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Heft 139: Politik der Prävention - unvorsichtig - riskant - widersprüchlich

2016 | Inhalt | Editorial | Abstracts | Leseprobe

Titelseite Heft 139
  • März 2016
  • 138 Seiten
  • EUR 15,00 / SFr
  • ISBN 3-89691-999-1
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Zu diesem Heft

"Prävention" hat sich in einem sehr materiellen Sinn durchgesetzt: als Prävention von Angst, von Ausländerkriminalität, von Gewalt und Kinderdelinquenz, von Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit, von sexuellem Missbrauch, von Vernachlässigung und Verwahrlosung, von Rechtsextremismus und islamistischer Radikalisierung, von Vorurteilen und Hass, von Unterrichtsstörungen und Handy-Diebstahl und burn out. Präventions-Programme und -Maßnahmen wurden zu einem weiten Feld von organisierter Wissensproduktion und -verwertung. Präventionsketten, Präventionstage, Präventionsnetzwerke und Präventionsforen werden organisiert und verwaltet. Das Wort von der "Präventionslandschaft" wird sowohl affirmativ wie kritisch gebraucht.

1987 veröffentlichten die WIDERSPRÜCHE das Heft 25 "Prävention und soziale Kontrolle" und darin eine Analyse und Kritik der "Logik von Prävention" von Wolfgang Völker. Selbst in der Konzeption von "struktureller" Prävention, die in der Zukunft "Problemlagen" von Leuten verhindern will, die der kapitalistischen Ökonomie oder den Rationalisierungen der Lebensweise geschuldet sind, beruht Prävention auf Machtvorgängen und institutionalisierter Herrschaft: "Eine bestimmte Zukunft, die als gewünscht betrachtet wird und herbeigeführt werden soll, schließt andere, widerstreitende Zukunftsentwürfe aus. Insofern ist jede Prävention repressiv" (Völker 1987: 10). In der Gegenwart werden "Abweichler" als Stör- und Risikofaktoren der Gegenwart identifiziert. Ihr Verhalten (instrumentell) zu steuern, beruht auf Macht und Wissen: Wissen über Instrumente und Technologien von (in-)direkter Verhaltenssteuerung, durch die ein erwünschtes Verhalten nicht nur mit, sondern auch gegen den Willen einer Person realisiert werden kann. Die Verfügung über diese Wissensformen und die Entscheidungsmacht liegen bei Institutionen und ihrem Personal. Die gewählte Zukunft ist die Zukunft der Interessenkompromisse, die Herrschende bereit sind zu ihrem Nutzen einzugehen. Daraus ergab sich für Wolfgang Völker die Einsicht: "Insofern ist jede Prävention autoritär" (ebenda: 10). Bezieht sich Prävention auf komplexe menschliche Handlungsweisen, tendieren Interventionen in Lebensweisen zur unspezifischen Überwachung und einer sich ausweitenden Kontrolle in der Hand derer, die schon die Macht haben zu Norm(alität)en und "Abweichungen" zu definieren. Weil notorische "nichtintendierte Nebenfolgen" von modernisierenden Reformen mit "mehr desselben" verhütet werden, befördert "mehr Prävention" im sozialen Bereich eine "Tendenz totaler Kontrolle" (ebenda: 10).

Sozialer Arbeit, die Präventionsmaximen und Vorstellungen von umfassender Machbarkeit eines befriedeten Sozialen folgen würde, prognostizierte Wolfgang Völker ihre absehbare Zukunft: "Würde die Praxis der Berufe im Sozial- und Gesundheitsbereich nach diesem Muster von Prävention gestaltet, wäre es an der Zeit, neue Namen für die Tätigkeit zu finden: Wie wäre es mit Risikodetektiv, Sozialingenieur, Lebenstilkontrolletti?" (ebenda: 13). Als Konsequenz der Analyse hat er vorgeschlagen: "Es bleibt nur noch eines für eine Politik im Sozial- und Gesundheitsbereich, die sich Emanzipation auf ihre Fahnen geschrieben hat: wir müssen der Prävention vorbeugen! (...) die Utopie "sozialer Sicherheit" (als Voraussetzung für eine 'selbstbestimmte Vergesellschaftung von unten') muss deswegen nicht aufgegeben werden." (ebenda: 14).

Betrachtet man die Entwicklung der "Präventionslandschaft" seit den 1990er Jahren, wurde der Prävention mitnichten vorgebeugt. Die Institutionalisierung von Präventionsorientierung als eine der Strukturmaximen von Jugendhilfe - bekräftigt im 8. Jugendbericht als Prävention und Weg zum Ziel "lebenswerte, stabile Verhältnisse (zu schaffen), Verhältnisse also, die es nicht zu Konflikten und Krisen kommen lassen" - hat nicht alleine als "Entgrenzung" von Verhaltens-Prävention gewirkt, wohl aber als eine Bremse für radikale Kritik.

Zu den Beiträgen im Einzelnen

Nach längerer Pause diskutieren wir in diesem Heft die Widersprüche von Prävention - ausgehend von "alten" Unternehmungen (wie Prävention von Gewalt & Kriminalität, Gesundheitsprävention) und "neuen" Feldern (wie Kindheit und Sexualität). Helga Cremer-Schäfer leitet den thematischen Schwerpunkt des Heftes mit einer Darstellung der Produktivität der "frühen Kritik" von Prävention ein. Sie interpretiert das in den 1980er Jahren verfügbare Wissen über (und nicht für) Prävention als "prognostische Hermeneutik": im "fortgeschrittenen" Heute die morgen möglichen Fortschritte der Herrschaftstechniken erkennen und damit Welt anders interpretieren als durch vorgegebene Fortschrittsmythen.

Für Christa Sonnenfeld, die im Dezember 2015 viel zu früh verstorben ist, hat Günter Papst mit einem Nachruf unsere Trauer ausgedrückt. Durch den Wiederabdruck ihres 1989 geschriebenen Beitrags über "Gesundheit durch Selbstkontrolle" wollen wir durch ein Beispiel die Produktivität der "frühen Kritik" von Prävention im Bereich Gesundheit konkretisieren.

Davon, dass es Prävention an sich nicht gibt, geht Nicoletta Rapetti in ihren Überlegungen zu einer präventiven Sozialen Arbeit im Gesundheitswesen aus. Sie analysiert die Verbindung zwischen Präventionslogik und ganzheitlichem Ansatz, um Widersprüchlichkeiten und gegenseitige Verstärkungen herauszuarbeiten. Im Rückgriff auf Albert Camus und den Begriff des Absurden stellt sie die Logik von Prävention der Frage nach Freiheit gegenüber.

Aufgrund technischer Probleme kann Manfred Kappelers angekündigter zweiter Teil seines im vorherigen Heft erschienenen Beitrags nicht erscheinen. Stattdessen untersucht er in seinem Beitrag die Zeitdimensionen im Präventionsbegriff und stellt die These auf, dass Prävention in der Gegenwart, legitimiert mit "Gewissheiten" aus der Vergangenheit, in die Zukunft projizierte Gefahren bekämpfen will. Prävention präjudiziert damit nicht nur den Zukunftshorizont der nachwachsenden Generationen - sie beeinträchtigt selbstbestimmtes Leben in der Gegenwart. Prävention ist ein tyrannisches Zeitregiment.

Julia König analysiert den Zusammenhang der Konjunktur von Präventionsaktivitäten mit der öffentlichen Diskreditierung einer Sexualpädagogik der Vielfalt und der Bestimmung von Pädosexualität als letzter Perversion, die zum Verschwinden gebracht werden müsse. Aus einer reflexiven psychoanalytischen und sexualwissenschaftlichen Perspektive ist es jedoch der präventive Blick, der verhindert, mit der strukturell immer wieder entstehende erwachsene Irritation über die kindliche Sexualität so umzugehen, dass sich die Anerkennung der Differenz zwischen kindlicher und erwachsener Sexualität bei Erwachsenen entwickelt und Projektionen (wie die einer auf das unschuldige Kind lauernden Bestie) ihre Notwendigkeit verlieren.

In einem Streitgespräch über Prävention schließlich kritisiert Christian Lüders die Position der Widersprüche als idealistisch, weil man zwar den Begriff dekonstruieren, ihn vielleicht sogar abschaffen könne, die Prävention als praktisches Handeln und als eine Struktur des Denkens in der Moderne aber nicht. Manfred Kappeler kritisiert die vom Deutschen Jugendinstitut vertretene Auffassung, man müsse eine "entgrenzte" Prävention von ihren vielen problematischen Nebenwirkungen befreien um ihre positiven Wirkungen zur Geltung bringen zu können, als idealistisch, weil diese "Nebenwirkungen" keine dem Begriff zugeschriebenen seien, sondern dem Begriff inhärent. Die dadurch hervorgerufenen Widersprüche können zwar durch Reflexion und Kritik bearbeitet, nicht aber aus der Welt geschafft werden.

Im Forum diskutiert Sebastian Schneider am Beispiel der Pädagogik Janus Korcaks Partizipation als Möglichkeit einer Bewegung im Prozess der Emanzipierung. Gegen diese Möglichkeit setzt er die gegenwärtigen Erfahrungen, dass im Rahmen des Umbaus des Sozial- zum Workfare-Staat Partizipation auch Teil der Legitimation von autoritären Praktiken geworden ist. Partizipation kann daher nicht mehr eindeutig als Teil einer Bewegung vom Status als Objekt zu dem als Subjekt wohl aber widersprüchlich gedacht werden. Gegen affirmative Praktiken des Partizipieren Lassens, stehe der Pädagogik der Modus der "reflexiven Kritik" zur Verfügung.

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