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Heft 10: Qualifikation – Lernen und Arbeiten... wofür?

1984 | Inhalt | Editorial | Leseprobe

Titelseite Heft 10
  • Februar 1984
  • 120 Seiten
  • EUR 7,00 / SFr 13,10
  • ISBN 3-88534-028-3

Zu diesem Heft

Anfang der 70er Jahre war es feste Überzeugung der Linken: "Massenarbeitslosigkeit mit 2-3 Mill. Arbeitslosen entzieht dem System die Glaubwürdigkeit". Uneinig waren wir uns nur über die Folgen. Die einen erhofften einen "Rutsch" nach links, die anderen befürchteten einen solchen nach rechts. Und was erleben wir nun? Eine konservative Wende, deren soziale Basis bis weit ins sozialdemokratische Lager hineinreicht (und die nicht erst mit Kohl angefangen hat). Glaubt man den Wahlanalysen, so wird diese Wendepolitik von den sozialen Gruppen getragen, die von der sozial-liberalen Ära besonders profitiert haben und die es nun den Konservativ-Liberalen zutrauen, ihre Privilegien zu schützen. Die Arbeitslosen selbst wählten in ihrer großen Mehrheit immer noch sozialdemokratisch.

Die neue Herrschaft kann in einem Maße "soziale Errungenschaften" abbauen, das wir ebenfalls für unmöglich gehalten hatten. Die ehemaligen Partner des "Modell Deutschlands", SPD und Gewerkschaften, stehen in einer hilflosen Defensive; sie wollen einen "Sozialstaat" verteidigen, der von einer zunehmend größeren Gruppe Betroffener als ungerecht und entwürdigend erfahren wird.

Und die neue Herrschaft versteht ihr Geschäft nicht schlecht: Sie hofiert ungeschminkt dem neuen/alten Leittypus des hochqualifizierten, 25-40 Jahre alten deutschen Mannes, der flexibel und mobil ist, der sowohl für sein Häuschen spart als auch konsumfreudig ist und der unerschütterlich an die Werte: Leistung, Aufstieg und: "Jeder ist seines Glückes Schmied" glaubt.

Für alle sozialen Gruppen, die diesem Leittypus nicht entsprechen, steht eine breite Palette von Auffang- und Ausgrenzungsmechanismen bereit:

  • diejenigen, deren Qualifikation nicht mehr gebraucht wird, werden über "Zumutbarkeitsregelungen" auf die Dequalifikationsschiene gesetzt, die meist mit Dauerarbeitslosigkeit, Frühverrentung oder Krankheit endet;
  • große Teile der Jugend werden entweder überhaupt nicht qualifiziert oder ihnen wird in völlig antiquierten Lehrverhältnissen ein Minimum an Sekundärtugenden eintrainiert
  • oder sie werden von einer Aufbewahrungsmaßnahme in die andere geschoben;
  • "alt", d. h. fürs Kapital unbrauchbar ist schon der 40-jährige Facharbeiter oder die 40-jährige Buchhalterin. Sie werden noch für ein paar Jahre in diverse Umschulungen gesteckt - bis die Rente durch ist. Spätestens bei der neuen "59er Regelung" sind sie dran;
  • Ausländer werden immer weniger als Arbeitskräfte gebraucht, sondern eher als Sündenböcke: Per Ausländergesetz und anderen Regelungen wird alles getan, damit sie diese Rolle auch noch möglichst lange spielen;
  • Für die Frauen werden nicht nur die alten Mythen repressiver Mütterlichkeit "wiederentdeckt", sondern in Zukunft wird ihnen auch noch ein viertes "K" geschenkt: Kabelkommunikation - nicht nur zur Unterhaltung, sondern auch für den neuen Heimarbeiterinnenarbeitsplatz;
  • und Herr Stingl freut sich: Mobilität und Flexibilität haben zugenommen, sprich: Die Arbeitskraft jagt den anarchischen Bewegungsströmen des Kapitals hinterher, wie es seit den Flüchtlingsströmen der Nachkriegszeit nicht mehr der Fall war. Und wer es nicht "freiwillig tut, wird über die "Zumutbarkeitsregelung" dazu gezwungen.

Insgesamt funktioniert die hegemoniale Ideologie des neuen Leittypus von Qualifikation sichtlich so gut, daß es gelingt, die Bevölkerungsmehrheit de facto zu staatlich lizensierten "Randgruppen" zu machen: Ein Qualifikationsziel zu setzen, das von der Mehrheit objektiv nicht erreicht werden kann, das aber dennoch von einer Mehrheit getragen wird, ist eine "Musterleistung", die nähere Betrachtung verdient.

Wir wollen uns in dem Themenschwerpunkt in diesem Heft diesem Problem unter der Frage nähern: "Qualifikation: Lernen und Arbeiten - wofür?"

Franz Grubauer gibt zunächst eine Übersicht über die vielfältigen Erosionen traditioneller Qualifikation und stellt Fragen nach den neuen Qualifikationsanforderungen. Die von ihm ausgemachten Trends verdeutlichen einmal, daß die Nahtstelle zwischen Qualifikationsbedarf und Gesellschaftsentwicklung brüchig geworden ist, zum änderen, daß eine kritische Qualifikationsdiskussion sich nicht allein auf den Produktionsprozeß beziehen darf.

Die tiefgreifende Wende in den Qualifikationen wird u. E. häufig zu technologisch untersucht. Wir haben deshalb Dirk Axmacher gebeten, einen abgerissenen Diskussionsfaden der Analyse wieder aufzunehmen: den der Politischen Ökonomie des Ausbildungssektors. Dieser, aus vielen Gründen "vergessene" Diskussionsstrang ist die Voraussetzung für weitere Fragestellungen, wie z. B. die tendenzielle Abkoppelung der Qualifikationsinstitutionen vom Arbeitsmarkt (Schule, Hochschule und Ausbildungssystem als Verschiebebahnhöfe von Arbeitskraft) oder die politisch-ökonomische Analyse des sogenannten "2. Arbeitsmarktes".

Friedel Schütte nimmt diesen Diskussionsfaden auf und gibt einen Überblick über die wissenschaftliche Qualifikationsdebatte - und stellt diese in Beziehung zu der politischen Entwicklung des letzten Jahrzehnts.

In den folgenden Artikeln beschäftigen wir uns mit einigen (längst nicht allen) skandalösen Entwicklungen im herrschaftlich konstituierten Qualifikationsbereich. In einem Interview prangern Rolf Deutschmann und Thomas Johanssen die Schweinerei mit den JoA-(Jugendliche ohne Arbeit-)Klassen an und berichten über Versuche der GAL Hamburg, Alternativen zu dieser Aufbewahrungseinrichtung zu entwickeln.

Auf welchen Hund vorgeblich emanzipatorische Pädagogik geraten kann, wenn sie kapitalistisch zerstörte Lebenspraxis für ihre Interventionszwecke zu individuellen Defiziten umdefiniert, veranschaulicht Rainer Lehmann in seiner Kritik neuer Entwicklungen in der VHS-Pädagogik.

Nicht weniger skandalös, aber in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt ist die Tatsache von Zwangsarbeit "in diesem unserem Lande": Sklavenhalterei nach dem BSHG (Bundessozialhilfegesetz) wird in Zukunft noch größere Ausmaße annehmen, wenn die Betroffenen sich nicht dagegen wehren. Herbert Effinger untersucht die Sache und stellt fest, daß mit dieser Zwangsarbeit nicht einmal "abstrakte" Arbeit gelernt wird, daß sie aber gut ins ideologische Wende-Weltbild paßt.

Und noch ein Skandal ist zu vermelden: Zweiter Arbeitsmarkt und ABM, was Wolfgang Völker als Arbeitslosen Bewegungs Maschine buchstabiert, aus der Erfahrung eines Betroffenen; eine Analyse, die hoffentlich auch dazu beiträgt, sozialdemokratische und grüne Hoffnungen auf eine staatlich ausgehaltene Zweite Ökonomie kritischer zu betrachten.

Redaktion "Widersprüche", Offenbach, Februar 1984

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