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Heft 118: "Knochenbrüche, Z'ammenbrüche, Bibelsprüche,..." Gewalt und Fremdbestimmung in Vergangenheit und Gegenwart Sozialer Arbeit

2010 | Inhalt | Editorial

  • Dezember 2010
  • 102 Seiten
  • EUR 14,00 / SFr 21,90
  • ISBN 3-937461-694
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Zu diesem Heft

Seit den Anfängen einer sich als kritische Wissenschaft konstituierenden Sozialen Arbeit zu Beginn der 1970er Jahre galt ihre Aufmerksamkeit im Sinne einer Selbstaufklärung ganz wesentlich der Analyse ihrer eigenen "Funktion" in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Entsprechend bestand ihre Aufgabe darin, die politischen Spielräume in der Sozialen Arbeit als Teil des "Staatsapparates" zu untersuchen um die als notwendig erachteten gesellschaftlichen Veränderungen - seien sie nun revolutionärer oder reformorientierter Art - in den Institutionen des Staates selbst zu erreichen - um auf diese Weise ihren Teil zur Transformation der kapitalistischen Gesellschaft insgesamt beizutragen. Lagen zuvor die Foki der Transformationsansätze wesentlich im Produktionsbereich, so wurde im fordistischen Wohlfahrtsstaat des "Modells Deutschland" erkennbar, daß der "Reproduktionsbereich" - nicht zuletzt wegen seiner den Klassenkonflikt moderierenden, befriedenden und damit systemstabilisierenden Rolle - in strategischer Hinsicht systematisch nicht im Sinne eines Ableitungsverhältnisses, sondern im Kontext der Produktion von Hegemonie als Übereinstimmung der Beherrschten mit dem herrschenden Block an der Macht - neu bewertet werden mußte. Zudem schienen die Potentiale, im Sozialbereich politisch etwas bewegen zu können, nicht gering. Wie kaum ein zweiter Bereich des Reproduktionssektors expandierten die Sozialen Dienste seinerzeit erheblich und waren ein zentrales Rekrutierungsfeld für die Absolventinnen und Absolventen der neuen fachhochschulischen und universitären Studiengänge der Sozialarbeit/Sozialpädagogik.

Entsprechend der unterschiedlichen Grundausrichtungen in der Analyse des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft und ihrer politischen Transformation wurden verschiedene Analysen der Sozialen Arbeit in der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft vorgelegt. Trotz aller Differenzen waren sie sich im Kern einig darin, dass Soziale Arbeit einen Beitrag leistet zur Reproduktion kapitalistischer Herrschaftsverhältnisse, indem sie mit ihren Interventionen auf seiten der Unterprivilegierten den Klassenkonflikt abmildert und verdeckt. Unterschieden haben sich die verschiedenen Analysen vor allem in der Frage, in wie weit die Funktion Sozialer Arbeit ausschließlich hierauf beschränkt sei. Wurde zunächst darauf verwiesen, daß "Sozialarbeit für die Reproduktion der Ware Arbeitskraft" zu sorgen habe (Hollstein 1973) und eine "spezifische Strategie der staatlichen Sicherstellung der Lohnarbeiterexistenz" (Müller/Otto 1980) darstelle, so griffen kurz darauf Analysen Platz, die auf den spezifisch widersprüchlichen Charakter Sozialer Arbeit abstellten und das "doppelte Mandat" (Böhnisch/Lösch 1976), nämlich Hilfe und Kontrolle, resp. Hilfe und Herrschaft, stets zugleich zu sein, hervorhoben. In dem Widerspruch beider Komponenten, in ihrer eigentümlichen Amalgamierung, wird seither die konstitutive Kernstruktur Sozialer Arbeit in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsformation gesehen. In ihrem Rahmen ist Hilfe stets untrennbar verbunden mit Herrschaft. Jede Form der Unterstützung ist mit "normalisierenden" Anteilen durchsetzt. "Integration", die Leitformel der Sozialen Arbeit in den 1970er und 1980er Jahren beispielsweise wurde so stets als Integration in die Lohnarbeit und die damit verbundenen Regime des Normalarbeitsverhältnisses dechiffriert - eben als "Hilfe", seine Arbeitskraft auf den Arbeitsmarkt zu verkaufen und damit sein Arbeitsvermögen nach Maßgabe eines anderen anwenden zu lassen. Eine gewisse Zeit lang schien es, als würde im Zuge der strukturellen Massenarbeitslosigkeit und der Unmöglichkeit der Integration in Lohnarbeit auch der Normalisierungsdruck in die Lohnarbeit und damit der herrschaftlich-normierende Anteil der Sozialen Arbeit sich relativieren lassen - insbesondere auch mit Kontext eines garantierten Mindesteinkommens, das den unbedingten Zwang in die Lohnarbeit aufzulösen in der Lage gewesen wäre. Spätestens jedoch seit der Phase der neoliberalen Wende der Sozialdemokratie in der Sozialpolitik, gemeinhin als "Agenda 2010" bekannt geworden, zeigte sich das Illusionäre dieser Überlegung. "Fördern und Fordern", mit dieser Parole wurde de Reorientierung auf Arbeit um jeden Preis signalisiert - auch wenn der Arbeit in 1€-Jobs bis auf die Äußerlichkeiten der Simulation von Lohnarbeit alle diese ausmachenden Merkmale fehlen.

Geht man davon aus, daß Hilfe und Herrschaft die widersprüchliche Kernstruktur Sozialer Arbeit bilden, dann ist es möglich, das analytische Potential dieser Konzeptualisierung für die Aufschlüsselung der vorfindlichen Realität sozialer Arbeit zu nutzen. So kann dann etwa nach den jeweiligen proportionalen Anteilen von Hilfe und Herrschaft in konkreten Feldern der Sozialen Arbeit gefragt werden. Oder aber es kann in historischer Perspektive die Aufmerksamkeit darauf gerichtet werden, unter welchen Bedingungen sich die jeweiligen Proportionen etwa in die eine oder die andere Richtung verschoben haben, ob es also - was die Geschichte der Sozialen Arbeit angeht - eine Reduzierung der herrschaftlichen Anteile bei Steigerung des unterstützenden Moments gegeben haben könnte - oder auch das Gegenteil.

Ganz gleich auf welcher Ebene wir das Diktum von Hilfe und Herrschaft betrachten: Stets wird davon ausgegangen, daß beide Komponenten dieser widersprüchlichen Einheit - in welchem Mischungsverhältnis auch immer - gegeben sind. So kritisch-analytisch diese Perspektive auch ist, so ist es gleichwohl möglich, daß der Blick darauf verstellt wird, daß durchaus Verhältnisse in der Sozialen Arbeit anzutreffen sind, in denen die Widersprüchlichkeit der Kernstruktur - und damit ihr dynamisches Potential - stillgestellt ist, daß also Herrschaft und Kontrolle ganz abseits von Hilfe und Unterstützung bestehen können, daß Normierung und Disziplinierung für sich zur Realgestalt Sozialer Arbeit werden.

Zu den Beiträgen im einzelnen

Schlagend deutlich wird dieser Sachverhalt in den jüngsten Auseinandersetzungen um die Situation derjenigen, die unter der (geschlossenen) Heimunterbringung, die ohne große Veränderungen bis in die 1970er Jahre existierte, gelitten haben und bis heute leiden. Soziale Arbeit ist hier - so zeigt es sich in der Perspektive derjenigen, die zum Objekt ihrer "Behandlung" wurden - nur noch in der Dimension der Schädigung zu fassen. Hilfe, Unterstützung, Assistenz: das alles gibt es hier nicht. Die Dialektik von Hilfe und Herrschaft ist vollständig eliminiert - was bleibt, sind von Gewalt und Herrschaft traumatisierte Menschen.

Dieser von Disziplinierung und Bestrafung, Mißbrauch und Entwürdigung geprägten Verhältnissen lagen und liegen Sicht und Denkweisen zugrunde, die als strukturelle Formen der Gewalt tief in die Denkformen der Sozialen Arbeit eingelassen sind und unter bestimmten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen - insbesondere der anstaltsförmigen Verwahrung - in manifeste, handgreifliche Gewalt umschlagen (können). Der anonyme, autobiographische Bericht einer Anonyma, die sich der Gruppe Ehemaliger Heimkinder in Berlin angeschlossen hat und die mit autobiographischen Erinnerungen belegten Beiträge von Manfred Kappeler und Thomas Swiderek verdeutlichen auf bedrückende Weise, wie einerseits Soziale Arbeit Menschen nachhaltig in ihrer Subjektivität schädigt und darüber hinaus, daß es sich um eine verbreitete Praxis in der Sozialen Arbeit gehandelt hat. Die Praxen der Sozialen Arbeit, der in ihren Einrichtungen Tätigen, die unter konkreten Umständen sich in Schädigung und Gewalt manifestieren, sind Denkformen und Kategorisierungen geschuldet, denen diese Gewalt latent inhärent ist. Es ist dies vor allem die zur Grundausstattung der Sozialarbeit gehörende Tätigkeit der Klassifizierung anhand von Kriterien, mittels derer ein bestimmtes Verhalten als "Abweichung" von "Normalität" definiert und damit die sozialarbeiterische "Intervention" legitimiert wird. Normalität als zentraler funtionaler Bezugspunkt von Sozialer Arbeit als "Normalisierungsarbeit" (Olk) ist seit den frühen Tagen ihrer professionalisierten und institutionalisierten Entwicklung auf die bürgerlichen Formen der Lebensführung fixiert. Sie bildet damit die Grundlage für eine Diagnostik, deren Grundoperation die des Unterscheidens von "normal" und "abweichend" ist. Zugleich werden auf dieser Basis Theorien und Methoden entwickelt, die Normalisierung handlungspraktisch zur Geltung bringen wollen. Rita Braches-Chyrek zeigt in Ihrem Beitrag, wie bereits in der Frühzeit der Professionalisierung, d.h. in der frühen Phase ihrer Institutionalisierung in den Vereinigten Staaten diese Praxis des Unterscheidens und Klassifizierens die Basis abgibt für höchst individualisierende und disziplinierende Interventionen, aus denen sich das (bürgerliche) Selbstbewußtsein der Profession speist. Hier geht es neben der äußerlichen Disziplinierung vor allem aber um die Verinnerlichung des Zwangs, den Zwangs zum Selbstzwang. Daß nun die Adressaten Sozialer Arbeit diesen Prozessen nicht einfach passiv ausgesetzt sind, sondern die von den Professionellen eingesetzten Kategorisierungen im Rahmen interaktiver Fallarbeit beteiligt sind, zeigt der Beitrag von Bernd Dollinger und Henning Schmidt-Semisch. Dabei verweisen sie auf Leitproblematisierungen, die kulturell übergreifend sowohl von Professionellen wie auch von Adressaten geteilt werden und als Vermittlungsglied zwischen der "Besonderheit des Falles" und der "Generalität der Bezugsnorm" (Offe) fungieren. Diese Leitproblematisierungen konstruieren und reproduzieren Problemsichten als soziale Wirklichkeit in einer Weise, an der beide Akteure praktisch beteiligt sind. Hegemonie wird so zu einem höchst subtilen Resultat eigener Praxis.

Die Redaktion

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