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Heft 20: In der Wende – Sozialpolitik, Frauen, Bildung

1986 | Inhalt | Editorial | Leseprobe

Titelseite Heft 20
  • Oktober 1986
  • 96 Seiten
  • EUR 7,00 / SFr 13,10
  • ISBN 3-88534-038-0

Zu diesem Heft

Dieses Heft der WIDERSPRÜCHE besteht eigentlich aus zwei Schwerpunkten und bei näherer Betrachtung sogar nur aus einem, so daß die Rubriken hinfällig wären. Im ersten Schwerpunkt werden aktuelle sozialpolitische (Partei-) Entwürfe kommentiert und im Forum geht es um Überlegungen zur Bildung, Pädagogik und Bindestrich-Pädagogik. In beiden Abteilungen werden Bestandsaufnahmen gegenwärtig vertretener Positionen gemacht - quasi eine Inventur, in doppelter Absicht. "Alte", eigene Positionen, wie sie etwa die WIDERSPRÜCHE-Redaktion formulierte, bedürfen einer Rückversicherung und Erneuerung, ohne daß sie bloß wiederholt werden. Das kommt aber umgekehrt einer Neubestimmung gleich, die theoretische und praktische Anknüpfungslinien klärt, denn die reine Willensbekundung zur verändernden Praxis soll überschritten werden. Anknüpfungslinien oder "Stränge" - wie dieses Heft diesmal heißen sollte - müssen gesucht und weitergeführt werden, nur fällt eine solche Aufnahme keineswegs leicht.

Denn der bisher erreichte Diskussionsstand, sofern davon überhaupt im homogenen Sinne die Rede sein soll, wird ja vor allem durch die bestehende konservative Politik und ihre ideologische Vorherrschaft verhindert. Zwar hatte die sogenannte "Wende" in ideologischen Versatzstücken sich lange vorher schon angekündigt, aber die "durchschlagende" Wirkung begann sich erst hinterher zu zeigen. Indem der Konservatismus sich dieser ehemals kritischen Diskussionsstränge bedient, sorgt er für Verwirrung, um gleich im nächsten Moment die gewünschte Neu-Ordnung praktisch anzugehen. Was in diesem so abstrakt und von außen betrachteten Prozeß "neu" oder "modern" ist und was sofort hinter der Fassade "alt" erscheint, mag sich ja noch schnell genug durchschauen lassen und mag natürlich auch Erwartungen bestätigen oder enttäuschen. Aber kritische Aufklärung darüber, die der Neu-Ordnung auch praktisch Entscheidendes entgegenzusetzen hat 'ergibt sich daraus noch nicht selbstverständlich. Es bedarf eines Aneignungsprozesses.

So beschäftigen sich die ersten Beiträge von Niko Diemer, Johanna Gottschalk-Scheibenpflug und Carl-Wilhelm Macke mit diesem Prozeß der Verwirrung und greifen zentrale Elemente, die die gegenwärtige sozialpolitische Auseinandersetzung kennzeichnen, auf.

Bestimmend sind dabei Fragen, ob etwa die CDU/CSU wirklich nur Wahlkampf um noch nicht ausgeschöpfte Stimmenpotentiale von Frauen betreibt. Ob es ihnen um die Ablösung des traditionellen Leitmotivs von "Kinderküchekirche" durch progressive Konfliktförderung geht. Worin besteht die Ambivalenz des "konservativen Feminismus", der hinter dem Thema "Frau zwischen Karriere und Familie" doch nur Varianten alter Ordnung erhofft? Gegen solche konservative "Aufgeschlossenheit" nehmen sich die Positionen in der SPD hoffnungslos aus. In der zweiten Volkspartei scheint man weniger über die Phantasie bei Geißler, Stoiber und Süßmuth zu staunen, als die eigene Einfallslosigkeit achselzuckend hinzunehmen. Die sozialpolitischen Ergüsse aus der SPD belegen exemplarisch, daß die konservative "Hegemonie" einen so starken Themensog auslöst, daß die SPD nur altes rezipiert und mit ein paar müden Anleihen aus den Debatten der GRÜNEN verziert.

Eine solche Bestandsaufnahme soll erst die Voraussetzung für Überlegungen schaffen, wie sie die WIDERSPRÜCHE-Redaktion bisher nur normativ formulieren konnte. Da war die Rede von gesellschaftlicher Transformation, - so selbstbewußt wie ehemals ließ sie sich gar nicht mehr fassen, sondern nur noch in einer bewußt ausgesprochenen Paradoxie. Beispielsweise die alternative "Hegemonie ohne Hegomon" sollte auf einen anderen Sozialstaat hinweisen, - ohne Ausgrenzung und Spaltung, auf Grundlage heterogenster Bewegungen und Ansätze - und ohne das endlos geflochtene Band von Herrschaft und Hilfe. Eine nähere Bestimmung einer "Produzentensozialpolitik", wie sie genannt wurde, zum einen durch immanente Kritik des Sozialstaats und zum anderen aus der auch theoretisch nicht aufhebbaren Vermittlung gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion, steht noch aus. Beides wird aber nicht genügen um die "Produzentensozialpolitik" konkreter erscheinen zu lassen: - unverzichtbar und eben nicht immanent enthalten ist die Reflexion auf die gesellschaftliche Transformation selbst.

Dieser zweite "Strang" für eine produktive Diskussion wird im Forumsschwerpunkt aufgegriffen. Abgelutscht und inhaltsleer vom ständigen Gebrauch diskreditierte sich die Rede von Emanzipation und Aufklärung. Während sie lange zu den undiskutierten Selbstverständlichkeiten und Voraussetzungen sozialer und pädagogischer Berufe gehörten, ist inzwischen nur noch die leere Phrase oder die Tatsache übriggeblieben, daß sie nicht mehr diskutiert werden. Es ist kein Zufall, daß gerade bildungstheoretisch und von der Pädagogik her die Anstrengung unternommen wird, auf diesen Zusammenhang zu reflektieren. Daß Emanzipation und Befreiungen Aufklärung implizieren, daß in konkreter Praxis viel und schnell wirklich "gelernt" werden kann, - diese alltägliche Weisheit ist paradoxer Anstoß für jede bildungstheoretische Überlegung, denn das umgekehrte gilt nicht unbedingt und soll doch immer erzeugt werden. Die beiden konträren Nachlesen zum Bildungstag 1986 von Fred Manke und Rolf Schwendter bestätigen noch einmal, was bereits die Abschlußerklärung (vgl. WIDERSPRÜCHE 18) zum Ausdruck brachte. Die babylonische Vielfalt pädagogischer und aufklärender Konzepte bedarf der Konfrontation untereinander und endgültiger Abschaffung aller selbstgebastelter Gartenzäune zwischen den vermeintlichen Terrains! Vielfalt verrät Beliebigkeit.

Emanzipation und Aufklärung sind der Zusammenhang für die materialistischen Überlegungen von Hans-Jochen Gamm zur Pädagogik: am 14. August 1956 starb Bertholt Brecht in Berlin, - die Wiederkehr seines Todes nach 30 Jahren ist ein Anlaß zur Erinnerung, den Stückeschreiber in diesen Zusammenhang zu stellen. Der Kerngedanke, um den es sich dreht, ist aktuell wie nie: Aufklärung erweist sich als ein Prozeß wider die Enteignung der Gefühle, - damit gerät sie virtuell in Gegensatz zum alltagspsychologisch verfahrenden "Betroffenheits"-Ansatz. In den neuen sozialen Bewegungen ist gerade diese Perspektive gängig, - und auch weiterentwickelt worden. Egon Becker greift den universalen Partikularismus sowie den ebenfalls grassierenden Begriff der "Allgemeinen Bildung" auf und unterzieht sie einer Prüfung. Die drohende ökologische Katastrophe und das Bewußtsein davon haben den als gesichert angesehenen Zusammenhang von Emanzipation und Aufklärung ins Schwanken gebracht, wenn auch nicht aufgehoben. Gerhard Becker eröffnet deshalb die "zweite Runde" nach Armin Bernhard (vgl. WIDERSPRÜCHE 19) für eine Auseinandersetzung um die Ökopädagogik bzw. bildungstheoretische Perspektiven angesichts der ökologischen Krise.

Die angesprochenen bildungstheoretischen Überlegungen weisen weit über den - scheinbaren - Fach"diskurs" hinaus. Denn weniger die Hoffnung auf unmittelbare Wirkung und Wirksamkeit als eher der Bezug auf die gegenwärtig durchgesetzten, gesamtgesellschaftlichen Entwürfe, gegen die sie sich richten müssen, ist wichtig. Dabei ist es geboten, mit liebgewonnenen Vorstellungen aufzuräumen, ohne gleich alles, was jemals gedacht wurde, in Bausch und Bogen zu verwerfen. Karin Dehnbostels Beitrag zur Medienpädagogik liefert hier beispielsweise einen Hinweis: die "Zerstörung der Familie" durch die neuen und alten (Kommunikations-)Medien ist keineswegs bloß ein widersprüchliches "Faktum" für konservative Gegenwartsgestalter, die auf Teufelkommraus verkabeln, vernetzen - und wohl deshalb so krampfhaft nach neuen Familienbildern suchen. Sie gehört auch zu den Beständen linker Entfremdungsrhetorik - wenn auch hier mit anderen Begrifflichkeiten. Selbstaufklärung ist angebracht, nicht als "neue Sicht der Dinge", sondern erstmal mit genauerem Blick und größerer Trennschärfe. Die Diskussions"stränge", von denen die Rede war, sollen - in Zukunft - ja nicht verschwimmen, sondern zusammenführen.

Offenbach, im September 1986

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