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Heft 18: Im Osten nichts Neues? Über den realen Sozialismus in der DDR

1986 | Inhalt | Editorial | Leseprobe

Titelseite Heft 18
  • April 1986
  • 96 Seiten
  • EUR 7,00 / SFr 13,10
  • ISBN 3-88534-036-4

Zu diesem Heft

"Aus dem Osten nichts Neues?" Diese Frage stand ziemlich am Ende einer langen Diskussion um Alternativen zur herrschenden Sozialpolitik, aus der unsere Thesen zur alternativen Sozialpolitik, aus der unsere Thesen zur alternativen Sozialpolitik (Heft 11) und zum Mindesteinkommen (Heft 15) hervorgegangen sind. Wir kamen auf diese Frage, nachdem wir uns einen ersten Überblick über ausländische Sicherungsmodelle verschafft hatten. Überall konnten wir die gleiche Tendenz feststellen: Abbau von Leistungen, Legitimation von Spaltungen und Ausgrenzungen, Reprivatisierung der Lebensrisiken. Zwar sind sowohl Niveau der Leistungen als auch "Niveau" des Abbaus außerordentlich unterschiedlich - gegenüber Thatchers reaktionären Populismus sind die Garantien sozialen Überlebens z.B. in den Niederlanden und Dänemark geradezu sozialdemokratische Traumwelten, trotz der auch dort regierenden Konservativen; zwar gibt es überall Gegenwehr gegen die konservativ-reaktionären Wenden, aber überall ist eine ausgesprochen defensive Orientierung festzustellen. Ein Modell, das über das Motto: "Nicht weniger, sondern mehr desselben" hinausgeht, also soziale Errungenschaften verteidigt, ihre Herrschaftsfunktion kritisiert und zugleich eine offensive Perspektive anbietet, gibt es (noch?) nicht.

Im Westen also nichts Neues. Das lenkt den Blick fast automatisch in die entgegengesetzte Richtung. Und siehe da: Da gibt es ja schon das GME (garantierte Mindesteinkommen), das hier so laut als Ausweg aus der Krise propagiert wird - ein Mindesteinkommen, das sogar noch mit dem Recht auf einen Arbeitsplatz verbunden ist (sagte der eine Teil der Redaktion); ein Mindesteinkommen, das auf Zwang zu entfremdeter Arbeit beruht (meinte der andere). Und da fing die Diskussion an: Warum begeistert uns nicht ein System der sozialen Sicherung, das zwar Druck ausübt (nämlich zu arbeiten), aber doch vergleichsweise viel humaner mit sozialen Gruppen umgeht, die hier auf die soziale Rutschbahn (z.B. Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe) geschoben werden: Alte, Jugendliche, Frauen ...?, das diesen Gruppen den entwürdigenden Gang zum Sozialamt - oder zu den Eltern/Kindern - erspart? Überall, wo wir sonst Regelungen von nicht-diskriminierenden Rechtsansprüchen ausmachen konnten, die über das BRD-Modell hinausgingen (z.B. Niederlande), nahmen wir uns doch diese zum Vorbild, obwohl nirgendwo im Westen auch nur eine im Ansatz vergleichbare Rechtssicherheit des Einkommens wie in der DDR existiert.

Das Problem liegt also tiefer. Es berührt unser Selbstverständnis als Sozialisten. Denn mit jeder positiven Einschätzung der "Errungenschaften des realen Sozialismus" ist natürlich die "Gefahr" verbunden, das System "da drüben" als ganzes zu bejahen - was bei den vielen Vorbehalten und grundsätzlichen Einwänden natürlich auch nicht möglich ist. Wir beschlossen deshalb, uns für unsere weitere Diskussion besser zu wappnen - und fuhren in die DDR, die einen privat, die anderen als Studiengruppe. Wenn auch danach die Kontroversen nicht behoben waren - im Gegenteil, sie wurden teilweise heftiger, da nunmehr erfahrungsgeladen - so ist doch festzustellen, daß wir vieles differenzierter sehen. Gerade das Herausarbeiten von Widersprüchen zwischen der "Vorderbühne" des offiziellen Staates und der "Hinterbühne" des realen Lebens hat uns eine Ahnung davon gegeben, daß "drüben" vieles anders aussieht, wenn man sich bemüht, die Eigenlogik der Entwicklung in einer Gesellschaft zu begreifen, deren Dynamik/Statik nicht auf dem stummen Zwang der Kapitalakkumulation beruht.

Als Versuch eines kritischen Begreifens versteht sich der Artikel von Timm Kunstreich. Unter Rückgriff auf GRAMSCI stellt er die These auf, daß es sich bei der Entwicklung der DDR um eine sich blockierende Transformation handelt, bei der die herrschende Gruppe aus strukturellen und historischen Gründen es bislang nicht vermocht hat, auch zur führenden zu werden. Die Kopie bürgerlicher Herrschaftsformen und die Übernahme kapitalistischer Produktions- und Konsumtionsmuster verhindern ein eigenständiges Basis-Überbau-Verhältnis. Die neue "Hegemonie" ist allerdings in unterschiedlichen Formen und Inhalten erkennbar - wenn auch eingebunden in Widersprüche, deren Aufhebung grundsätzlich offen ist.

Axel Bust-Bartels kritisiert ebenfalls die Orientierung am kapitalistischen Zivilisationsmodell als Schranke sozialistischer Vergesellschaftungsprozesse. Der Schwerpunkt seines Artikels liegt aber in der Darstellung des Umfangs und der Qualität des Systems der sozialen Sicherung. Neben der Kranken- und Rentenversicherung stellt er die Grundzüge des Mutterschutzes, der (quantitativ bedeutungslosen) Sozialfürsorge unter dem Aspekt der Geldleistungen dar. Zusammen mit den nicht-geldmäßigen Leistungen (Recht auf Arbeit, Bildungssystem, Wohnen, Gesundheitswesen, Umweltschutz) hat die DDR ein leistungsfähiges Modell von "Lebensqualität" entwickelt, dessen Funktionsfähigkeit Massenloyalität zu sichern verspricht. Mehrfach weist Bust-Bartels auf die Kontraproduktivität bürokratisch organisierter Dienstleistungen hin, die Initiative und Kreativität betroffener Gruppen blockieren.

Ein anschauliches Beispiel einer derartigen Blockierung gibt Barbara Rose in ihren Reflexionen über das Scheitern einer Fraueninitiative, die versucht hatte, Bildungsarbeit für Frauen im Stadtteil selbst zu organisieren. Warum läßt "der Staat" keine anderen Formen von Vergesellschaftung zu, als die von ihm lizensierten? Warum fürchten die Herrschenden Formen von Kollektivität - trotz gegenteiliger Propaganda? Die Fragen bleiben offen.

Der gesellschaftliche Raum, in dem vergleichsweise größere reale Autonomie besteht, ist der Betrieb. Sowohl in Betriebsbesichtigungen, wie sie Hinnerk Eißfeldt erlebt hat, als auch aus Gesprächen ist immer wieder deutlich geworden, welche große Bedeutung der Arbeitsplatz über den Lohn hinaus hat. Ursula Brucks und Bodo Wahl berichten von ihren Erfahrungen und Kontakten zu Arbeitspsychologen und über deren Funktionen in DDR-Betrieben. Anders als im main-stream westlicher Arbeitswissenschaften, bei denen es im Grundsatz darum geht, die Menschen (per Selektion, Zurichtung, Training) an die Arbeitsbedingungen anzupassen, wird in der DDR der Weg entgegengesetzt beschritten: Auch in hoch-technisierten Betrieben geht es darum, die Arbeitsbedingung im umfassenden Sinne menschengerecht zu entwickeln. An einigen Beispielen zeigen die Autoren praktische Auswirkungen auf.

Den Abschluß des Heftschwerpunktes bilden die Impressionen von Wolfgang Plum über die "preußischen Sozialisten", denen ihre Herrschaft derart gerät, daß sie als Technokraten in "bester" autoritärer Tradition stehen. Geschrieben unmittelbar nach Rückkehr von einer DDR-Reise, erinnert er besonders deutlich an die anfangs erwähnten Kontroversen. Diese werden weiterhin geführt: Die Leserin/der Leser ist herzlich eingeladen mitzumischen.

Hamburg, im April 1986, die Redaktion

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