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Heft 116: "Hast Du mal 'nen Markt?" - Wohlfahrtsverbände als Quasi-Marktakteure

2010 | Inhalt | Editorial | Abstracts

Titelseite Heft 116
  • Juni 2010
  • 136 Seiten
  • EUR 14,00 / SFr 21,90
  • ISBN 3-937461-67-0
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Franz Segbers
Wohlfahrtsverbände im Wettbewerbsstaat

In diesem Beitrag vertrete ich die Position, dass die Parole "mehr Markt" tatsächlich "mehr Staat" zur Folge hat. Jedoch verschleiert die Marktförmigkeit des Wettbewerbs die gestärkte staatliche Steuerungsmacht mit scheinbaren Marktprozessen - und mit dieser Verschleierung verschwindet zugleich die politische Verantwortung der Freien Wohlfahrtsverbände. Aus der Gestaltungsfreiheit der Subsidiarität wird so ein Unterordnungsverhältnis unter einen starken Staat. Es formt sich eine Konfliktdynamik zwischen einer Gemeinwohl - oder Bedarfsorientierung einerseits und einer Gewinnorientierung in der sozialen Dienstleistungsproduktion andererseits. Die Wohlfahrtsverbände können langfristig aber nur überleben, wenn sie sich dagegen stellen, indem sie politische Verantwortung für die Gestaltung des Wettbewerbs wie für die Gesellschaft insgesamt wahrnehmen. Darum müssen sich die Wohlfahrtsverbände als Bewegungsorganisationen begreifen und dürfen sich nicht auf die politisch zuerkannte Rolle eines Anbieters sozialer Dienstleistungen verengen lassen.

Kay Bourcarde, Ernst-Ulrich Huster
Wohlfahrtsproduktion im dynamischen Wirtschaftsraum Europas

Die Ökonomisierung der sozialen Dienste hat die frühere Vorrangstellung der Träger der freien Wohlfahrtspflege eingeschränkt und eine Wettbewerbssituation zwischen gemeinnützigen wie gewinnorientierten Anbietern geschaffen. Eingeleitet wurde diese Entwicklung von den nationalen Gesetzgebern selbst, das europäische Gemeinschaftsrecht - zuletzt vor allem in Gestalt der umstrittenen Dienstleistungsrichtlinie - wirkt hier lediglich flankierend. Sinn und Zweck der Vermarktlichung sozialer Dienste ist auch bei den Wohlfahrtsverbänden umstritten. Fragwürdig ist die Entwicklung spätestens dann, wenn es nicht mehr darum geht, effizientere und effektivere Strukturen zu schaffen, sondern lediglich die Staatshaushalte auf Kosten der Qualität sozialer Dienste zu sanieren. Dies gilt insbesondere dann, wenn eine Ökonomisierung auch der Leistungsempfänger erfolgt: Betroffenen, die keine eigenen Mittel aufbringen können, wird künftig möglicherweise nur noch eine Grundversorgung gewährt, wohingegen zahlungskräftige Nachfrager höherwertige Leistungen kaufen können. Damit aber schlägt sich die im Bereich Einkommen und Soziale Sicherung bereits deutlich abzeichnende soziale Polarisierung nun auch verstärkt in gerade dem Sektor nieder, der eigentlich negative soziale Folgen von Marktprozessen auffangen soll. Die Ökonomisierungsdebatte darf daher nicht verdecken, dass es sich hierbei zugleich um eine Facette in der Diskussion um die Verteilung in unserer Gesellschaft bzw. in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union handelt.

Jan Wulf-Schnabel
Anpassung, Widerspruch und Widerstand
Zum Antagonismus von Konkurrenz und Solidarität bei der Arbeiterwohlfahrt

In der Auseinandersetzung mit der Transformation des Sozialen geraten die Beschäftigungsbedingungen der Professionellen bei den Trägern der Freien Wohlfahrtspflege zunehmend in den Blick. Hierzu liefert der Beitrag Erkenntnisse aus einer aktuellen Studie zur Arbeiterwohlfahrt. Er behandelt die Frage, welches Managementregime mit dem Wandel vom Verband zum Unternehmen hervortritt, wie Reorganisationsprozesse das Produktions- und Geschlechterverhältnis tangieren und typische Subjektivierungsweisen Sozialer Arbeit berühren.

Hartmut Brombach
"...und alle machen mit"
Freie Träger im Dilemma zwischen neoliberalem Markt und bürokratischer Zuwendungspraxis

Gegenstand dieses Beitrags sind nicht nur die mit der Bezeichnung "Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege" gemeinten Verbände, sondern Freie Träger in der Sozialarbeit sowie der Kinder- und Jugendhilfe im Allgemeinen. Dabei soll den Fragen nachgegangen werden, wie sich die seit den 90er Jahren immer stärker durchgesetzte Praxis der Ökonomisierung in der sozialen Arbeit auf das Selbstverständnis der Freien Träger, ihr Innenleben und ihr politisches Agieren auswirkt. Der Beitrag erhebt nicht den Anspruch, alle Aspekte dieser Fragen zu beleuchten oder einer wissenschaftlichen Analyse. Er ist aus der Perspektive eines Verbandsmitarbeiters und -mitglieds geschrieben, der die Entwicklung bei verschiedenen Organisationen seit fast 20 Jahren aus der Perspektive der Zentralen miterlebt hat und sich ihnen in kritischer Solidarität verbunden fühlt.

Karl-Heinz Boßenecker
Professionalisierung in der Sozialwirtschaft
Entwicklungen, Herausforderungen und Perspektiven für den akademischen Bildungsauftrag

Zur Einstimmung drei Beispiele: "Die Diakonie Neuendettelsau, mit 6.300 Mitarbeitenden eines der größten Sozial- und Gesundheitsunternehmen in Deutschland, hat ein Forschungsinstitut gegründet, das den Einsatz innovativer Technologien im Sozial- und Gesundheitsbereich in der Praxis erforscht sowie ethisch und wirtschaftlich bewertet. Das Forschungsinstitut wird Teil einer im Aufbau befindlichen Universität. [...] ". Zweites Beispiel: "Theologie und Ökonomie. Ein Beitrag zu einem diakonierelevanten Diskurs". Drittes Beispiel: "Erfolgreich aus der Krise - zukunftsfähige Konzepte im Management mit Controlling". Das erste Beispiel ist ein Textauszug aus einer überregional geschalteten Stellenausschreibung (Die Zeit Nr. 41: 2009), das zweite ist der Titel einer 2006 publizierten Habilitationsschrift (Haas 2006), der dritte Beleg ist das Rahmenthema des 11. DGCS Congress 2010 (www.dgcs.de/veranstaltungen/congress/congress-text.htm 2010). Die Überschriften sind herausgegriffen aus unzähligen Headlines und Stichworten zu neueren Entwicklungen im Sozialsektor, der sich immer deutlicher abhebt und abgrenzt von einem vormaligen Verständnis scheinbar selbstloser Hilfeleistung. Die Beispiele markieren zudem einen Paradigmenwechsel im Professionalisierungsprozess sozialer Arbeit, der im akademischen Diskurs in weiten Bereichen noch immer nur zögerlich angenommen wird. Was ist geschehen? Denn Konzepte zur Organisation und Steuerung sozialer Einrichtungen, präferierte ordnungspolitische Optionen bei der Ausgestaltung und Implementierung von sozialer Infrastruktur, die hierfür als relevant angesehenen Professionen, Fertigkeiten und Fähigkeiten sind ja keineswegs neu. Nur beispielhaft erinnere ich mit dem Stichwort "Ambulatorium" an ein während der Weimarer Republik praktiziertes und heftig bekämpftes sozialpolitisches Konzept der öffentlichen Gesundheitsversorgung , das zu seiner Realisierung ein spezifisches meso- und mikrostrukturelles Setting sowie die Vernetzung unterschiedlicher Professionen erforderte (WSI 1981). Und mit dem 1955 (sic!) erstmals erschienenen und 35 Jahre später überarbeiteten "Leitfaden zur wirtschaftlichen Führung diakonischer Einrichtungen und Werke" (Diakonisches Werk der EKG 1993) will ich auf ein ebenfalls schon älteres Konzept verweisen, mit dem jeweiligen Anforderungen einer wirtschaftlichen Steuerung einerseits und sozialen Hilfeleistung andererseits gleichermaßen entsprochen werden sollte.

Ingo Bode
Bye-bye Zivilgesellschaft?
Organisierte Wohlfahrtspflege im disorganisierten Wohlfahrtskapitalismus

Geht es heute um die "soziale Frage", liegt der Ruf nach der Zivilgesellschaft nicht fern. Konfrontiert mit Desintegrationstendenzen im Gemeinwesen, verweisen tonangebende gesellschaftliche Kreise regelmäßig auf die (Selbst-)Heilungskräfte des vorstaatlichen Raums bzw. die Potenziale des sog. zivilgesellschaftlichen Engagements. Dort wo der - ansonsten hoch gepriesene - Markt nicht weiterhilft, sollen es die Bürger selbst richten, gewissermaßen nach Feierabend. Wie es scheint, haben die Finanzmarktkrise und die damit einhergehende Renaissance interventionsstaatlicher Programme diesem Diskurs wenig anhaben können - vielmehr lautet das Motto bei Staat und Kommunen, angesichts tief klaffender Haushaltslöcher, gerade heute: "Aus der Not in die Tugend" (des Bürgerengagements) (Die ZEIT 1.7.2010). Aber worum geht es eigentlich, wenn in diesem Kontext von Zivilgesellschaft gesprochen wird?

Peter Hoerz, Michael May
Marginalisierte Männlichkeit von Jugendlichen mit nicht rein heterosexuellen Orientierungen

Samstagnachmittag, bei Starbucks in der Zürcher Bahnhofstraße: Der mit Hilfe der Schweizer Internetplattform Purplemoon rekrutierte Marco (23), der in einer Touristengegend eine Ausbildung im Gastgewerbe absolviert gibt bei laufender Tonaufzeichnung Auskunft über sein Coming Out und über seine Erfahrungen als junger Schwuler in Familie, Schule, Ausbildung und Freundeskreis: Ausgehend von der Frage, nach den frühesten Erinnerungen, die im Zusammenhang mit seiner gleichgeschlechtlichen sexuellen Orientierung stehen, berichtet Marco über die inneren Konflikte auf dem Weg seines Coming Out, über die Reaktionen von Mutter, Vater und Stiefvater, über erste über das Internet geknüpfte Kontakte und gelangt schließlich - ungefragt - zu jenen Erfahrungen, die man unter dem Begriff der "Diskriminierung" subsumieren könnte. Solche Diskriminierungserfahrungen hat Marco zur Genüge gemacht - etwa im Kontext seiner früheren Schule, in der er geoutet wurde, weil er von Mitschülern, die nur vorgeblich "schwul" im Internet unterwegs waren, erkannt worden ist oder im Rahmen seiner Ausbildung, wo es erst kurz vor dem Interviewtermin zu Beleidigungen gekommen ist. Kommt es zu solchen verbalen Angriffen, so geht Marco verbal schnell in die Offensive, denn wie er selbst sagt: "Man lernt, sich zu wehren". Eine offensive Form der Verteidigung, die - wie im Falle der Diskriminierungserfahrungen am Ausbildungsplatz auf den Instanzenweg geführt hat, die aber in anderen Fällen durchaus auch schon die Androhung von Gewalt - "Pass' auf, was du sagst, sonst trete ich dir in deinen jungfräulichen Arsch" - führen kann...

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