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Heft 11: Schule ist Schule – ist anpassen, wegtauchen, verändern

1984 | Inhalt | Editorial | Leseproben: 1 & 2

Titelseite Heft 11
  • April 1984
  • 136 Seiten
  • EUR 7,00 / SFr 13,10
  • ISBN 3-88534-029-1

WIDERSPRÜCHE-Redaktion

Verteidigen, kritisieren und überwinden zugleich!
Alternative Sozialpolitik - Gegen Resignation und "Wende". Ein Strategiepapier

1. Alle reden von der Krise - wir auch

Daß der Sozialstaat in der Krise ist, pfeifen die Spatzen von den Sozialamtsdächern. Aber, was da nun in der Krise ist, worin die Krise besteht, und warum sie ist - da sind die Töne schon recht verschieden und dissonant.

Den einen besteht die Krise schlicht in einem Zu-wenig, im zu wenig an Geld, um die sozialstaatlichen Wohlverhalten weiter zu bezahlen ("Finanzkrise"). Für andere funktionieren die sozialpolitischen Instrumentarien nicht mehr. Wieder andere beschwören die Krise als "Kontraproduktivität" übermächtiger Apparate, deren Hilfeleistung längst in Enteignung und verdoppeltes Leiden umgeschlagen ist (Illich u.a.) Und die "Wende"-Denker schließlich singen das Hohe Lied des Kampfes mit dem Drachen, sprich: des Bürgers gegen den Staat, der Freiheit des Einzelnen gegen Versorgungsbürokratien und andere Priester.

Uns geht es in den folgenden Thesen darum, die Krise der Sozialpolitik als Krise eines Reproduktionsmodells zu begreifen, als Krise eines Modells von Arbeit, Leben und Bedürfnissen quer durch die Gesellschaft hindurch. Damit kann die Sozialstaatskritik von links einen wichtigen Schritt vollziehen: Den Schritt von der Kritik der "Sozialstaatsillusion" hin zur Kritik der sozialstaatlichen Vergesellschaftungsform und Rationalität, des spezifischen Ineinander von Hilfe und Herrschaft in der Sozialpolitik.

Denn alle Illusions- und Ideologiekritik greift zu kurz, wenn sie die real erfahrbaren Sicherheiten durch den Sozialstaat übergeht. Aber daß diese Sicherheiten an bestimmten Herrschafts- und verdinglichte Bedürfnisstrukturen gebunden sind, übersehen diejenigen, deren Blick nicht über Finanzen, Sparoperationen und Bürokratien hinausreicht. Sie sind in der Gefahr, eine herrschaftliche Form der Sicherheit und des "Fortschritts" zu verteidigen, während sich die "Wende" schon längst auf den Trümmern dieses Modells aufschwingt.

2. Das Reproduktions-"Modell Deutschland" zerbricht

Das "Modell Deutschland" ist beschrieben worden als Typus einer industriellen Struktur mit extremer Exportorientierung (Autos, Chemie, Maschinenbau), als Typus staatlicher Modernisierungspolitik mit Subventions- und Forschungsvorhaben für die dominanten Sektoren, als Typus politischer Herrschaft mittels Klassenkompromiß, Umverteilungspolitik und Sozialpartnerschaft plus "sicherheitsstaatlicher" Ausgrenzung, und schließlich als "Vergesellschaftungstypus", dessen "Rationalität" sich durch Infrastruktur, Bildungswesen, Kultur und Lebensperspektiven, bis durch die Sozialcharaktere hindurchzieht - und eben auch durch die Sozialpolitik.

Wenn vom "Modell Deutschland" die Rede ist, so ist damit auch immer ein spezifisches Reproduktionsmodell gemeint. Gerade die Diskussionen um das Modell Deutschland haben gezeigt, daß es in zunehmendem Maße unmöglich wird, den Produktions- und den Reproduktionsbereich "sauber" zu trennen. Mag eine derartige Trennung aus analytischen und systematischen Gründen plausibel erscheinen, so widerspricht sie doch der erfahrbaren Realität. Wenn der Arbeiter oder die Angestellte morgens aus dem Haus geht, verlassen sie ja nicht den Reproduktionsbereich, verwandeln sich nicht in einen anderen Menschen, wenn sie den Produktionsbereich betreten und kehren abends nicht in einen Reproduktionsbereich als ein dritter Mensch in den Bereich der Konsumtion, des Wohnbereiches zurück. Das kann man auch theoretischer beschreiben: Die Bereiche der Produktion, der Zirkulation und der Konsumtion stellen sich jeweils als Kreislauf dar, in dem - unbeschadet der Geltung des Wertgesetzes - ein Teil den anderen bedingt. Wichtigstes Resultat dieses Kreislaufes ist weniger das materielle Resultat, sondern die ständige Wiederherstellung des Herrschaftsverhältnisses von Lohnarbeit und Kapital. Vom Lohnarbeiter her gesehen ist der Verkauf seiner Arbeitskraft ganz sicherlich die wichtigste Voraussetzung zur Reproduktion. Von der Art und Weise dieses Verkaufs, sprich: Höhe des Lohnes, Qualität der sozialen Sicherung usw., hängen wesentlich die Möglichkeiten individueller Konsumption und Regeneration ab (Wohngebiet, Ausstattung der Wohnung und vieles mehr).

Diese Bedingungen konkretisieren sich über Hausarbeit als Einheit von physischen und psychischen Reproduktionsleistungen. Die "Ware Arbeitskraft" wird dort nicht nur produziert sondern die "Fähigkeit" zur Lohnarbeit - die menschliche Arbeitskraft - wird über diese Leistungen immer wieder neu hergestellt. Diese täglich stattfindende Reproduktion der Ware Arbeitskraft wird nicht nur über die Höhe des Lohnes gewährleistet, sondern die über den Lohn ermöglichten materiellen Versorgungsleistungen (Miete, Lebensmittel etc.) müssen selbst noch mal "realisiert" werden - in Form von kochen (der Zubereitung und Umformung der gekauften Waren), einkaufen, putzen etc. In diese materiellen Versorgungsleistungen gehen auch immer emotionale mit ein (das gilt nicht nur für die schon "fertige Ware Arbeitskraft"; selbstverständlich auch für die Kinder). Diese Form von "Arbeit" die zusätzlich zum Lohn geleistet werden muß, um die physische und psychische Reproduktion zu gewährleisten wird auf der Basis der herrschenden geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung den Frauen zugewiesen. Das gilt unabhängig davon, ob Frauen selbst Lohnarbeiterinnen sind (Doppelbelastung) oder "nur" Hausarbeiterin.

Reproduktion ist also alles, was die Fähigkeit des Lohnarbeiters, seine Arbeitskraft zu verkaufen, erhält, steigert und absichert, was also aktiv dazu beiträgt, seine Lohnarbeiterexistenz abzusichern. Das mag banal erscheinen. Historisch gesehen jedoch haben wir es mit einem gewaltigen Kraftakt der kapitalistischen Gesellschaft zu tun, alle staatlichen, verbandlichen, auszubildenden aber auch familiären und Psycho-Strukturen so zu entwickeln, daß dieser Prozeß der aktiven Proletarisierung nicht mehr als Zwangsprozeß erfolgen muß, sondern dem Einzelnen als subjektive Freiheit vorkommt. Voraussetzung für diese aktive Proletarisierung war die passive Proletarisierung, d. h. die Auflösung aller nicht-kapitalistischen Lebens- und Arbeitsformen im Zuge der ursprünglichen Akkumulation und der darauf folgenden Prozesse der Durchkapitalisierung immer weiterer gesellschaftlicher Sphären. Daß nicht viel mehr der passiv Proletarisierten betteln, klauen, protestieren und revolutionieren gingen, sondern brav zur Arbeit, dazu bedurfte es der vielen Aktivitäten, Zwänge und Erzeugungen von Charakterstrukturen und Geisteshaltungen, die einen Menschen eben bereit machen, "freiwillig" Lohnarbeiter zu werden.

Dieser Prozeß der passiven und aktiven Proletarisierung - oder, wer sich an dem Ausdruck stört: der Verlohnarbeiterung - ist historisch aber keineswegs abgeschlossen. Auf der einen Seite sorgen die zerstörerischen Wirkungen der anarchischen kapitalistischen Produktion für ständigen Nachschub passiv proletarisierter Menschen - die in Ausgrenzungen, Arbeitslosigkeit, Knast, Psychiatrie, verslumten Wohngebieten und isolierten Lebensformen ihr gesellschaftliches Dasein fristen. Auf der anderen Seite war und ist eben diese Anarchie ständiger Quell für Widerstand, kollektive Gegenwehr, für phantasievolle Uberlebensstrategien und subkulturelle Gegenmilieus - gegen die Zumutungen passiver und aktiver Proletarisierung. Dieser Widerstand vereinigte sich in den Hochzeiten der Arbeiterbewegung zu einer regelrechten Gegenkultur. Heute sind widerständige Tendenzen allerdings schwieriger auszumachen bzw. sind sie buntscheckiger: Während die traditionellen Arbeitermilieus eher defensiv und rückzugsorientiert sind (und deshalb weniger in Erscheinung treten), bieten die bunt-alternativen Initiativen und Subkulturen potentiell einen neuen Ansatz zu einem gegenkulturellen Milieu.

Es wäre spannend und lohnend unter diesen Aspekten die Reproduktionsleistungen von Familie und alltäglicher Konsumtion zu untersuchen und neu zu bestimmen. Das kann hier nicht geleistet werden. Es muß aber bei der folgenden Auseinandersetzungen mit Sozialpolitik immer mit bedacht werden, daß sozialstaatliche Reproduktion ohne "Vorleistungen" von Familie und individueller Konsumtion nicht funktionieren würde.

Unter Sozialpolitik verstehen wir alle staatlich oder rechtlich vermittelten Prozesse, die die dauernde Transformation von passiver in aktive Proletarisierung gewährleisten. Diese, die aktive Verwertung der Ware Arbeitskraft erst ermöglichende Funktion der Sozialpolitik soll die unterstützende - neudeutsch: subsidiäre - Funktion genannt werden. Die andere Seite der gleichen Medaille ist die kompensatorische Funktion der meisten sozialpolitischen Maßnahmen. Kompensatorisch sind sie alle in Bezug auf die aktuelle oder dauernde Unfähigkeit, seine Ware Arbeitskraft zu tauschen, d.h. alle Kompensationsleistungen gehen von der "aktiven Lohnarbeiterfigur" aus (Arbeitslosen-, Renten- und Krankenversicherung).

Einer der wichtigsten Erfolge des keynesianischen Modells Deutschland ist gerade die Sicherung und Erweiterung der subsidiären Funktion und die Unterstützung der aktiven Proletarisierungsprozesse. Die bis Mitte der 70er Jahre relativ erfolgreiche Vollbeschäftigungspolitik führte ökonomisch gesehen zwar zu einer Verteuerung der Arbeitskraft und trug somit zum Fall der Profitrate bei; diese Tendenz konnte jedoch lange Zeit durch imperialistische Hegemonie auf dem Weltmarkt wettgemacht werden. Politisch-ideologisch, aber auch materiell wichtiger war und ist die Tatsache, daß durch die Leistungen vor allem der Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherungen geschichtlich und in der Erfahrung der betroffenen Menschen zum ersten Mal so etwas wie eine "erwartbare Sicherheit" gegeben war: Alter, Krankheit und Arbeitslosigkeit führten für den größten Teil der Betroffenen eben nicht mehr zu unmittelbarer Existenzbedrohung, zu Hunger und Elend.

Die "Wende" (seit Mitte der 70er Jahre) markiert nun einen Bruch dieses gesellschaftlichen Reproduktionsmodells: Der tendenzielle Fall der Profitrate läßt sich nicht mehr über den Weltmarkt aufhalten - also müssen die Kosten der Arbeitskraft nach Meinung der Herrschenden gesenkt werden. Hohe "Sockelarbeitslosigkeit" (wer steht eigentlich auf diesem Sockel?) ist dazu ebenso notwendig wie "Sozialabbau", d. h. Verbilligung der Arbeitskraft. Damit aber entsteht so etwas wie ein sozialstaatliches Paradoxon: Die Ausbildungs- und Versorgungsapparate produzieren immer mehr passiv Proletarisierte, die entweder in diesem Modell Deutschland nicht mehr arbeiten können oder nicht mehr arbeiten wollen.

Das Reproduktions-"Modell Deutschland" kann auch beschrieben werden als "keynesianisches Dreiergespann" aus Fortschritt-Sozialstaat-"keynesianischer Sozialcharakter". Der Bruch des Modells ist demnach ein dreifacher: "Fortschritt" als Modernisierung für die Weltmarkt-Fitness von Kapital und Arbeitskraft plus Abfederung der sozialen Schwächen plus Umverteilung auf den "Sozialpartner" ist zum Fortschritt über Leichen geworden. Ein Fortschritt über Leichen der Dritten Welt, zerstörerisch gegen Natur und "innere Natur" auch hier, war er schon von jeher. Nun aber kommt der ehemalige "Partner" unter die Räder. Die Kerntruppe des "Modells", die Leistungsfähigen, Inländischen, "Garantierten" werden in die Zange von Abgruppierung, Wegrationalisierung und Erpressung zu materiellem Verzicht genommen.

Der Sozialstaat, der alles flicken und zusammenhalten sollte, setzt auf Privatisierung des sozialen Risikos, auf Ellenbogen und auf die Kräfte des individuellen Geldbeutels. Gesellschaftliche Sicherheiten, waren sie auch noch so fremdbestimmt und selektierend, werden durchlöchert. Und die Gruppen jenseits des "Kerns", die der Sozialstaat existenzfähig, leistungsbereit und bei Laune halten sollte, werden zunehmend Opfer von Armut, Ausgrenzung und Entmündigung. Dem "keynesianischen Sozialcharakter" ("KSC") hat die Krise alle Vollbeschäftigungs-Sicherheiten und Aufstiegs-Lebensperspektiven zerschlagen. Mit dem "KSC" ist der modernisierte Nachfahre des calvinistischen Arbeits- und Aufschub-Sozialcharakter gemeint. Er steht für einen prekären Kompromiß zwischen "Produktionsmoral" und "Konsumtionsmoral" (Brückner). Er steht für die Balance zwischen verinnerlichter Selbstinstrumentalisierung und "repressiver Entsublimierung". Der "KSC" funktioniert innerpsychisch im Tausch: Selbstdomestizierung gegen Waren-Glück, ist getragen von produktivistischer Allmachtsphantasie und beruhigt von der Sicherheit institutionell-professionalisierter Sorge für den Fall des Falls ... Diesem "KSC" ist der materiell-gesellschaftliche Boden weggerutscht. Die keynesianische "kompensatorische Mentalität", die sich für den Arbeitsverschleiß mit Warenglück entschädigt und sich für den Notfall auf den Staat verläßt, ist massenweise angeknackst. Der "keynesianische Zirkel" aus Modernisierung, Subsidiarität und Kompensation ist zerbrochen; mit ihm ein "Modell" der Bedürfnisse und des "Sinns". Das entstandene Vakuum und die Angst versucht die rechte "Wende" mit der neu-alten "Werte"-Ordnung und "Aufschwungs"-Hoffnung zu besetzen.

Diese "Wende", auf den Trümmern des "keynesianischen Modells" bedeutet zweierlei: Sie soll ein Durchbruch durch die Schranken des alten Modells sein, durch den Ballast sozialpartnerschaftlicher Regulierungen und "Abfederungen". Das Nachfolgemodell soll "Modell Arbed-Saarstahl" heißen: Exemplarisch wurde hier vorexerziert, wie man mit Arbeitslosigkeit erpressen kann, wie man spalten und die einen Opfer gegen die anderen mobilisieren kann, und wie man kollektiven Interessenvertretungen das Kreuz bricht. Zum ökonomischen Durchbruch, zur neoliberalen Krisenlösung durch Profit-Aufschwung, muß sich der sozialpolitische und "geistige" Durchbruch gesellen. Gegen "falsche" gesellschaftliche Sicherheiten müssen sich individuelle, konkurierende durchsetzen. Die alten-neuen Werte von Leistung, Pflicht, Härte sind der Versuch, den "Boden" der Gesellschaft neu zu ordnen. Die zweite Seite der "Wende" ist die Ausbeutung der Erosion von "Fortschritt" und keynesianischer Sicherheit. Es ist der Versuch einer Neuordnung durch Spaltung, eine Politik des Opferns und der Angst. Es ist tendenziell der Versuch einer populistischen Mobilisierung auf der Basis sozialdarwinistischer bis rassistischer "Sinnstiftungen". Das offensichtliche Scheitern der kompensatorisch-verstaatlichten Sicherheit soll das "ganz Alte" mit Zukunftshoffnung besetzen: die alten Sicherheiten in geschönter Erinnerung, die Moral von Leistung und Verzicht, die "Natürlichkeit" der Ungleichheiten von Frau und Fremden, die Sicherheit im Schoß der Familie, wo draußen der Staat wacht...

Wir können hier nicht alle Facetten dieses Reproduktionsmodells untersuchen. Statt dessen konzentrieren wir uns im folgenden auf die Brüche im Sozialstaat. Dabei gehen wir davon aus, daß die Krise des Sozialstaats - hinter Finanz- und Bürokratieproblemen und durch diese hindurch - eine qualitative Krise ist. Wir haben es mit einer Krise der "kompensatorisch instrumentellen Rationalität" des Sozialstaates zu tun, und zwar in dreierlei Hinsicht:

- Der Sozialstaat als kompensatorischer Mechanismus, als Reparatur scheitert zunehmend an der Quantität und an der "chronischen" Qualität der sozialen Krisenerscheinungen. Die subsidiäre Funktion konzentriert sich zunehmend auf die leistungsbereiten, arbeitsfähigen Gesellschaftsgruppen und spaltet damit zunehmend "Nicht-leistungsbereite", Jugendliche, Frauen, Ausländer, Kranke, Kriminelle usw. ab. Für die dauerhafte Bearbeitung dieser ausgegrenzten Gruppen reichen die zur Verfügung stehenden kompensatorischen Mechanismen nicht aus.

- Die kompensatorischen Apparate und die instrumentelle Rationalität der Institutionen des Sozialstaats stecken in einer Krise: anstaltsförmige Institutionen der Heilung haben das gesellschaftliche Leiden nur separiert und verdoppelt. Die "Naturbeherrschung am Menschen", in Form einer technizistischen Medizin, verhält sich - wie aller kapitalistischer Fortschritt - abstrakt und gleichgültig und schlägt um ins Zerstörerische. Die bürokratische Zerstückelung, die sozialstaatliche Rationalität vom "Fall", quantifizierter Leistung, Kontrolle und Abschreckung schiebt die Krisenopfer nur hin und her. Die im "Modell Deutschland" vorherrschende ideologische Überformung der Tatsache, daß "Hilfe" zugleich auch immer Herrschaft ist, erfährt nun eine neue/alte funktionale Begründung: Es ist nun wieder viel von Selbstverantwortung, von Schuld, von Mutter und ideologischen Attributen die Rede, die die Sozialstaatsapparaturen entlasten.

- Der dritte Aspekt der Krise ist vielschichtig. Man könnte ihn die Krise der durch Konsumtion zu befriedigenden Bedürfnisse und durch "gleichgültige" Lohnarbeit erworbene Sicherheit nennen. Einmal besteht die Krise in der oben genannten Erosion des "keynesianischen Sozialcharakters" im allgemeinen. Zum anderen sind es aber die immer deutlicher werdenden gesellschaftlichen Bedürfnisse, mit sich, mit seinem Körper, mit dem Leiden, mit Beziehungen selbsttätig und selbstbestimmt umzugehen. Verweigert wird ein Objektstatus gegenüber den Sozial-Weißkitteln. Die Verweigerung des "Sinns" aus der Selbstinstrumentalisierung (in der Arbeit und durch Bedürfnisaufschub) geht tiefer und ist breiter, als dies in Selbsthilfe und Alternativeszene zum Vorschein kommt. Zu denen, die nicht mehr "aktiv proletarisiert" sein wollen, werden jene hinzu gezwungen - häufig mit verbitterter und aggressiver Distanz zu diesen "Faulen", "Arbeitsscheuen" oder "Ausländern" -, die alle Prozesse der aktiven Proletarisierung durchlaufen haben und auch arbeiten wollen, aber nicht mehr können - sei es, daß sie erst gar nicht in den Produktionsprozeß hineingelassen werden (Jugendliche), sei es, daß sie aus dem Produktionsprozeß herausfliegen (Arbeitslose).

3. Sozialpolitische Perspektiven - "Stränge" in der Diskussion der WIDERSPRÜCHE

Vor diesem Problemaufriß (sozial-)politische Perspektiven zu formulieren, ist in der Regel schwieriger als eine entsprechende Analyse der Probleme zu verfertigen. Derartige Perspektiven müssen Alternativen zur ruinierten Sicherheit aus Reparatur, Anstalt, weißem Kittel und protestantischem Ethos sein. Sie müssen die bereits praktisch gewordene Kritik am Herrschaftscharakter und den Widerstand gegen die rechte Alternative, gegen Privatisierung und Sozialdarwinismus verbinden. Und: Alternativen müssen an die Ursachen gehen, müssen die Produktion von sozialem Leiden verhindern ohne gleichgültig zu sein gegenüber dem bereits existierenden Opfern und Zerstörungen. Das wenige, was eine Zeitschrift zu diesem Programm leisten kann, haben wir versucht, in drei (Diskussions-) "Strängen" zusammenzufassen.

Der erste Strang beinhaltet: Orientierungen gegen die vorfindbaren Spaltungen in der Gellschaft und deren Analyse: Die Spaltung in Klassen, die Spaltung in Arbeitende und Nicht-Arbeitende; in die Generationen; Ausländer und Deutsche; Kranke, Gesunde; "Abweichende" und "Normale". Dabei geht es uns nicht nur darum, diese Spaltung zu beklagen, sondern auch zu untersuchen, welchen Anteil die Einrichtungen des Gesundheitswesens, der Schule, des Ausbildungssektors und der Institutionen der Sozialarbeit daran haben. Insgesamt interessieren uns also hier die gesellschaftlichen Mechanismen, die Spaltungen möglich machen und die Perspektiven, die diesen Spaltungen entgegenwirken können.

Der zweite Strang bezieht sich auf den strukturellen Konflikt zwischen Hilfe und Herrschaft, der in den Bürokratien und Agenturen des Sozialstaates unlöslich miteinander verbunden ist. Die Orientierung aller sozialstaatlichen Leistungen an der ideologischen Figur des leistungsbereiten Lohnarbeiters läßt jeden Menschen, der diesem Bild nicht entspricht, zu einem Menschen mit Defiziten werden. Diese Defizite müssen herrschaftlich so verwaltet und organisiert werden, daß keine Lebenssituation entstehen kann, die eine lebbare Alternative zur Lohnarbeiterexistenz wäre. Deshalb muß mit jeder "Hilfeleistung" ein diskriminierendes, entsolidarisierendes und parzellierendes Moment verbunden sein. Wenn schon dieser Widerspruch auf der Ebene der Logik der Institutionen nicht zu lösen ist, so versuchen wir, neben der Analyse dieses vielfältigen Phänomens, immer wieder auch Perspektiven aufzuzeigen, in denen der Konflikt nicht allein auf dem Rücken der Betroffenen ausgetragen wird.

Im dritten Strang geht es um die herrschenden Vorstellung von Gesundheit, Normalität, Leistungsbereitschaft usw. - diese sind eben die Vorstellung der Herrschenden. Gegen die bis in unsere Denk- und Lebensformen hineinreichende Hegemonie der bürgerlichen Gesellschaft versuchen wir, antihegemoniale oder alternativ-hegemoniale Tendenzen zu unterstützen und zu entwickeln. Denn ohne eine solche Perspektive sind z. B. Reformversuche in den Institutionen technokratische Handwerkelei und bestenfalls Kleister für Spaltungen.

3.1 Erster Strang: Gegen Spaltungen der Gesellschaft - Soziale Garantie

Die erste Perspektive, für die wir in Zukunft arbeiten müssen, ist, eine soziale Garantie gegen Armut, Ausgrenzung, Angst und Erpressung, also gegen die Spaltungen zu entwickeln und zu fordern. "Soziale Garantie" meint eine egalitäre Strategie von Mindest-Einkommen, unabhängig von der Lohnarbeit. Es geht darum, Mindest-Festbetrage bei Arbeitslosengeld und -hilfe, bei der Sozialhilfe und den Renten als Gegenmittel gegen die "soziale Rutschbahn" (vom Arbeitslosengeld über Arbeitslosenhilfe in die Sozialhilfe...) in Armut und materielles Elend durchzusetzen. Mindesteinkommen ist e i n Gegenmittel gegen das repressive "Gravitationsgesetz" des Sozialstaats und seine Propagierung ist zugleich ein Kampfbegriff gegen das Absinken, gegen Arbeitszwang und Zwangsarbeit (in der Sozialhilfe).

Mindesteinkommen, unabhängig von Lohnarbeit würde auch bedeuten, sich von der "Leitfigur" der sozialstaatlichen Sicherheit, dem Lohnarbeiter - und dessen Arbeitsfähigkeit - unabhängig zu machen. Andere gesellschaftliche Tätigkeiten: Hausarbeit, Ausbildung, sinnvolle und selbstbestimmte Tätigkeit, jenseits herrschaftlich anerkannter Produktion, müßten von der "Sozialen Garantie" abgesichert werden.

Eine in einem garantierten Mindesteinkommen sich ausdrückende soziale Garantie wäre ein reales "soziales Netz" und könnte verhindern, daß die Opfer - wie auch die potentiellen Opfer - zum Spielball von Angst, Erpressung und Ausgrenzung gemacht werden. Damit wird aber der "stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse" angegriffen: Die Forderung von Mindesteinkommen geht an die die bürgerliche Gesellschaft und ihre Herrschaftstrukturen legitimierende Grundlage: das Leistungsprinzip. Damit wird auch der Boden für die Legitimation von Hierarchie und Aufschub-Moral, für die Motivation zu fremdbestimmter Arbeit brüchig. Andererseits wird aber auch die Form der Vergesellschaftung in der bürgerlichen Gesellschaft berührt: Die formale Gleichheit des sich über Markt und Tausch sowie Eigentum konstituierenden bürgerlichen Rechtssubjekts ist durch die für immer mehr Menschen gegebene Unmöglichkeit, ihr lebendiges Arbeitsvermögen auf dem Markt zu tauschen, d. h. durch ein Zerfallen der Lohnarbeiterfigur, tendenziell gefährdet. Damit nicht hinter diese formale Gleichheit zurückgefallen wird, ist es wesentlich, die Bedingungen anzugeben, wie eine Spaltung der Gesellschaft in solche, die ihre Ware Arbeitskraft verkaufen können und denen daher volle Rechtsfähigkeit zukommt, und solche, die dauernd davon ausgeschlossen sind und daher nur eingeschränkte Rechtsfähigkeit besäßen, verhindert werden kann.

Eine Strategie des Bruchs wird hier nötig sein, weil die keynesianischen Sicherheiten bröckeln und weil angesichts der christlich-liberalen Politik der Angst Gegenstrategien gefunden werden müssen.

Eine "soziale Garantie" ist noch keine umfassende neue "Sicherheit". Sie kann nur den Boden absichern, auf dem alternative Sicherheiten und neue soziale Beziehungen entstehen und gedeihen können. Trotzdem gibt es qualitative Wirkungen: Die "soziale Garantie" kann ein Stück Freiheit zur Selbstbestimmung sein, beispielsweise zur Entscheidung für eine Alten-WG und gegen Heim mit Pflegesatz, Taschengeld und Amt dahinter, oder: für eine Jugend-WG' als Alternative zu Familie und Erziehungsheim.

3.2 Zweiter Strang: Gegen die " Hilfe-Herrschaft"-Logik: Produzenten-Sozialpolitik

Um dem Janus-Kopf von Hilfe und Herrschaft von beiden Seiten ins Gesicht zu schlagen, müssen Formen und Inhalte von einer "Produzenten-Sozialpolitik" gefunden werden, die hilfreich, aber nicht beherrschend sind; individuell zureichend, aber nicht parzellierend; Lebenszusammenhänge stützend, aber nicht kompensatorisch; und die wirkungsvoll, aber nicht herrschaftlich funktional sind.

"Produzenten-Sozialpolitk" ist der Arbeitstitel für eine Strategie, die selbst bestimmt, was das psychisch-soziale Problem ist, und die eingreift in die Bedingungen im Bereich der Verursachung selbst. Das Beispiel "Arbeitermedizin statt Arbeitsmedizin" (in Italien, auch in der BRD) macht deutlich, daß die Alternative zur Kompensation eine selbständige "Prävention von unten" wäre, also der Kampf gegen krankmachende Arbeit und Arbeitsbedingungen in der Perspektive der Kontrolle und ökologisch-humanen Konversion der Arbeit.

Fassen wir den "Produzenten"-Begriff weiter und verstehen wir darunter alle, die ihre Lebenszusammenhänge, Krisen und Probleme kollektiv und öffentlich bearbeiten und ändern wollen, so geschieht "Produzenten-Sozialpolitik" auch in vielen anderen Bereichen. Genannt seien hier die Frauenhäuser. Sie entstanden, als das Problem der Gewalt gegen Frauen aus dem Individuellen und Privaten heraus geholt, öffentlich gemacht und von Frauen gemeinsam bekämpft wurde. Noch ein weiteres Kriterium von "Produzenten-Sozialpolitik" läßt sich an diesem Beispiel verdeutlichen: Wer hat die Macht zur Definition des Problems? Sind es die Sozialämter, die den Frauen den individualisierenden und diskriminierenden Stempel der "hilflosen Person" aufdrücken wollen, oder sind es die Frauen selbst, die die Gewalt gegen Frauen als das, was sie ist, anprangern: als ein gesellschaftliches Problem - und entsprechende gesellschaftliche Anerkennung fordern, einschließlich der Anerkennung der Verfügung über die Mittel und Inhalte der Frauenhausarbeit. Und ein Letztes macht dieses Beispiel deutlich: den Umgang mit Experten/innen. Statt durch Statusdifferenzierungen und herrschaftliche Hierarchie in die bürgerliche Hegemonie eingebunden sind hier die Expertinnen/en in einen lebendigen Diskussionszusammenhang einbezogen, der "von unten" kontrolliert, der vor Vereinzelung, Machtanhäufung und unausgewiesenen Normalitätskriterien schützt.

3.3 Dritter Strang: Gegen sozialstaatliche Hegemonie: Selbstbestimmte Vergesellschaftung im Sozialstaat

Die im Sozialstaat vorfindbare Vergesellschaftung in Form von Verstaatlichung und Bürokratisierung ist das Lebenselixier bürgerlicher Hegemonie: Herrschaft braucht nicht als solche benannt werden, sondern vollzieht sich durch die Organisationsstrukturen selbst. Konservative Selbsthilfe-Ideologen setzen denn hier auch konsequent an, indem sie die Apparate unbehelligt lassen und stattdessen die Problembetroffenen "ermuntern", sich selbst zu helfen. Selbstbestimmte Vergesellschaftung im Staat, das klingt fürs erste paradox: Es geht um eine umfassende Transformation der Institutionen, letztlich des Staates selbst, mit dem Ziel alternativer Vergesellschaftungsformen.

Hintergrund dieser Transformationsstrategie ist das "Konzept" und der Begriff von "Hegemonie" von Antonio Gramsci: Wenn sich Herrschaft nicht in Eigentumstiteln und Verfügung erschöpft, sondern sich in Arbeitsteilungen, Geschlechterhierarchien, in "Ordnungen des Wissens", in Bedürfnissen und Kulturen vergegenständlicht hat, wenn die Institutionen permanent Herrschaft als "bürgerliche Hegemonie" reproduzieren, dann muß es in einer gesellschaftlichen Alternative um eine "alternative Hegemonie" gehen. Soziale Beziehungen, jenseits der kapitalistischen Vergesellschaftung, Verhältnisse zu Natur und Körper jenseits der Wert-Abstraktion, Produktionsbeziehungen jenseits von Geschlechterarbeitsteilung und kapitalistischen "Produktivitäten" - das sind bereits praktisch gewordene Stränge einer Alternative, welche in den "Stellungskrieg" (Gramsci) um die Hegemonie in den Institutionen verwickelt ist.

"Alternative Hegemonie", das hieße: Öffnung der Institution gegen anstaltsartige Ausgrenzung und Partialisierung, Veröffentlichung von Bedürfnissen und Konflikten, gegen heimliche und unheimliche Methoden und therapeutische "Geheimverfahren", hieße Selbstverwaltung statt Hierarchie und Objektstatus.

"Produzenten-Sozialpolitik" wäre eine Strategie der Aneignung bisher herrschaftlich verstaatlichter Bereiche der Reproduktion; die "Alternative Hegemonie" wäre die Aneignung in den Institutionen des Staats und durch sie hindurch. Anders vergesellschaftete "Lösungen" sind gefordert, die sich nicht abdrängen ließen in alternative Privatisierung. Es wäre eine selbstbestimmte, vergesellschaftete Sicherheit, die eine dualwirtschaftliche "Entschärfung" nicht mitmachte, sich irgendwo "informell" zu tummeln, abgespalten, machtlos und immer noch kompensatorisch gegenüber dem "formellen" Zentrum der immer noch herrschenden Vergesellschaftung.

Das umrissene "Konzept" der Transformation und der "alternativen Hegemonie" wirft verschiedene Fragen und Probleme auf, die Über den Bereich der Sozialpolitik hinausgehen:

1. Das "Konzept", die Transformation muß und kann abgegrenzt werden gegenüber reformistischen Strategien, seien es solche des "Marschs durch die Institutionen", seien es "politizistische" bis putschistische Strategien der "Übernahme" (des Staats). Die Stärke des Gramscischen Hegemonie-Begriffs ist es gerade, nach dem "Tiefgang" gesellschaftlicher und politischer Herrschaft zu fragen, Herrschaft in der Kultur, im Alltagsleben und Beziehungen zu dechiffrieren. Entsprechend muß ein Transformationsprozeß Alternativen formulieren und zur gesellschaftlichen Synthese bringen: in einer pluralistischen Kultur gegen soziale, ethnische, generationsmäßige Spaltungen, in den ehemals herrschafts-konstituierenden Institutionen, indem diese besetzt und vergesellschaftet werden.

2. Ist das Gramscische Konzept der Hegemonie übertragbar? Richtig ist, daß Gramscis Überlegungen von einer historischen Situation ausgehen, in der eine revolutionäre betriebliche Bewegung an der Transformation von Gesellschaft und Staat gescheitert war. Richtig ist, daß Gramscis Bild des herrschenden Blocks und dessen Hegemonie (Religion, Paternalismus) historisch bestimmt ist. Sicher steht es heute und hier um betriebliche Gegenmacht anders. Aber werfen nicht neue Bewegungen, beispielsweise die um "Alternative Produktion" und "Konversion", die sicher von außerbetrieblichen (ökologischen und friedensbewegten) Alternativen induziert sind, welche in einer Sackgasse gewerkschaftlicher Politik fruchtbar werden, die Frage der "Hegemonie" neu auf? Und zweitens: Die herrschende Hegemonie hat sich sicher verändert, angesichts von Konsumismus, Medien, demokratischen Politikritualen. Aber ist nicht das Grundmuster der herrschenden Hegemonie: Individualismus, Selbstverantwortung ähnlich, geradezu aktualisiert und "organisiert" in der "Wende"? Die Gramscische Forderung nach einer Synthese und Kultur der Alternative ist die unsrige, auch wenn historische Ausgangsbedingungen wie Klassenstruktur, "Lager" als mögliche Anknüpfungspunkte fast verschwunden sind.

3. Nehmen wir den Einwand gegen "Transformation" und Hegemonie" ernst, der lautet: Eine wesentliche "Organisationsstruktur" bürgerlicher Herrschaft ist der Gewaltapparat Militär und Polizei. Schon unter unter der Herrschaft der sozialliberalen Koalition (und davor: Notstandsgesetze) wurde der Sicherheits- und Repressionsapparat ausgebaut. Diverse Polizeieinsätze in den 70ern und 80ern (Anti-AKW, Häuserkampf, Startbahn-West) zeigen, daß der Polizeiapparat auch dazu da ist, quasi prophylaktisch dafür zu sorgen, daß die Teile der Gesellschaft, die in zugespitzten Situationen rebellieren, mit allen Mitteln klein gehalten werden sollen. Bürgerliche Herrschaft stützt sich nicht nur auf verdinglichte, verrechtlichte, bürokratische Verhältnisse, sondern auch auf ordinäre Polizeimacht, die im Notfall mit aller Gewalt Herrschaft sichern soll. Diese Gewaltapparate transformieren? Wo gibt es da Ansatzpunkte? Welche Bedingungen müssen (von wem?) geschaffen werden, um die "Gewaltschwelle" des Staats zurückzudrängen? Die Frage der Gewalt und der "Gewaltschwelle" stellt sich in der Tat, aber sie stellt sich als praktisch-politisches Problem und zwar in dreierlei Hinsicht:

  • Wie lassen sich die "Räume der Legitimität" in der Gesellschaft ausweiten, wie ist der "Stellungskrieg" um Hegemonie jenseits gewaltförmiger, verrechtlichter, verstaatlichter gesellschaftlicher Beziehungen zu verbreitern?
  • Wie können wir erreichen, daß in einer Situation der "Doppelherrschaft" die Gegenseite nicht mehr Gewalt anwenden kann (Loyalitäten unterhöhlt), sich aber auch nicht traut?
  • Wie sind bisher verstaatlichte Funktionen der Sicherheit, der Rechtssicherheit usw. qualitativ anders zu vergesellschaften, damit sich die sozial-psychologische Massenbasis des "Draufschlagens", für "Ruhe und Ordnung" vermindert?

Nur alternative Erfahrungen und Praxen der Konfliktregelung können der Ordnung von oben Loyalitäten und massenpsychologische "Besetzung" (als monopolisierte Stellvertretung individueller Lüste) entziehen! Diese Transformationsstrategie ist nicht blauäugig - aber sie verweigert sich einer "Logik des Endkampfes", die uns die Herrschenden immer wieder aufzwingen wollen. Es gibt hier keine Garantie für Gelingen und Erfolg. Aber wir haben begriffen, daß eine gesellschaftliche Alternative nicht im "Erobern" und "zerschlagen" bestehen kann. Transformation bricht mit allen Zusammenbruchs- und Verelendungstheorien. Sie zielt auf einen pluralistischen "Block" alternativer Hegemonie in Lebens- und Arbeitsformen gegen die herrschende Politik und Kultur der Angst und Ausgrenzung. Wie wir mit Ungleichzeitigkeiten, Kulturschranken in den Bewegungen der Gegenmacht in den beiden Machtzentren: Betrieb und Staat umgehen, Gegenmacht gegen Ausspielen und repressive Begradigungen absichern, sind praktische Fragen, weder geschichtslogisch noch aus historischen Erfahrungen ableitbar. Insofern gilt auch hier "Pessimismus der Analyse, Optimismus des Wollens" (Bloch).

4. Von alternativer Sozialpolitik zu einer Alternative zur Sozialpolitik: Ökosozialistischer Umbau von Produktion und Ökonomie

Die drei genannten Perspektiven bewegen sich noch weitgehend in den kapitalistisch vorgegebenen und vorgängigen Vorstellungen der Sozialpolitik. Sie sind insofern eine alternative Sozialpolitik, aber noch keine Alternative zur Sozialpolitik.

Jede "selbstbestimmte Vergesellschaftung" wird ins kompensatorische Elend zurückfallen, die "Produzenten-Sozialpolitk" wird betrieblich oder institutionell zersplittert und ausspielbar bleiben, eine "Soziale Garantie" soziale Spaltungen nur erträglich machen, wenn nicht ein "Umbau" der Produktion und Produktionsweise gelingt. Gegen Arbeitslosigkeit und die Rationalisierungswellen, gegen die Angst und Erpreßbarkeit der Opfer - als Grundmaterial für "Wende" Opferbringen und "Aufschwung" - wird nur eine ökonomisch-politische Alternative gewinnen können: ein Projekt eines alternativen Ausgangs aus der Krise!

"Ausgang" bedeutet zweierlei: Es muß eine Perspektive des Austiegs aus der zerstörerischen Logik der Weltmarkt-Modernisierung geben; Arbeitsteilung, Produktivitäten, Technologien, die Produktivkräfte selbst müssen "umgebaut" werden. Und der "Ausgang" muß für die Menschen begehbar sein; die Alternative muß kurzfristig gegen Deklassierung und Ausgrenzung "wirken". Die zerstörerische Intensivierung der Arbeit zurückdrängen, Arbeit umverteilen, ökologisch-sozial verträgliche Arbeit schaffen - das sind Gegenmittel gegen die Spaltung und Atomisierung der Gesellschaft, nur so kann es soziale und politische Spielräume geben. Der ökosozialistische Umbau wäre eine Kombination aus:

  • Arbeitszeitverkürzung in Verbindung mit Kontrolle über Intensivierung, Rationalisierung und Beschäftigung,
  • ökosoziale Arbeitsbeschaffung mit der Perspektive eines selbstverwalteten aber nicht "dualen" Sektors,
  • ökologische Zukunftsinvestitionen in Form von Subventionen für "alternative Produktion" und Konversion, gegen Weltmarkt-Modernisierung, gegen AKW- und Kabel-"Zukünfte".

Die Nagelprobe auf eine derartige "Umbau"-Perspektive ist der Kampf für die 35-Stunden-Woche: Es muß uns gelingen, eine gesellschaftliche Mobilisierung um die betrieblich-gewerkschaftliche herum zu schaffen, eine Mobilisierung für die Verteilung der Arbeit, für die Durchsetzung von betrieblichgewerkschaftlicher Kontrollmacht über Intensivierung, Rationalisierung und Beschäftigung. Dabei dürfen wir uns nicht in Qualitätsfragen verhakeln: Lohnausgleich bis ganz "oben" hin, Beschäftigungswirkungen, wo man irgendwelche Prozentsätze irgendwie "erwartet". Es wird eine gesellschaftliche Mobilisierung für Produzentenkontrolle mit dem Ziel einer ökologisch-sozial-friedlichen Konversion der Arbeit sein müssen, für Verteilung und Befreiung von Arbeit - oder es wird sich wenig bewegen.

Ähnliches gilt für die sozialpolitische Alternative: Sie wird nur dann eine werden, wenn der Ausbruch aus dem kompensatorischen Mechanismus gelingt, wenn sich selbstbestimmte kollektive Formen der sozialen Sicherheit und sozialen Beziehungen im gesellschaftlichen "Handgemenge" zusammenfinden und einen "Stellungskrieg" im Staat durchfechten, die Staatsapparate "instandbesetzen".

Alternative soziale Sicherheit hieße, die zerstörerische Modernisierungslogik im "Machtzentrum", in Technologie, Arbeitsteilung, kapitalistischer Vergesellschaftung zu kontrollieren, "umzubauen" und den bereits Opfer gewordenen Lebensperspektiven jenseits von Spaltung, Angst und Sündenbockprojekten zu ermöglichen.

Alternative soziale Sicherheit hieße aber auch, die weitere Politisierung, Popularisierung und Propagierung der sozialen Garantie, der Produzenten-Sozialpolitik und ihrer Vernetzung in einem anti-hegemonialen pluralistischen Block. Unsere Kritik des kapitalistischen (Sozial-) Staats muß sich verbinden mit einer Kritik der bisherigen sozialistischen, kommunistischen und grünen Organisationsformen. Unter den gegebenen Bedingungen kann eine anti-hegemoniale Umwälzung nur von einem Block geleistet werden, in dem es keine selbsternannten Eliten und Führungsgruppen gibt. Wir streben eine "Hegemonie ohne Hegemon" an.

5. Vorschläge

Vorschläge zu entwickeln, die andere durchführen sollen, sind viele zu machen. Wir beschränken uns hier auf drei Aktionsvorschläge, an denen wir - die Widersprüche-Redaktion - auch mitarbeiten werden.

5.1 Lokale "Sozialforen"

Die Initiativen und Gruppen, die sich auf lokaler Ebene mit der Rotstiftpolitik herumschlagen, stehen mit dem Rücken zur Wand, jeder versucht für sich das Beste herauszuholen. Eine gemeinsam getragene Politik ist bisher weder formuliert noch findet eine Kooperation statt. Der mit den Kürzungen im Sozial- und Bildungsetat einhergehenden Politik der Spaltung und Ausgrenzung wurde bisher noch nichts Relevantes entgegengesetzt. Den Gewerkschaften fällt neben den verbalen Protesten gegen den Sozialabbau auch nicht mehr ein als die Besitzstandswahrung der noch Beschäftigten. Selbst dies gelingt nicht mehr wie in früheren Jahren.

Der Spaltung und Ausgrenzung muß aber auf lokaler Ebene Widerstand entgegengesetzt werden. Ein praktischer Ansatzpunkt könnte die Bildung von Sozialforen sein. Dabei geht es nicht darum, einen neuen, organisatorischen Verein aus der Taufe zu heben, sondern schon vorhandene Initiativen sollten erst einmal zusammenkommen und versuchen, gemeinsame politische Initiativen zu entwickeln. (Defensive Strategie bezogen auf die Verteidigung sozialpolitischer Errungenschaften). Hier ließen sich auch Verbindungen zum Kampf für eine 35-Stunden-Woche herstellen, ohne die Aktivitäten diesen unterzuordnen.

Diskussion um die "Soziale Garantie"

Wir beobachten, daß die Diskussion in so verschiedenen politischen Zusammenhängen und auf verschiedenen politischen Ebenen wie Arbeitslosenbewegung, Rentenforderungen der "Grauen Panther" und der GRÜNEN stattfindet. Noch bestehen kaum Verbindungen; Kontroversen werden kaum ausgetragen. Wichtig wäre es, eine übergreifende Diskussion in der links-alternativen-grünen Öffentlichkeit anzuzetteln. Wichtig wäre es, aus der allgemeinen Linie "Mindesteinkommen" populäre und die Institutionen in Zugzwang setzende "Übergangsforderungen" zu entwickeln, auf die sich Sozialhilfeempfänger, Rentner wie Schüler beziehen könnten.

Initiative zu einem "Bildungstag"

Die sozialpolitische Diskussion und erweitert, die Debatte um einen neuen Zusammenhang von Arbeit und Leben kann dem Bereich der Qualifikation, der Bildung und Ausbildung nicht ausweichen. Doch gerade hier herrscht große Verunsicherung, die zu sich nicht-einmischender Verweigerung oder zu vorschnellem Kompromiß (z. B. Parkmaßnahmen auf alternativ?) verleitet. So manche dunkle Vergangenheit ("Reformeuphorie") und manch böses Erwachen aus technokratischen Verschulungsträumen blockieren hier Diskussion und Praxis. In diesem auch von den Linken in den letzten Jahren vernachlässigten Bereich, türmen sich mittlerweile die Reformruinen (Gesamtschulen), greift die konservative Wende (Hochschulpolitik, Elitenförderung) und ergeben sich neue Herausforderungen (Massenarbeitslosigkeit, neue Technologien). Hier überhaupt eine Bestandsaufnahme vorzunehmen, die unterbrochenen Diskussionen und Auseinandersetzungen wieder aufzunehmen, die Fragen neu zu stellen und Antworten zu finden, wäre eine dringende Aufgabe. Ein erster Schritt könnte ein analog dem/den "Gesundheitstag(en)" zu organisierender "Bildungstag" sein.

Verteilen - Diskutieren - Handeln

Unser Strategiepapier ist als ein Diskussionspapier gedacht. Beteiligt Euch an dieser Diskussion, verteilt diesen Sonderdruck, setzt Euch mit anderen Gruppen zusammen.

Der 16-seitige Sonderdruck ist erhältlich: gegen Voreinsendung von DM 2,- pro Exemplar; ab 10 Ex. DM 1,50; ab 50 Ex. 1,-; über Redaktion "Widersprüche", Sozialistisches Büro, Postfach 591, 605 Offenbach.

Zuschriften, Diskussionsbeiträge zu diesem Strategiepapier werden wir in den folgenden "Widersprüche"-Heften veröffentlichen.

1984 | Inhalt | Editorial | Leseproben: 1 & 2