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Heft 116: "Hast Du mal 'nen Markt?" - Wohlfahrtsverbände als Quasi-Marktakteure

2010 | Inhalt | Editorial | Abstracts

Titelseite Heft 116
  • Juni 2010
  • 136 Seiten
  • EUR 14,00 / SFr 21,90
  • ISBN 3-937461-67-0
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Zu diesem Heft

Die Sozialen Dienste sind am Markt angekommen. Das ist mittlerweile ein Allgemeinplatz. Wir sprechen aber von einem uneinheitlichen Vorgang. So lässt sich sagen, dass der seit Beginn der 90er Jahre sich vollziehende neoliberale gesellschaftliche Umbau und die dadurch hervorgebrachte hegemoniale Wirkung des Marktmodells die sozialen Dienstleistungsregime wie die großen Wohlfahrtsverbände und die in ihnen organisierten Träger mit gewaltiger Kraft ergriffen haben. Ein neoliberaler Markt kann das nach wie vor nicht sein, und das behautet auch niemand. Spätestens seit Einführung der Neuen Steuerung wird den Sozialen Diensten durch die Schaffung eines Quasi-Marktes und die Übernahme marktpreissimulierender Kosten-Nutzen - Kalküle bei der Bereitstellung ihrer Dienstleistungen ein betriebswirtschaftlicher Ordnungs- und Organisationsrahmen vorgegeben.

Doch ob Markt oder Quasi-Markt: die gravierenden Verschiebungen und Veränderungen sowohl hinsichtlich des bislang legitimierten gesellschaftlichen Status der Wohlfahrtsverbände als auch in bezug auf ihr gesamtes organisatorisches Handeln sind steter Gegenstand von Praxis und Betrachtung.

Fest scheint uns zu stehen: Aufgrund der hegemonialen Dominanz betriebswirtschaftlicher Prinzipien und der Logik der vermeintlich objektiven Marktzwänge wird die traditionelle soziale Integrationsleistung der Sozialen Dienste nun weniger benötigt - der Staat drängt die Freien Wohlfahrtsverbände und ihre Träger als sozialpolitische Gestalter zurück. Gleichzeitig erfolgt über den Quasi-Markt eine stärkere Ausrichtung der Verbände auf die Allokationseffizienz-Funktion - um den Preis des Überlebens müssen sie als Quasi-Marktakteure handeln.

Dabei gerät den Wohlfahrtsverbänden ihr eigentliches Thema der sozialpolitischen Gestaltungskraft mehr und mehr aus dem Blick:

Wenn immer mehr ihrer Organisationsbereiche sich wettbewerbsstrategisch verhalten, dann verschiebt sich ihr sozialpolitisches und advokatorisches Credo an den Rand und taugt allenfalls noch für eine moralisch aufgeladene Werbebotschaft. Gleichwohl insistieren die Wohlfahrtsverbände nach wie vor und gerade auch im Kontext der aktuellen Sozial-Spar-Programme auf ihrer traditionellen dreifachen Funktion als Dienstleister, als Anwälte und als Solidaritätsstifter Eine lautstarke und verbandsübergreifende Debatte darüber, ob dieses Selbstverständnis überhaupt erhalten bleiben kann und wie auf dem Hintergrund der sozialpolitischen Veränderungen eine Reformulierung geschehen könnte, findet jedoch (noch) nicht statt.

Das vorliegende Heft widmet sich dieser Debatte aus der Perspektive folgender Themenstränge: Zu einen gilt es, die Widersprüche zwischen dem Gestaltungsanspruch der Freien Wohlfahrtsverbände und der staatlicher Definitionsmacht zu benennen.

Zweitens sind der Prozess und die spezifische Ausgestaltung der Ökonomisierung des Sozialen in den vergangenen fünfzehn Jahren in den Blick zu nehmen.

Und drittens soll vor diesem Hintergrund eine Analyse wohlfahrtsverbandlichen Handelns und der darin enthaltenen Strategien des Sozialen: "Verteidigen, Kritisieren, Überwinden zugleich" versucht werden.

Hierfür bieten sich drei Themenfelder an:

Erstens das Feld des policy-making, in dem es darum geht, zugedachte bzw. selbstgesetzte Funktion und Aufgabenstellung der Wohlfahrtsverbände und deren traditionelles bzw. aktuelles Selbstverständnis resp. deren Lobbying in Beziehung zu bringen und ihren Stellenwert als sozialpolitische Akteure zu reflektieren.

Zweitens das Feld der Empirie, in dem die realen Reorganisationsprozesse von Trägern Sozialer Arbeit und die Parameter, innerhalb derer diese verlaufen, betrachtet werden, des weiteren die Frage erörtert wird, welche Neuordnungen des Sozialen hierbei entstehen können und welche Verhältnisse dabei für Professionelle und für Adressaten produziert werden.

Drittens das Feld der Theorie. Hier geht es um Denkversuche, die über pragmatische Arrangements und Neu-Justierungen der wohlfahrtsverbandlichen Politiken hinausreichen möchten, ohne jedoch dabei die Renaissance des klassischen Wohlfahrtsverbändemodells der 70er Jahre zu beschwören, sondern Perspektiven für ein ökonomisches und gesellschaftspolitisches Modell der Wohlfahrtsproduktion als "Daseinsvorsorge" resp. "Öffentlichem Gut" resp. als Neu-Zusammenfügung von Sozialwirtschaft und Sorgearbeit zu entwerfen versuchen.

Zu den Beiträgen im Einzelnen

Im ersten Komplex (policy-making) liegt der Schwerpunkt auf der Thematisierung des Kampfes, den die Wohlfahrtsverbände als Akteure unter quasi marktlichen Bedingungen um Statussicherung und Erhalt ihrer gesellschaftlichen Anerkennung führen.

Der Beitrag von Franz Segbers unterzieht die für die traditionelle Prägung der deutschen Wohlfahrtsverbändelandschaft charakteristischen Parameter der Subsidiarität und des Korporatismus einer kritischen Überprüfung hinsichtlich ihrer derzeitigen/künftigen Relevanz im neuen sozialstaatlichen Koordinatensystem. Exemplarisch hierfür werden Diakonie und Caritas betrachtet. Als Gegengift gegen eine "ethische Entkernung" wohlfahrtsverbandlichen Handelns reformuliert der Beitrag einige strategische Optionen zur Neuerfindung der Multifunktionalität der Wohlfahrtsverbände und empfiehlt, vom Schicksal der Gemeinwirtschaf und der Genossenschaftsbewegung zu lernen, die - um den Preis der Selbstauflösung ihrer Identität - dem Druck des Marktes immer mehr nachgegeben haben.

Da Wohlfahrtsregime in besonderer Weise durch ihre nationalstaatlichen Kontexte geprägt sind, ist es lohnend, die Eigentümlichkeiten der deutschen Wohlfahrtsverbändelandschaft mit Blick auf den europäischen Raum wahrzunehmen. Dies leistet der Beitrag von Kay Bourcade und Ernst-Ulrich Huster "Wohlfahrtsproduktion im dynamischen Wirtschaftsraum Europa", in dem der Frage nachgegangen wird, in welcher Weise Konzept und Praxis eines europäischen Wirtschaftsraumes auf Traditionen, Legitimationen und Existenzweisen der jeweiligen nationalen Wohlfahrtsorganisationen zugreifen. Vor allem die (teilweise) neuen Gemengelagen zwischen nach wie vor national gefärbten Wohlfahrtspolitiken und -organisationen einerseits und den Anforderungen an die europäischen Mitgliedstaaaten (z.B. einer Dienstleistungsrichtlinie) andererseits sind Gegenstand der Analyse. Insgesamt, so das Fazit der Autoren, kann die Neujustierung der nationalen Wohlfahrtsregime gelesen werden als eine Etappe im sich zuspitzenden Konflikt zwischen einer angebotsorientierten Stärkung des europäischen Wirtschaftsraumes und der Stabilisierung oder gar Verbesserung des sozialen Zusammenhalts in den Mitgliedsstaaten.

Der zweite Themenkomplex versammelt Beiträge zu unterschiedlichen Facetten der realen Reorganisationsprozesse der Wohfahrtsverbände und gibt exemplarische Einblicke in vorfindbare Praxen.

Zunächst untersucht der Beitrag von Jan Wulf-Schnabel die Schnittstelle zwischen Organisation und Person und fragt nach den Wirkungen zwischen dem strukturellen und organisatorischen Umbau von Verbänden und ihren Trägern und den Arbeitszusammenhängen, Handlungsweisen und -interpretaionen der Beschäftigten. Expliziert wird dies am Beispiel eines Landesverbandes der AWO mit einem spezifischem Blick auf die Auswirkungen auf das Geschlechterverhältnis.

Anschließend gibt der Beitrag von Hartmut Brombach Einblicke in Selbstverständnis und innere Beschaffenheit der in den Wohlfahrtsverbänden organisierten Freien Träger als relevanten Akteuren sozialer Praxis. Er thematisiert die Implementierung einiger der neuen Steuerungstechnologien, gewissermaßen als Reaktionen auf die/ als Resultate der quasi-marktlichen Realität , fragt nach den Konsequenzen für die Beschäftigten und plädiert dem gegenüber für solche Veränderungen in Organisations- und Rechtsformen der Freien Träger, die weitgehende Partizipationsmöglichkeiten der Mitarbeitenden eröffnen können.

Den Abschluss dieses zweiten Themenkomplexes bildet der Beitrag von Karl-Heinz Boeßenecker, der in seinem Beitrag die Aussage trifft, dass eine im Korsett pädagogischer und psychologischer Referenzen verbleibende Sozialarbeitswissenschaft mit der derzeitigen Entwicklung in der Sozialwirtschaft überfordert ist und an ihre Grenzen stößt, wenn sie sich auf eine abseits volkswirtschaftlicher Optionen verengte Betriebswirtschaftslehre versteift und ihre Legitimation ausschließlich an Refinanzierungs- und Profitpotential bindet. Seiner Ansicht nach sind konvergente Handlungs- und Qualifizierungskonzepte gefragt, die die Aufgaben von Leiten, Organisieren, Entwickeln, Gestalten und Beteiligen nicht auf ein sozialtechnokratisches Management verengen. Vielmehr gehe es um die sozialpolitische Weiterentwicklung der Gesellschaft und die Durchsetzung strukturell neuer, den Bedarfslagen von Menschen angemessenen Dienstleistungen und Unterstützungsformen.

Der dritte Komplex beinhaltet Perspektiven für ökonomisch und gesellschaftspolitisch Vergesellschaftungsmodelle organisierter Wohlfahrt. Ingo Bode nimmt die zivilgesellschaftlichen Funktionen der Wohlfahrtspflege in den Blick. Er argumentiert, dass der Wandel vom organisierten zum disorganisierten Wohlfahrtskapitalismus die Wohlfahrtsverbände als "Infrastrukturagenturen" unter Vermarktlichungs­druck setzt, diese sich neue sozialwirtschaftliche Organisationsmodelle schaffen, die dann ihre gesellschaftliche Einbettung verändern. Zwar finden sich bestehende und auch neue Formen zivilgesellschaftlicher Praxis, aber die Substanz der originär-advokatorischen Funktion geht verloren, wenn zugleich marktopportunistisches Verhalten an den Tag gelegt wird.

Ulrike Knoblochs Beitrag baut eine theoretische Brücke von der gewachsenen Bedeutung der Freien Wohlfahrtspflege zum Konzept einer Sorgeökonomie. Mit der begrifflichen Erweiterung von Ökonomie und Arbeit und den Prämissen 'Autonomie und Unabhängigkeit als Spezialfall' sowie 'Abhängigkeit als Normalfall' umreißt sie ein Handlungsmodell für die Sozialwirtschaft, mit dem die Asymmetrien in den Tausch- und Geschlechterverhältnissen und die Vermarktlichungs- und Entmarktlichungsprozesse berücksichtigt werden. Sie plädiert dafür, dass die Sozialwirtschaft ihre Funktion als gesellschaftliches und wirtschaftliches Bindeglied zwischen den Sektoren Markt, Staat und den privaten Haushalten stärkt.

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