbringt. Man findet schon den menschlichen Willen entscheidend bei der Züchtung neuer und höherer Arten in der Tier- und Pflanzenwelt. In Bezug auf unser eigenes Geschlecht, auf die Erhöhung des Menschentypus, die Veredelung der menschlichen Rassen herrscht hingegen noch der Zufall in schöner oder hässlicher Gestalt. Aber die Kultur soll den Menschen zielbewusst und verantwortlich auf allen Gebieten machen, auf denen er bisher nur impulsiv und unverantwortlich gehandelt hat. In keiner Hinsicht ist jedoch die Kultur zurück gebliebener als in all den Verhältnissen, die über die Bildung eines neuen und höheren Menschengeschlechts entscheiden. Erst wenn die naturwissenschaftliche Anschauung die Menschheit durchdrungen hat, kann diese die volle, naive Überzeugung der Antike von der Bedeutung des Körperlichen wieder erlangen" (Key 1905, 4f.).

Diese Zitate von Sloterdijk und Key, zwischen denen das komplette zwanzigste Jahrhundert liegt, belegen nicht nur die Kontinuität des eugenischen Fortschrittdenkens und nicht nur die weitgehende philosophische Übereinstimmung zwischen "alter" und "neuer" Eugenik, sie zeigen auch, wie Soziale Arbeit und Pädagogik in dieses Denken involviert waren und - daran zu erinnern ist einer der Gründe für dieses Schwerpunktheft - immer noch sein können. Mit der naturwissenschaftlichen "Entschlüsselung des menschlichen Genoms" und Slotterdijks philosophischer Legitimation seiner eugenischen Verwertung, begann dieses "genetische Jahrzehnt" und mit den Jubelfeiern des Darwin-Jahres 2009 erreichte es seinen abschließenden Höhepunkt.

Zu den Beiträgen im Einzelnen

Eckhard Rohrmann beleuchtet in seinem einleitenden Beitrag die Zuspitzung des "nunmehr hundertfünfzig Jahre andauernden Kulturkampfs" zwischen "wissenschaftlichen und religiösen Fundamentalismen" anlässlich des zweihundertsten Geburtstags des "Schöpfers" der Evolutionstheorie. Rohrmann plädiert für eine Überwindung religiöser und wissenschaftlicher Dogmen, für eine Entmythologisierung des Darwinismus und für eine kritische Weiterentwicklung des unbestreitbaren Kerns der Evolutionstheorie auf der Grundlage neuerer, interdisziplinärer Erkenntnisse. Mit seinem Artikel "Zur Dialektik der Evolution oder die Evolution der Evolution" in diesem Heft leistet Rohrmann dazu selbst einen Beitrag.

Michael May setzt in seiner "Kritik von evolutionärer Theorie und Pädagogik..." seine in den Widersprüchen 71 ("Das Chaos, die Ordnung und das Selbst") begonnene Auseinandersetzung mit dem "undialektischen Verständnis von Naturalismus und Evolution" fort, indem er die im Beiheft "Biowissenschaft und Erziehungswissenschaft" der "Zeitschrift für Erziehungswissenschaft" veröffentlichten "modernen biowissenschaftlichen Ansätze [...] auf der Basis eines auf Marx zurückgehenden Naturalismus" untersucht.

Die Beiträge von Thomas Kraußund Gundula Barsch lesen sich wie disziplinspezifische Ergänzungen zu Michael May. Krauß unterzieht am Beispiel der Evolutionspsychologie den "neuen Biologismus" einer radikalen und ironisch-satirischen Ideologiekritik. Dabei geht es ihm nicht um eine "Kritik an den Forschungsbemühungen der seriösen Naturwissenschaften", sondern "um eine Kritik an der Instrumentalisierung ihrer Forschungsergebnisse" durch diverse Interessen, gegen die sie allerdings nicht protestieren. Das legt die Vermutung nahe, dass die Naturwissenschaften an dieser "In-Dienst-Nahme" selbst ein Interesse haben und sie aktiv mit betreiben, was nicht ohne Folgen für ihre Forschung und ihre Ergebnisse bleiben kann. Mit einem Zitat aus Kurt Lenks Klassiker "Ideologie, Ideologiekritik und Wissenssoziologie" (Darmstadt und Neuwied 1972) erinnert Krauß an die Marxistische Ideologiekritik, auf die er sich in seinem Beitrag wesentlich bezieht: "In Analogie zu dieser Fetischisierung der Warenwelt werden die Produkte des menschlichen Denkens zu selbständigen Mächten, die die Geschichte zu lenken scheinen, verdinglicht. Die Marxsche Ideologiekritik besteht nun darin, die fetischisierten ökonomischen Formen und die scheinbar autonomen Ideen auf ihren spezifisch menschlichen, das heißt gesellschaftlichen Ursprung hin zu analysieren."

Wie sich ideologische Fetischisierungen auf Forschung, Theorieentwicklung und Praxis Sozialer Arbeit auswirken können, zeigt Gundula Barsch in ihrem Beitrag über die Dominanz biomedizinischer Paradigmen in der "Forschung zum Umgang mit psychoaktiven Substanzen", der sogenannten "Suchtforschung". Sie kritisiert, dass es keine "sozialwissenschaftliche Forschung zum geglückten Umgang mit psychoaktiven Substanzen gibt". Wer sollte eine solche Forschung, die der prohibitiven Drogenpolitik, vor allem der Illegalisierung bestimmter Stoffe und der Kriminalisierung ihrer KonsumentInnen durch das Betäubungsmittelgesetz (BTMG) den Boden entziehen könnte, auch finanzieren? Die "sozialwissenschaftliche Suchtforschung" wird in der Bundesrepublik durch die über wenig Eigenmittel verfügende drogenpolitische Opposition, deren Hoch-Zeit die neunziger Jahre mit der Entwicklung des Akzeptanzparadigmas waren, gegenwärtig mühsam vor dem "Aus" bewahrt. Stattdessen werden die finanziellen Mittel für die "Sucht-Forschung" wie Gundula Barsch zeigt, in molekulargenetische Forschungsstrategien investiert, die nach auffälligen Rezeptoren suchen und in neurobiologische Forschungen, denen es um "gestörte Hirnfunktionen" geht. Diese Forschungsstrategien konstruieren ein "Suchtzentrum" im Gehirn, ausgestattet mit einem "Suchtgedächtnis": "Sie nähren die immer wieder gehegte Hoffnung, mit einem gezielten medizinischen Eingriff das Problem auffälligen und sozial unangepassten Handelns beseitigen zu können, u.a. auch den übermäßigen Konsum psychoaktiver Substanzen." Die von der Autorin dargestellten alternativen Möglichkeiten für eine andere Theorie und Praxis im individuellen und gesellschaftlichen Umgang mit psychoaktiven Substanzen werden in ihrem in diesem Heft rezensierten Buch umfassend entwickelt und begründet.

Mit dem abschließenden Beitrag von Manfred Kappeler wird der Anlass zu diesem Heft, das "Darwin-Jahr" und sein Heros, wieder aufgenommen. Kappeler kritisiert die im Jubeljahr der Evolutionstheorie auf die Spitze getriebene Freisprechung Darwins von den sozialrassistischen Konsequenzen seines Eugenischen Denkens, das vor allem in seinem Spätwerk "Die Abstammung des Menschen" (1871) ausformuliert wurde. Kappeler zeigt, wie die scheinbare bevölkerungspolitische Plausibilität der "alten" und der "neuen" Eugenik, in ihren Grundannahmen und Konsequenzen kaum verändert, miteinander verbunden sind. Kappeler zitiert einen der wenigen naturwissenschaftlichen Kritiker des Darwinismus, Oskar Hertwig, der zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts darauf hinwies, wie die Sprache eines wissenschaftlichen Mainstreams das Fühlen, Denken und Handeln der Menschen, die diesen "Zeitgeist" quasi mit der "gesellschaftlichen Luft" einatmen, schließlich dominieren kann: "Man glaube doch nicht, dass die menschliche Gesellschaft ein halbes Jahrhundert lang Redewendungen, wie unerbittlicher Kampf ums Dasein, Auslese des Passenden, des Nützlichen, des Zweckmäßigen, Vervollkommnung durch Zuchtwahl usw., in ihrer Übertragung auf die verschiedensten Gebiete wie tägliches Brot gebrauchen kann, ohne in der ganzen Richtung ihrer Ideenbildung tiefer und nachhaltiger beeinflusst zu werden! Der Nachweis für diese Behauptung würde sich nicht schwer aus vielen Erscheinungen der Neuzeit gewinnen lassen. Eben darum greift die Entscheidung über Wahrheit und Irrtum des Darwinismus auch weit über den Rahmen der biologischen Wissenschaften hinaus."

Michael Wunder schrieb in den Widersprüchen 71 in seinem Aufsatz "Bio-Medizin und Bio-Ethik", die Bio-Medizin habe als moderne Naturwissenschaft den Anspruch, "den Blick in die eigene Zukunft so zu richten, dass die in den wissenschaftlichen Utopien umrissenen Entwicklungen planbar und durch die Abwägung möglicher gesellschaftlicher und institutioneller Widerstände kalkulierbar werden. Die Gefahr solcher in die Zukunft gerichteter bio-technischer Abwägungsdiskurse könnte in der langsamen Desensibilisierung durch die ständige Wiederholung des zur Attitüde erstarrten Tabubruchs liegen. Was abgewogen wird, wird auch ein Stück Normalität."

Wenn es den in diesem Heft versammelten Beiträgen gelingt, für diese "Nebenwirkungen" der "Lust am Genetischen" zu sensibilisieren, hat die Arbeit an der Ausgabe 114 der Widersprüche sich gelohnt.

Die Redaktion

Literatur

Kappeler, Manfred (2008). Der Umgang mit den Opfern spiegelt die Haltung zu den Verbrechen der Täter - Die Exklusion der im NS-Staat zwangssterilisierten Menschen in der Bundesrepublik. In: Sessar, K. (2008) (Hg.). Herrschaft und Verbrechen - Kontrolle der Gesellschaft durch Kriminalisierung und Exklusion. Berlin

Key, Ellen (1905). Das Jahrhundert des Kindes. Berlin

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