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Heft 10: Qualifikation – Lernen und Arbeiten... wofür?

1984 | Inhalt | Editorial | Leseprobe

Titelseite Heft 10
  • Februar 1984
  • 120 Seiten
  • EUR 7,00 / SFr 13,10
  • ISBN 3-88534-028-3

Dirk H. Axmacher

Politische Ökonomie des Ausbildungssektors
Schicksal und Erbe einer Theorie

1. Politische Ökonomie des Ausbildungssektors - 1984

Wenn die westdeutsche Bildungssoziologie heute, angesichts sich zuspitzender Krisen und Abgrenzungen im Bildungsbereich, dem Wandel der Sozialisationsbedingungen, ihrer Institutionen und deren Erforschung in den letzten ein, zwei Dekaden nachgeht, dann sollte dies Gelegenheit bieten, neben den Erfolgen auch die abgebrochenen, liegengelassenen und vergessenen Ansätze zu bilanzieren, die allen und niemandem gehören und die als Abraum bei der Förderung der modernen Bildungssoziologie der Gegenwart den Weg auf die Halde genommen haben. Zu diesen von der Wissenschaftsentwicklung ausgegrenzten Ansätzen gehört gewiß jene Theorie, die Anfang der 70er Jahre, im Ausgang der Studentenbewegung, unter der Bezeichnung "Politische Ökonomie des Ausbildungssektors" eine breite Resonanz gefunden hat. Ihre Bibliothek füllt nicht mehr als zwei Handspannen im Bücherregal; von Ausnahmen abgesehen sind die Texte in der ersten Hälfte der 70er Jahre erschienen. So wenig sich die Politische Ökonomie des Ausbildungssektors aus einer direkten Ahnenreihe heraus entwickelt hat, so schnell trat sie Mitte der 70er Jahre wieder von der Bühne ab. Zwar hat es in der Folgezeit nicht an Versuchen gefehlt, aus einer sorgfältigen Theoriekonstruktion die Schwachstellen des Ansatzes zu bestimmen und ihn über deren Überwindung weiterzuentwickeln (hier sind vor allem die Arbeiten von Egon Becker 1976 und Becker/Wagner 1977 zu nennen); aber sie sind vereinzelt geblieben, haben keine neue Virulenz entfaltet und das Bild von einem abrupten Abbruch der Arbeiten nicht korrigieren können. Die Politische Ökonomie des Ausbildungssektors widerspricht damit allen gängigen Annahmen über den Konjunkturverlauf von Theoriegeschichte (Aufstieg - Boom - Rezeption/Verbreitung). Sie kam als Theorie-Boom zur Welt und verbreitete sich in ihren wichtigsten Argumentationsstücken rasch bis in die Schulen und Provinzen hinein, ohne daß heute ein nennenswerter Niederschlag in der bildungswissenschaftlichen Diskussion festzustellen wäre.

Ich will im folgenden versuchen, dieser Beobachtung ein Stück weit nachzugehen, und zwar über die Klärung einiger interner Probleme der Theorie und ihres empirischen Wirkungszusammenhangs, mit dem sie sich ab der Mitte der 70er Jahre konfrontiert sah. Es spricht dabei vieles für die Vermutung, daß die Politische Ökonomie des Ausbildungssektors ihre aus der Konkurrenz zu anderen sozialwissenschaftlichen Erklärungsansätzen (vornehmlich funktionalistischer Provenienz) resultierende Interpretation und Verwendung als unmittelbar empirisch gehaltvolle Theorie nur um den Preis ihres Identitätsverlustes als Kritik der bürgerlichen politischen Ökonomie überstanden, sich damit aber zugleich überflüssig gemacht hat. Diese Ausführungen bilden die Hauptlinie des Beitrages. Er würde sich allerdings einem szientifischen Mißverständnis aussetzen, wenn er allein die Botschaft enthielte, daß die Politische Ökonomie des Ausbildungssektors an innerwissenschaftlichen Problemkonstellationen gescheitert sei. Ich meine vielmehr, daß ausserwissenschaftliche, politische Ursachen eine gar nicht zu unterschätzende Rolle in diesem Prozeß gespielt haben; dabei denke ich vor allem an zwei:

Die Politische Ökonomie des Ausbildungssektors war wie die Wiederaneignung der marxistischen Theorie in der Bundesrepublik in linken intellektuellen und universitären Zirkeln insgesamt ohne die sozialen Bewegungen, für die hier der Abkürzung halber die Studentenbewegung steht, nicht zu denken. Das Schwinden der Diskurspotentiale, die die Studentenbewegung als sozialer Resonanzboden dieser Theorie noch mit auf den Weg gegeben hatte, und die in den ersten Jahren des vergangenen Jahrzehnts wie Schnee in der Sonne dahingeschmolzen waren, hat der Politischen Ökonomie des Ausbildungssektors (wie der Auseinandersetzung mit dem Marxismus als Wissenschaft im allgemeinen) ihr sozialstrukturelles Substrat entzogen; allein der Vorstellung, heutigen Studentengenerationen, losgelöst von jenem sozialen Kontext (der für sie ziemlich unbekannte Geschichte ist), diese Theorieansätze zu vermitteln, haftet etwas Unwirkliches an.

In enger Verbindung mit diesem Ursachenkomplex steht ein zweiter, nämlich die fortschreitende Professionalisierung der Exponenten einer marxistischen Bildungswissenschaft unter dem Eindruck der Reetablierung des politischen Herrschaftsgefüges in der Bundesrepublik, dem Wiedererstarken konservativer, antimarxistischer und antisozialistischer Kräfte an den Universitäten und in der Wissenschaftspolitik. Boten vornehmlich die sog. Reformuniversitäten Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre ein Bild gemäßigter Liberalität, die die Berufung solcher Nachwuchswissenschaftler in beschränktem Umfang erlaubte, die sich mit marxistischen Arbeiten qualifiziert hatten, dann schlug spätestens ab 1975 die doppelte Klappe von Radikalenerlaß und Unwissenschaftlichkeitsverdikt zu. Von da an war es inopportun, sich mit polit-ökonomischen Schriften dem Selektions- und Kooptationsverfahren an Hochschulen um eine Personalstelle, gar um eine Lebenszeitstelle oder Professur, zu stellen. Für diejenigen, die "drinnen", mehr aber noch für die, die "draußen" waren, verstärkten sich die Zwänge, wissenschaftliche Reputation und Karrierechancen über eine säuberliche Sezierung von Wissenschaft und Politik, über eine Scheidung nach empirisch überprüfbaren Theorien und "Gesellschaftstheorie", die diesem Anspruch nicht genügte (= Historizismus, Philosophie, Metaphysik usw.), zu erwerben. Es gehört zu den nicht aufgearbeiteten Kapiteln der Wissenschaftsgeschichte der letzten Dekade, den Prozeß der Transformation von kritischem Marxismus in positive Wissenschaft durch die "berufenen Marxisten" selbst zu durchleuchten. Die vorherrschende Verdrängung dieser Tradition, ihre Abkapselung und Stilisierung zur Jugendsünde aus der Kinderstube, den wilden Tagen der Wissenschaftlerbiographie, hinterläßt nicht nur wissenschaftliche Torsi, sondern auch Spuren in unserer Identität.

2. Was heißt Politische Ökonomie des Ausbildungssektors?

In der marxistischen Theorietradition steht der Begriff Politische Ökonomie für den Anspruch, einen Gegenstand aus der "Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft", aus den fundamentalen Strukturen ihrer Vergesellschaftung, d. h. aus der Struktur der Produktionsverhältnisse und der Produktivkräfte heraus zu erklären und ihn als Ausdruck einer historischen Gesellschaftsformation wie in seiner spezifischen Funktion in ihr zu begreifen. Die Gegenstandsbestimmung "Ausbildungssektor", eine nachklassische Formulierung, hebt die Analogie zum Produktionssektor hervor; daß es sich nämlich bei Ausbildung um Warenproduktion, um die Produktion der Ware Arbeitskraft handele. Insofern die Kritik der Politischen Ökonomie in ihrer von Marx entwickelten Gestalt die gesetzmäßigen, durch das Wertgesetz regulierten Zusammenhänge von Produktion, Zirkulation und Distribution freilegt, also die klassische ökonomische Tradition der Entstehung, des Austauschs und der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums aufnimmt, macht es einen Sinn, von Politischer Ökonomie des Ausbildungssektors zu sprechen. Ausbildung wird in dieser Perspektive - darüber herrscht in allen Varianten der Theoriekonstruktion Übereinstimmung - als Moment im gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß gefaßt, dessen bewegendes Subjekt das Kapital als die dominierende gesellschaftliche Beziehung zwischen der Produzenten ist. Die in der Politischen Ökonomie eröffnete Totalitätsperspektive (Kosik 1967) löst damit prima facie ein Problem auf, das sich in der Tradition bürgerlicher Pädagogik als "Autonomie"-problem bzw. -postulat gestellt hatte, zugunsten einer nach Form und Funktion bestimmten Subsumtion von Ausbildung unter die Gesetzmäßigkeiten der Kapitalverwertung.

Die daraus i. S. einer "theoretischen Rekonstruktion" abgeleiteten näheren Bestimmungen finden sich in der am weitesten rezipierten Schrift, den von Altvater und Huisken verfaßten "Programmatischen Aspekten einer Politischen Ökonomie des Ausbildungssektors". Insofern alle mir bekannten weiteren Schriften sich implizit, meist explizit auf diese kurzen Darlegungen stützen, scheint es gerechtfertigt, aus ihnen die authentische Gestalt dieser Theoriefigur zu rekonstruieren. Bei allen von den Autoren selbst geäußerten Vorbehalten werden zwei folgenreiche Weichenstellungen in gegenstandskonstitutiver und methodologischer Hinsicht vorgenommen. Zur Konstituierung des Gegenstandes "Ausbildung" im gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß führen Altvater/Huisken aus:

"Die Ausbildung als Vorbereitung des Arbeitsvermögens . . . impliziert bereits, daß der Ausbildungsprozeß selbst keinen Eigenwert besitzt, sondern nur eine spezielle Phase in der Herausbildung des Arbeitsvermögens darstellt, das dazu befähigt werden soll, sich als Ware Arbeitskraft auf dem Markt gegen Lohn auszutauschen, um dem Kapital seinen qualifizierten Gebrauchswert zu liefern. ... So zeigt sich, daß die Ausbildungsprozesse nicht als selbständige, lediglich politisch bestimmte begriffen werden können, sondern nur als Momente im Zirkulationsprozeß des Kapitals selbst" (Altvater/Huisken 1971, XIX; XXIf)

In Fortführung dieser Position schreiben die Autoren dann zur Methode der Analyse des Ausbildungssektors:

"Die Kategorien, mit denen eine solche Analyse zu leisten sein wird, können nur diejenigen sein, mit denen auch der gesellschaftliche Reproduktionsprozeß zu analysieren ist; die theoretischen Ansätze zur Erfassung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses können entsprechend auf den Ausbildungsprozeß angewandt werden . . . Es gilt demnach, . . . das Allgemeine des Kapitalverhältnisses in seiner Relevanz für Ausbildung und Berufspraxis sowie für staatliche Bildungspolitik herauszuarbeiten und erst darauf aufbauend die Besonderheiten des Verhältnisses von produktivem und Ausbildungssektors zu erforschen" (a. a. O., XX, XXI)

Zwanglos fügt sich diesem Theorieentwurf die Vorstellung ein, wonach der Staat als politisches Organ der kapitalistischen Gesellschaft, als "ideeller Gesamtkapitalist" neben und außer der bürgerlichen Gesellschaft, als außerökonomische Zwangsgewalt und zugleich "auf der unangetasteten Grundlage des Kapitals den immanenten Notwendigkeiten nachkommt, die das Kapital vernachlässigt" (Altvater 1972, 7), ja vernachlässigen muß, da sich die Einzelkapitale nur auf der Ebene allgemeiner Konkurrenz aufeinander beziehen können. Dieser so bestimmte Staat der kapitalistischen Gesellschaft war in der Studentenbewegung über die Auseinandersetzung mit der deutschen Tradition der Ideologiekritik bürgerlicher und sozialdemokratischer Staatskonzeptionen einerseits (vgl. Müller/Neusüß 1970) und erste bruchstückhafte Rezeptionen aus der marxistischen Staatsterminologie andererseits zu neuer Aktualität gelangt. Noch wenig systematisch und ohne die historisch-politischen Grenzen der Definitionsversuche über den "bürgerlichen Staat" zu reflektieren (vgl. Altvater/Kallscheuer, 1979), mußten einige Marx-Zitate die Transmission von politischer Ökonomie des Ausbildungssektors in staatliche Bildungspolitik leisten. Wir erinnern uns noch der viel zitierten Passagen aus der "Deutschen Ideologie":

"Durch die Emanzipation des Privateigentums vom Gemeinwesen ist der Staat zu einer besonderen Existenz neben und außer der bürgerlichen Gesellschaft geworden; er ist aber weiter nichts als die Form der Organisation, welche sich die Bourgeois sowohl nach außen als nach innen hin zur gegenseitigen Garantie ihres Eigentums und ihrer Interessen notwendig geben . . . Da der Staat die Form ist, in welcher die Individuen einer herrschenden Klasse ihr gemeinsames Interesse geltend machen und die ganze bürgerliche Gesellschaft einer Epoche sich zusammenfaßt, so folgt, daß alle gemeinsamen Institutionen durch den Staat vermittelt werden, eine politische Form erhalten" (MEW 3, 62f).

Und angesichts der Erfahrung der Pariser Commune hatte Marx ausgeführt:

"In dem Maße, wie der Fortschritt der modernen Industrie den Klassengegensatz zwischen Kapital und Arbeit entwickelte, erweiterte, vertiefte, in demselben Maß erhielt die Staatsmacht mehr und mehr den Charakter einer öffentlichen Gewalt zur Unterdrückung der Arbeiterklasse, einer Maschinerie der Klassenherrschaft?" (MEW 17, 336).

In Engels' "Anti-Dühring" und in seinem "Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats" und anderen Schriften, finden sich weitere Hinweise auf jenen von der ersten Generation der Politischen Ökonomie des Ausbildungssektors rezipierten marxistischen Staatsbegriff, ohne daß sich das Bild verschöbe. Welche Konsequenzen ergeben sich nun aus diesem Verständnis des bürgerlichen Staatsapparats und der ihm eigentümlichen Materie "Politik" für die Analyse staatlicher Bildungspolitik? "Gattungsgeschäfte" des Kapitals bei der Produktion und Reproduktion der Arbeitskraft zu betreiben, bedeutet für den Staat, ein Bildungswesen in eigener Regie zu unterhalten, dessen Aufwendungen einzelnen Kapitalen und Kapitalfraktionen aufgrund der ihnen eigenen Arbeits- und Verwertungsbedingungen als "übertrieben" und vor allem als Einschnitt in die akkumulationsfähige Mehrwertmasse erscheinen mochten. Damit wird die Uneinheitlichkeit der Kapitalfraktionen und ihre empirisch geringere oder nähere Affinität zu Zielen staatlicher Bildungspolitik und -reform erklärbar, zugleich aber auch - jenseits des empirischen Interessenpluralismus - die Grenze staatlicher Bildungspolitik in den Verwertungsbedingungen des Kapitals. Staatliche Bildungspolitik wird also als eine Abteilung im Reproduktionsprozeß des Kapitals konzeptualisiert, die zum Zweck ihrer Bewahrung vor der Uneinsichtigkeit der Einzelkapitale aus dem direkten Verwertungszusammenhang des Kapitals ausgegliedert, formal und funktional aber weiterhin auf ihn bezogen bleibt und nur aus dieser Bezogenheit wissenschaftlich rekonstruiert werden kann. Diese Schlußfolgerung ziehen Altvater/Huisken in ihrer These über den Handlungsraum staatlicher Bildungspolitik; diese

"ist demnach in den Notwendigkeiten des Arbeitsprozesses, die Arbeiter den technischen, organisatorischen und kommunikativen Bedingungen permanent anzupassen ('Veränderung der Berufsstruktur'), und den Grenzen, die durch die Folgen einer Wertsteigerung der Ware Arbeitskraft für den Verwertungsprozeß auferlegt sind, befangen. So erscheinen die 'Kompressionstendenzen' im Ausbildungssektor als staatlicher Versuch, innerhalb eines Spielraums zwischen Notwendigkeiten der Qualifizierung und Grenzen der Verwertung noch möglichst viel durch Steigerung der Effizienz hineinzupressen ..., also um das Verhältnis von Input und Output zu optimieren' (1971, XXIIf).

Ich fasse die Argumentation bis hierher zusammen: Die Theoriefigur der Politischen Ökonomie des Ausbildungssektors führt drei eng miteinander verknüpfte Überlegungen zusammen:

- Der Ausbildungsprozeß in der kapitalistischen Gesellschaft ist Ausbildung der Arbeitskraft als Ware; die im Ausbildungssektor erzeugte und im Produktionssektor vernutzte Qualifikation der Arbeitskraft ist von daher theoretisch-begriffliches Bindeglied und zentraler Gegenstand einer wissenschaftlichen Analyse von Ausbildungsverhältnissen.

- Die thematisch-gegenständliche Abhängigkeit des Ausbildungssektors vom Wertgesetz als Subjekt der gesellschaftlichen Bewegung findet ihre methodische Grundlage in der universellen Gültigkeit der Kategorien der Marxschen Kritik der klassischen politischen Ökonomie - Ökonomie der Zeit, in die, wie Marx bemerkt hatte, sich alle Ökonomie auflöse, hier wie dort.

- Staatliche Bildungspolitik als "Allgemeinfassen von Gesellschaftlichkeit kapitalistischer Produktion", hier der Produktion der Ware Arbeitskraft, ist zwar auf Grund der Vergesellschaftungsdefizite der bürgerlichen Produktionsweise auf einen autonomen Sektor des Politisch-Staatlichen angewiesen, und wird damit zur Quelle notwendiger Bildungsautonomie-Ideologie; sie ist aber ihrer Form wie Funktion gemäß nichts als eine vom Reproduktionsprozeß des Kapitals historisch hervorgetriebene "Besonderung" an der kurzen Leine der Kapitalverwertung.

- Die Politische Ökonomie des Ausbildungssektors eröffnet in Wiederaufnahme der Tradition kommunistischer und sozialistischer Bildungstheorien der 20er Jahre einen werttheoretischen Diskurs über die Rolle von Ausbildungsprozessen im gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß, vornehmlich im Produktionsprozeß des Kapitals. Nur aus der Warte eines system-funktionalistischen Mißverständnisses ist dagegen der Einwand zu verstehen, die Politische Ökonomie des Ausbildungssektors "reduziere" Ausbildung auf die Dimension der Vermittlung produktionsnotwendiger Qualifikationen. Werttheorie und Funktionsanalyse sind zwei Paar Schuhe; der Politischen Ökonomie des Ausbildungssektors ging und kann es nicht um einen möglichst kompletten Funktionskatalog von Bildung gehen.

3. Theoriefiguration und Problemkonstellation

Im vorigen Abschnitt ging es mir um die Freilegung der spezifischen Theoriefigur der Politischen Ökonomie des Ausbildungssektors, auch wenn dabei Verkürzungen und Hell-Dunkel-Zeichnungen in Kauf zu nehmen waren, die dem heutigen Betrachter um so krasser ins Auge springen müssen, als mit dem Liegenbleiben des Ansatzes auch die Erinnerung an seine bestimmte Leistungsfähigkeit auf der Strecke geblieben ist. Dabei ist es eine durchaus naheliegende Überlegung, sozialwissenschaftliche Theorien aus der Zeit und den Problemen heraus zu verstehen, an deren Lösung sie entwickelt worden sind. Für die Politische Ökonomie des Ausbildungssektors stellt sich die Situation dann so dar, daß sie sich in drei unterschiedlichen, gleichwohl miteinander korrespondierenden Problemdimensionen entwickelt hat, in einer politischen (Studentenbewegung), einer wissenschaftskritischen Kritik (bürgerliche Bildungsökonomie) und einer bildungsanalytischen (Bildungsreform). Die beiden ersten Dimensionen, die politische und ideologiekritische Leistungsfähigkeit des Ansatzes, sind bereits früh Gegenstand ausführlicher Erörterungen geworden (Schmitz 1973; Straumann 1973, 1974; Ortmann 1973; Daxner 1974; Becker 1976). Ich möchte den damals formulierten Einwänden nichts hinzufügen und belasse es daher im folgenden bei Andeutungen.

- Anders als die verschiedenen Schulen der bürgerlichen Bildungsökonomie (u. a. Hüfner 1970; Eckhard 1978) verfügt die Politische Ökonomie des Ausbildungssektors nicht über eine Geschichte als Geschichte einer Disziplin. Wenn man so will, ist der von der Studentenbewegung getragene "Hochschulkampf", der Kampf gegen Ordinarienherrschaft und Konzernforschung an der Universität, für einen herrschaftsfreien Diskurs und Öffentlichkeit aller wissenschaftlichen Vorgänge als ihr praktischer Vorläufer in dem Sinn anzusehen, daß mit der Fraktionierung der aus der Studentenbewegung hervorgegangenen Gruppen und dem Eingeständnis des Scheiterns der Bewegung Kritik und Selbstkritik auf der Tagesordnung standen ("Desillusionierung"). Daß diese sich erstens in Systembildungsversuchen unter Wiederaneignung marxistischen Denkens niederschlugen, zweitens den Standpunkt kompromißloser Radikalität annehmen konnten, weil eine marxistische politische Tradition in Deutschland und speziell der BRD sich nur "von außen", d. h. aus der sozialen Situation der Isolation und gesellschaftlichen Marginalität, auf Realität bezog, und daß drittens Kritik und Selbstkritik in einer betont antiprofessionellen Wendung auch auf die Auspolsterung von Verkehrsformen verzichteten, die gemeinhin die Austragung wissenschaftlicher Fehden an den Universitäten halbwegs abfederten, dies alles sind den politischen Verhältnissen der sich auflösenden Studentenbewegung geschuldete Bedingungen, die ihre Spuren in der Theorie hinterlassen haben. Aber sie können sie nicht erklären.

- Auf die teils verdeckte, teils offene Konvergenz von bürgerlicher Bildungsökonomie und Politischer Ökonomie des Ausbildungssektors ist bereits in ihrer Phase verschiedentlich hingewiesen worden (Schmitz 1973; Krause 1973; Straumann 1973; Becker 1976; Becker/Wagner 1977). Die Korrespondenzen beziehen sich dabei v. a. auf den ökonomischen Reduktionismus in beiden Ansätzen und auf eine Überfrachtung des Qualifikationsbegriffs. Ob nun, wie Schmitz und Straumann annehmen, die Politische Ökonomie des Ausbildungssektors sich am untauglichen Objekt abgearbeitet hat (bürgerliche Bildungsökonomie als "Vulgärökonomie") oder aber an einer zwar instrumentell verwendbaren Bildungsökonomie, ohne aber deren Revision zur Systemorientierung wahrzunehmen und damit der Stand der wissenschaftlichen Entwicklung einzuholen (Becker 1976, 297ff; Becker/Wagner 1977, 14f), soll hier nicht entschieden werden.

- Im Kontext der Frage nach den Wandlungen der sozialwissenschaftlichen Bildungsforschung in der Bundesrepublik müssen die politischen und ideologiekritischen Begründungszusammenhänge aus der Politischen Ökonomie des Ausbildungssektors notwendigerweise verblassen und ihr bildungsanalytischer Beitrag stärkere Konturen annehmen, als es ihm in einer Theoriebiographie zukäme. Die Politische Ökonomie des Ausbildungssektors verstand sich selbst nicht als professionelles Analyse- oder gar Prognoseinstrument. Aber aus dem Interesse an der theoretischen Entwicklung von Gesetzmäßigkeiten kapitalistischer Bildungsprozesse ergaben sich doch bestimmte Annahmen über Regeln und Begrenzungen der Wirklichkeit, die i. S. eines generativen Deutungsschemas den Geltungsbreich der Theorie absteckten. Die Ausdifferenzierung der internen Logik der Politischen Ökonomie des Ausbildungssektors erlaubt es damit, einerseits das ihr eigene Spektrum "normaler" Bildungsverhältnisse anzugeben, auf dessen Analyse ihre Kategorien quasi "geeicht" sind, andererseits empirische Bedingungen zu identifizieren, die aus dem Erklärungsmuster der Theorie herausfallen bzw. ihre Revision einleiten müssen. Was für eine Theorie den entscheidenden Geltungsanspruch ausmacht bzw. auf welchem Feld die zentralen Einwände gegen sie zu führen sind, bestimmt sich aus ihren metatheoretischen Prämissen und ihren tragenden theoretischen Begriffen. Für die Politische Ökonomie des Ausbildungssektors ist der Nachweis der formalen und funktionalen Abhängigkeit der Bildung vom Produktionssektor und den dort definierten Produktions- und Reproduktionsbedingungen (Aufzucht und Qualifizierung der nachwachsenden Arbeitskraft; Reparatur qualifikationsgeschädigter Arbeitskräfte) und die "theoretische Integration" aller prima facie entgegenstehenden Empirie das strategische Geltungskriterium.

"Abhängigkeit" kann nun sowohl in quantitativer wie qualitativer Hinsicht, die Wertrelationen wie ihr stofflich-qualifikatorisches Substrat betreffend, behauptet (und bestritten) werden:

a) Die quantitative Beziehung zwischen Ausbildungs- und Produktionssektor, vermittelt über den Arbeitsmarkt (Zirkulation von qualifizierter Arbeitskraft und variablem Kapital), ist gekennzeichnet durch einen Ausgleich von Angebots- und Nachfragegrößen mit einer Tendenz zur Unterausstattung des Ausbildungssektors, der den Anforderungen des Produktionssektors dann hinterherhinkt. Dies erklärt sich aus dem auf dem Staat lastenden Zwang, Ausbildungsinvestitionen als Abzug vom gesamtgesellschaftlichen Mehrwert und damit verbunden einer Einschränkung der Akkumulationsrate des Kapitals auf das gesellschaftlich notwendige Maß zurückzuschneiden. Die in der Marx'schen Theorie doppelte Bestimmung von "gesellschaftlicher Notwendigkeit" umfaßt nämlich neben der Verausgabung von Arbeit mit der im gesellschaftlichen Durchschnitt möglichen und erforderlichen Geschicklichkeit und Intensität auch die Verteilung der gesellschaftlichen Gesamtarbeit auf die einzelnen in einer Gesellschaft geltend gemachten Bedürfnisse.

Von diesem Standpunkt aus erhält die notwendige Arbeitszeit einen anderen Sinn. Der Gebrauchswert der Ware unterstellt, zeigt also das Fallen ihres Preises unter ihren Wert, daß, obgleich jeder Teil des Produkts nur die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit gekostet hat (hier unterstellt, daß die Produktionsbedingungen gleichbleiben), eine überflüssige, mehr als die notwendige Gesamtmasse gesellschaftlicher Arbeit auf diesen einen Zweig verwandt worden ist" (MEW 26. L, 203 f).

Werttheoretisch formuliert - und der Staat handelt im Rahmen dieser Theorie nicht jenseits des Wertgesetzes, sondern als sein Exekutor - stellen sich staatlicher Bildungspolitik damit zwei miteinander verschränkte Handlungsimperative:

- Auf der Ebene des individuellen Qualifizierungsprozesses: für ihn sind die im gesellschaftlichen Durchschnitt notwendigen Arbeiten der Lehrer und andere in die Ausbildung eingehenden Wertgrößen aufzubringen (Sicherung des Gebrauchswerts der Arbeitskraft für den Produktionsprozeß bei Vermeidung von "Überqualifikation")

- Auf der Ebene der gesamtgesellschaftlichen Proportionierung des Bildungswesens bzw. -fonds: Abstimmung der quantitativen Angebots-Nachfrage-Relationen auf den Arbeitsmärkten (unter Vermeidung von Arbeitsmarktengpässen von qualifizierten Arbeitskräften wie von überschüssig Ausgebildeten - "Bildungsproletariat")

Prinzipiell also kann sich der Staat von den im individuellen wie gesellschaftlichen Maßstab wirksamen Wertbeziehungen nicht freimachen. Die Politische Ökonomie des Ausbildungssektors enthält damit einen Vorrat an Erklärungen

  1. für einen quantitativ unterausgestatteten Ausbildungssektor;
  2. für einen nachfrageadäquat ausgebauten Sektor;
  3. für einen allenfalls zeitlich-friktionell überausgestatteten Sektor und
  4. eine generelle These über die Knappheit der Finanzressourcen und ihre sparsame Verwendung in jedem einzelnen Bildungsprozeß (Huisken 1972).

Die Theorie erklärt nicht mehr einen expandierenden Ausbildungssektor bei hohem qualifiziertem Arbeitskräfteüberschuß, strukturell zurückbleibender Nachfrage seitens des Produktionssektors sowie offene und versteckte Formen der Fehlleitung und Vergeudung staatlicher Bildungsfonds.

b) Auf der Gebrauchswertseite wird die qualitative Beziehung zwischen Ausbildungs- und Produktionssektor über Qualifizierungsprozesse vermittelt. Die Qualifikation der (zukünftigen) Arbeitskraft, erzeugt unter den spezifischen sozialen und pädagogischen Bedingungen der Schule und weiteren gesellschaftlichen Institutionen der Aus- und Weiterbildung, und angewandt im Produktionsprozeß (als Äußerung des spezifischen Gebrauchswerts der Arbeitskraft), bildet das institutionelle Bindeglied zwischen den Sektoren. Analog zur quantitativen Relation Ausbildung - Produktion enthält auch die qualitative Dimension der Theorie einen Erklärungsvorrat: Die bildungspolitische Situation, auf die sie "paßt", ist die der gebremsten Bildungsreform" in Übereinstimmung mit qualifikatorischen Tendenzen der wirtschaftlich-technischen Kapitalentwicklung (Otten 1973). Als Beweise für die Gültigkeit einer solchen qualitativen Abhängigkeit des Ausbildungssektors dienten daher vornehmlich solche Ansätze der westdeutschen Didaktik- und Curriculum-Diskussionen, die

  1. eine ideologische Säuberung der schulischen Lehrpläne von vormodernen, bisweilen noch vorindustriellen Leitbildern bezweckten,
  2. eine größere "Praxisrelevanz" von Ausbildung und Studium im Sinn einer höheren "Anpassung" von Ausbildungsqualifikationen und Verwendungssituationen forderten, und
  3. ein curriculumbezogenes Methodenarsenal anboten, das - wie das Robinsohn'sche (1972) - diese Verklammerung in wissenschaftlich kontrollierter Weise herzustellen versprach.

Diese Strömungen der damaligen Bildungsreformdiskussion gerieten unter den Suchscheinwerfern der marxistischen Bildungstheorie zum leibhaftigen Leviathan, zum Beweis für die endgültige und zwingende Unterwerfung der Bildungsinhalte unter das herrschende restriktive und klassenspezifische "Bildungsmonopol". Der Erklärungsvorrat der Theorie war dagegen erschöpft gegenüber Phänomenen wie der Reflexivität von Bildungsprozessen und gegenüber einer Alltagspraxis von Bildungsinstitutionen, in der Widerstand und Desinteresse der Betroffenen gemeinsam mit dem heimlichen Lehrplan der Institution und den Überlebensstrategien des Lehrpersonals den Ertrag "strategischer" Qualifikationen eher als marginal erscheinen ließen; oder anders: in der der organisatorische Zuschnitt und die Interaktionsstruktur von Bildungsprozessen deren gesellschaftliche Zwecksetzung zugleich affirmieren und dementieren (vgl. Hurrelmann 1975).

Wenn wir die mehr gedankenexperimentell als empirisch durchgeführte Überprüfung des Geltungsanspruchs der Politischen Ökonomie des Ausbildungssektors auf den beiden analytischen Ebenen der Abhängigkeitsbeziehungen von Ausbildung und Produktion zusammenfassen, dann ergibt sich etwa folgendes Bild: Die Theorie ist von ihren zentralen Begriffen her auf ein Spektrum von Bildungszuständen eingestellt, das Rückständigkeit und Armut, aber auch gebremste Reform, das industrielle Bildungsinhalte, aber auch praxis- und bedarfsorientierte Revisionen der Curricula umfaßt. Bei allen fortbestehenden Differenzen über wesentliche Strukturparameter (Sozialstruktur, Nachfrage, staatliche Politik u. a.) läßt sich nicht verkennen, daß die Politische Ökonomie des Ausbildungssektors damit zentrale Erscheinung der westdeutschen Bildungsentwicklung bis zu Beginn der 70er Jahre getroffen hat. Erst die seitdem typische Konstellation: ökonomische Dauerkrise in Verbindung mit einer Strukturkrise des Arbeitsmarktes, d. h. mit hohem Überschuß qualifizierter Arbeitskräfte bei gleichzeitigem Wachstum des staatlichen Ausbildungssektors und Zuspitzung der motivationalen Folgeprobleme bei den Betroffenen, erst diese neue Lage führte die Politische Ökonomie des Ausbildungssektors an die Grenze ihrer empirischen Leistungsfähigkeit.

4. Theoretische Revisionen

Wahrscheinlich wäre es übertrieben zu behaupten, die westdeutsche Bildungssoziologie in ihrem professionellen Zuschnitt hätte sich mit der Politischen Ökonomie des Ausbildungssektors ernsthaft auseinandergesetzt oder sie zumindest "überwunden". Bereits die Tatsache, daß in der zweiten Hälfte der 70er Jahre das interaktionistische Paradigma auch hierzulande stark an Boden gewann und die Beschäftigung mit gesellschaftstheoretisch akzentuierten Theorien und ganzen Theorietraditionen kaum noch Konjunktur hatte, hat ihr den Abschied von der Politischen Ökonomie des Ausbildungssektors erleichtert.

Wo allerdings das Thema gesellschaftlicher Reproduktion vermittels Bildungsprozessen in bildungssoziologischen Theorien festgehalten wurde, hat sich dies nicht zuletzt in Abgrenzung gegen die theoretisch-analytischen Defizite der Politischen Ökonomie des Ausbildungssektors entwickelt, was ich im folgenden an zwei Beispielen zeigen will (Baethge/Offe). Nach den genannten empirischen Analysegrenzen werden im folgenden zwei theoretische Revisionen dargestellt, die zumindest in ihrer ursprünglichen Fassung noch enge Verbindungen zur Politischen Ökonomie des Ausbildungssektors aufgewiesen, in der Folge aber eigene Akzente gesetzt haben. Sie teilen mit der Politischen Ökonomie des Ausbildungssektors die theoretische Perspektive auf eine interessenantagonistische Gesamtgesellschaft und auf die Rolle von Bildungsprozessen und -institutionen im Rahmen gesellschaftlicher Reproduktion. Sie schlagen dagegen abweichende Lösungen vor 1) für die Rolle, die die Qualifikation der lebendigen Arbeit im Prozeß der kapitalistischen Entwicklung spielt, und 2) für die Mechanismen, die der bürgerliche Staat bei der Definition von Bildungszielen, -Strukturen und -inhalten entwickelt. (Baethge 1972; Baethge/Schumann 1973; Baethge u. a. 1973, 1980; Mickler u. a. 1976; Mickler u. a. 1977; Offe 1972, 1973, 1975)

Die produktionstheoretische Revision

Das produktionstheoretische Axiom der Politischen Ökonomie des Ausbildungssektors hatte - wie oben zu zeigen versucht - nicht nur eine allgemeine Beziehung von Ausbildung und Produktion aufeinander zum Gegenstand, sondern eine spezifisch kapitalistisch-formbestimmte. Dabei kommt dem prozessierenden Kapital eine die lebendige Arbeit dominierende Rolle zu, indem es die fortwährende Umwälzung der stofflichen Grundlage der Produktion, die Flüssigkeit aller Produktionsfaktoren und im Hinblick auf die Arbeitskräfte eine Tendenz zur Unteranpassung und zur Entwertung jeweils gegebener Qualifikationen bewirkt (vgl. Janossy 1966). Bildungskrisen in kapitalistischen Gesellschaften sind in dieser Perspektive Anpassungskrisen, in denen der Ausbildungssektor seinen Rückstand gegenüber den als autonom gesetzten Fortschritten des Produktionssektors aufholt. Baethge u. a. kehren in ihrer theoretischen Revision diese Determination um. Dem Einzelkapital stünden, so ihre Argumentation, mit der Planbarkeit der Produktionsmittel und der Flexibilität der Arbeitsorganisation Steuerungsinstrumente zur Verfügung, die die qualifikatorischen Folgewirkungen des Einsatzes veränderter Produktionsmittel stark eingrenzten, ja aufhöben:

"Qualifikatorisch betrachtet vollzieht sich technischer Wandel unter diesen Umständen eher über eine immer wieder modifizierte Anpassung der Technik an das vorhandene Qualifikationspotential, einerseits im Interesse, unproduktive Ausbildungskosten (zur Anpassung der Arbeitskräfte an technische Veränderungen) niedrig zu halten und höhere Lohnkosten zu vermeiden, die auf Grund besserer Qualifikationen als Anspruch geltend gemacht werden könnten; andererseits unter dem Gesichtspunkt der Minimierung politisch schädlichen Konfliktpotentials" (Baethge u. a. 1973, 99, Hervorhebung von mir, D. A.).

Mit dieser Wendung der Argumentation (Betrieb als Herrschaftsapparat) ist zwar nicht der Zusammenhang von Qualifikationsentwicklung und Kapitalverwertungsstrategien aufgelöst (vgl. z. B. Mickler u. a. 1976, v. a. 369 ff, 449 ff; Mickler u. a. 1977, Bd. l, 33 ff), wohl aber der Schluß auf Reaktionen des staatlichen Ausbildungssektors. Hier (wie in der ISF-Konzeption der "(innerbetrieblichen Arbeitsmärkte") stehen für kapitalendogen erzeugte Qualifikationsprobleme einzelkapitalistische Lösungsstrategien bereit, die ihre Ausstrahlung in Form erweiterter oder revidierter Anforderungen an das öffentliche Bildungssystem unterbrechen. In Konsequenz dieser Theorieperspektive gilt dann auch die in der Politischen Ökonomie des Ausbildungssektors unterstellte politischstrategische Schlußfolgerung nicht mehr. An die Stelle der "Desillusionierung" über einen als "ehern" unterstellten Zusammenhang treten arbeitspolitische Postulate der Reorganisation von Arbeit und Ausbildung (vgl. Baethge 1975, 290).

Die staatstheoretische Revision

Auf einem historisch einmal erreichten und ausbalancierten Niveau der Korrespondenzbeziehungen zwischen Ausbildungssektor und dem Sektor der gesellschaftlichen Produktion kann sich der Anschein verbreiten, es handele sich hier tatsächlich um ein nahezu schwerelos, durch die invisible hand ökonomischer Marktbeziehungen eingestelltes Verhältnis, das der Staat und die jeweils herrschende Klasse zur Ausübung ideologischer Hegemonie und damit für außerökonomische Zwecke zwar requirieren, nicht aber autonom weiterentwickeln könnten. Struktur und Funktion des Ausbildungssektors sind unter diesem Aspekt, wie ihn sich die Politische Ökonomie des Ausbildungssektors zu eigen macht, vorpolitische, in ihrem Kern ökonomische Größen. Gegen diese Sichtweise hat Offe den Einwand ins Feld geführt, "daß ökonomische Faktoren und gesellschaftliche Interessen sich immer nur in dem Maße durchsetzen können, in dem ihnen durch den Staat bereitgestellte und sanktionierte Organisationsmittel zur Verfügung stehen" (Offe 1975, 9f). Die staatstheoretische Zuspitzung dieser These lautet dann:

"Es ist also immer die Gewalt des Staates, die durch politische Handlungen und Unterlassungen Vorkehrungen dafür trifft, daß bestimmte Interessen (deren Existenz, Richtung und Stärke dem Staat freilich nicht zur Disposition stehen) sich durchsetzen können, bestimmte Konstellationen maßgeblichen Einfluß erlangen und - im Endergebnis - gesellschaftliche Entwicklungen so ablaufen, wie sie ablaufen; der Staat sorgt gleichsam dafür, daß das 'Material' der gesellschaftlichen Interessen und Konstellationen mit Wirklichkeit ausgestattet wird" (Offe 1975, 11).

Staatliche Politik ist dabei auf Grund der Kriterienarmut gesellschaftlicher Prozesse und Interessen auf die Formulierung eigener, politischer Relevanzen angewiesen, auf die Verlegung eines Systems politischer Gleise (um ein von Offe eingeführtes Bild aufzunehmen), auf denen die gesellschaftlichen Kräfte ihren Verkehr untereinander und den Transport spezifischer Inhalte abwickeln können (vgl. Offe 1975, 10). Nur indem der Staat sich außerhalb des Verkehrs der gesellschaftlichen Kräfte begibt, ist Bildungspolitik in der Lage, "die arbeitswirtschaftlichen Erfordernisse des Beschäftigungssystems gleichsam mit-bedienen zu können" (Offe 1973, 26). Mit dieser Überlegung versucht Offe ein Konzept zu begründen, wonach der Staat nicht nur einen autonom politisch gestaltbaren Handlungsspielraum außer und neben der kapitalistischen Ökonomie wahrnehmen kann, sondern quasi sich selbst und seine Organisationsmittel autonom setzen muß, um die Aufrechterhaltung der Verkehrsbeziehungen zwischen gesellschaftlichen Subsystemen sicherzustellen.

Diese Mediatisierung ökonomischer Zwecke in politische Eigendefinitionen des Staates ließe sich noch in den Rahmen der Politischen Ökonomie des Ausbildungssektors zurückbinden, wenn weiterhin unterstellt bliebe, daß vermittelt über die Wirkungsweise ökonomischer Wertbeziehungen hinter dem Rücken der handelnden Subjekte einschließlich des Staates die politische Definition staatlicher Bildungspolitik schließlich doch wieder auf die Logik der Kapitalverwertung einschwenken würde. Diese Vermutung weist Offe explizit zurück; statt dessen verweist er darauf,

"daß mit dem Eindringen sozialpolitischer Motive in die Bildungspolitik eine Legitimationsgrundlage für 'Überqualifikationen' geschaffen wird, d. h. eine zusätzliche Qualifikationsmarge für jede individuelle Arbeitskraft, von der weder die Instanzen des Beschäftigungssystems noch die der Bildungspolitik vorab kalkulieren können, ob sie mit dem Interesse, welche auch das Beschäftigungssystem an einer flexiblen und mobilen Arbeitskraft nimmt, koinzidiert oder darüber hinausgeht" (Offe 1973, 28).

In dieser Unbestimmtheitsrelation drückt sich - politökonomisch betrachtet - eine Auflösung der Wert- und Zeitstrukturen kapitalistischer Ökonomie aus, wie sie für das theoretische Konzept der Politischen Ökonomie des Ausbildungssektors entscheidend war.

Ein autonomer staatlicher Handlungsspielraum im Sektor der Ausbildung von Arbeitskraft setzt nämlich die in zweifacher Hinsicht definierten Bedingungen der Warenproduktion, auf die Erzeugung jeder einzelnen Ware einer Gattung nur die im gesellschaftlichen Durchschnitt notwendige Arbeitszeit, und auf die Produktion der Warengattung insgesamt nur das zur Befriedigung der Bedürfnisse proportional angemessene gesellschaftliche Arbeitsvolumen zu verwenden, außer Kraft. Die von Offe u. a. vorgenommene Revision des Staatsbegriffs wird daher nur unzureichend begriffen, wenn man in ihr eine Expansion des staatlichen Handlungsbereichs sieht. Sie ersetzt vielmehr das politökonomische Paradigma der Wertökonomie durch das funktionalistische Paradigma der Sicherung der Bestandsbedingungen von Systemen (wenn auch in kritischer, nicht strategischer Absicht). Oder anders: der werttheoretische Diskurs rückt aus dem Zentrum der Theorie an die Peripherie. Er erklärt - negatorisch - allgemeine Handlungsschranken des politischen Systems, nicht mehr dessen Funktionen und Handlungen selbst.

Es ist dann auch nicht weiter erstaunlich, wenn auf der Grundlage oder im Anschluß an dieses Konzept des bürgerlichen Staates der staatlichen Bildungspolitik in der Folgezeit die unterschiedlichsten Zwecke vindiziert worden sind: Von der Arbeitskräfteabsorption über soziale Kontrolle, Vermittlung von Verkehrsformen und Ideologien, bis zur Sicherung kultureller Klassenhegemonie und Hervorbringung eines bürgerlichen Habitus. Bei allem Facettenreichtum solcher Analysen läßt sich doch der Eindruck einer gewissen Beliebigkeit der funktionalen Ausdeutung staatlicher Bildungspolitik nicht leugnen. Wenn ich daher abschließend eine These über das "Erbe" formuliere, das die Politische Ökonomie des Ausbildungssektors der westdeutschen Bildungssoziologie hinterlassen hat, dann die, daß ihre Verdrängung in zweifacher Hinsicht um einen Preis erkauft wurde, der in der Erfolgsbilanz der letzten Dekade westdeutscher Bildungsforschung nicht verbucht ist: Ich meine den Traditionsriß, den viele heute tätige Bildungsforscher von ihrer wissenschaftlichen wie politischen Vergangenheit und von ihren Ursprüngen in der Studentenbewegung trennt; und zweitens täte es der Bildungssoziologie, wenn sie von der zwanghaften Abgrenzung gegen den vermeintlichen "Ökonomismus" der Politischen Ökonomie des Ausbildungssektors dispensiert würde, und sich statt dessen in der Kritik fortgeschrittener Ansätze der Bildungsökonomie wieder der Einsicht öffnen könnte, daß und wie sich Bildung in Gesellschaften vom Typ der BRD auf Lohnarbeit und, vermittelt über politisch-organisatorische Strategien und Institutionen, auf den Prozeß der Kapitalverwertung bezieht.

Dirk H. Axmacher, Jg. 1944, Hochschullehrer für Soziologie und Ökonomie der Ausbildung an der Universität Osnabrück; Adresse: Mozartstr. 61, 45 Osnabrück.

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