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Heft 18: Im Osten nichts Neues? Über den realen Sozialismus in der DDR

1986 | Inhalt | Editorial | Leseprobe

Titelseite Heft 18
  • April 1986
  • 96 Seiten
  • EUR 7,00 / SFr 13,10
  • ISBN 3-88534-036-4

Timm Kunstreich

Proletarische Gesellschaft - "Prometheus in Fesseln?"

Zwar bin ich kein DDR-Experte, aber - wie wohl bei den meisten von uns - gehört eine Position zur DDR zu meiner politischen Sozialisation und ebenfalls wie die meisten von uns so habe auch ich meine erste DDR-Lektion als Totalitarismusideologie gelernt: Links ist schlecht = Kommunismus; rechts ist schlecht = Faschismus - und in der Mitte wir, die echten Demokraten. Mit der Ostermarschbewegung, spätestens mit der Studentenbewegung, kamen wir jedoch dahinter, daß dieses Totalitarismus-Modell nur eine elegantere Variante des altbekannten Antikommunismus ist. Je nachdem, wohin uns die Studentenbewegung verschlug, nahmen wir sehr unterschiedliche Glaubensbekenntnisse in punkto DDR an: Wurden wir Trotzkist, so war das "Phänomen" da drüben ein Staatskapitalismus mit neuer Bourgeoisie, der nur durch eine Räterevolution abgeschafft werden konnte; wurden wir Maoist, so war die DDR Teil des sozialimperialistischen Systems (einige dachten die Sache konsequent weiter und kamen folgerichtig in der rechten Ecke raus: ganz klar, die DDR ist ein Teil des Archipel Gulag); nur wer von uns in die DKP ging, konnte endlich seinen Frieden machen: da drüben, das war der Beginn des gelobten Landes. Wer zum Sozialistischen Büro ging, konnte sich aus jedem dieser Glaubensbekenntnisse dasjenige aussuchen, das ihm am besten gefiel - allerdings entsprechend sozialwissenschaftlich "gemildert". Mittlerweile scheint sich aber auch hier eine Meinung durchgesetzt zu haben: das da drüben ist gar kein Sozialismus; es ist eine eigene Gesellschaftsformation, eine andere Form der Industrialisierung. Den schönen Namen Sozialismus wollen wir mit diesem autoritären, ja militaristischen System nicht beschmutzt sehen. Parallel dazu scheint sich eine neue Art von Konvergenztheorie herauszubilden: Ost und West sind gleich schlecht; politisch muß es um eine Auflösung der Blöcke gehen, strategisch um einen Weg, der rätedemokratische Elemente mit den Errungenschaften der bürgerlichen Revolution verbindet. Solidarnosc war unsere Hoffnung, auch wenn sie im klerikal-reaktionären Sumpf zu versacken drohte.

Diese - zugegeben polemisch skizzierten - Positionen haben eines gemeinsam: An einem gegebenen Verständnis von "Sozialismus" wird der reale Sozialismus gemessen - und wie üblich kommt die Realität nicht ans Ideal heran, es sei denn, man erklärt das Ideal zur Realität.

Im folgenden geht es natürlich nicht darum, das langersehnte "richtige" Modell vorzustellen - im Gegenteil: Ich möchte gerade weg von einer Dogmengeschichte, die die Realität immer nur aus schon vorgefertigten Überzeugungen und "Etiketten" deduziert.

Statt dessen will ich nicht-teleologisch herangehen, d.h. historisch im Sinne von GRAMSCI: das was ist, ist Resultat (und Prozeß!) von Klassenkampf, von den Versuchen antagonistischer Klassen, "Staat" zu werden, zu sein oder zu bleiben. Der Sozialismus in der DDR ist - ob uns das paßt oder nicht - der Versuch einer "Staats"-Werdung der Arbeiterklasse.

Weiter will ich versuchen, CONERT's Aufforderung an die Linke, doch empirischer an die DDR heranzugehen, ernstzunehmen, d.h. versuchen, die DDR als eigene Realität zu verstehen.

CONERT stellt eine stärkere empirische Orientierung eher bei nicht-sozialistischen Wissenschaftlern fest, obwohl es natürlich auch auf "unserer" Seite materialreiche und theoretisch konsistente Analysen gibt - ich denke hier an Rudolf BAHRO (an den früheren natürlich), an Renate DAMUS oder Winfried THAA. Mein Anspruch ist viel bescheidener: die vielen Informationen, die ich gelesen habe, will ich mit den Eindrücken aus Besuchen in der DDR und aus Gesprächen mit ehemaligen DDRlern (die nicht stramm nach rechts gegangen, sondern Linke geblieben sind) zusammenbringen, um so zu einem Verständnis jener für mich bizarren, widersprüchlichen Wirklichkeit zu gelangen.

Zwei Gründe für eine Analyse mit GRAMSCI

Daß ich das nicht voraussetzungslos tue, sondern vor dem Hintergrund meines hier gewonnenen Politik- und Wissenschaftsverständnisses, versteht sich von selbst. Wenn ich mich im folgenden sehr eng an die analytische Methodik GRAMSCI's halte bzw. an die systematische Aufarbeitung seiner Schriften durch Karin PRIESTER und Christine BUCI-GLUCKSMANN, so hat das einen subjektiven Grund und einen objektiven. Der subjektive liegt darin, daß das Staats- und Hegemoniekonzept GRAMSCI's mir zu einem reicheren Verständnis der Dialektik von Handeln/Verhalten und Verhältnissen verholfen hat. Der objektive Grund ist, daß GRAMSCI m.E. der erste nicht-teleologische Marxist einer Revolution im Westen war: Die Revolution hier ist möglich, aber nicht notwendig im Sinne eines starren Gesetzesautomatismus' - sie muß sich ihre eigenen Bedingungen erst schaffen.

Die sozialistische Transformation in der DDR fand und findet in einem westlichen Land statt (wobei "westlich" für entwickelte bürgerliche Gesellschaft steht) - nicht zuletzt deshalb ist der Bezug auf GRAMSCI gerechtfertigt. Da dessen Arbeiten nicht unbedingt als bekannt vorausgesetzt werden können, will ich zunächst einige seiner Argumentationslinien nachzeichnen, um diese dann für einige Anmerkungen zur DDR zu nutzen.

Seit der Niederlage der westeuropäischen Arbeiterbewegung nach dem ersten Weltkrieg kreiste GRAMSCI's gesamtes Werk um eine Frage: Was macht die enorme Stabilität der kapitalistischen Gesellschaften aus, daß selbst dann eine Revolution scheitert, wenn es bedeutsame ökonomische Krisen gibt und die staatlichen Administrationen sich nur noch mit Repression an der Macht halten können (wie in den Situationen Italiens und Deutschlands nach dem ersten Weltkrieg)? Seine Antwort hatte viele Variationen und war verästelt in feinste Facetten (bis hin zur Analyse des Kriminalromans), hatte jedoch einen Kernsatz: In derartigen Situationen zieht sich der "Staat" auf die hinter und unter ihm liegenden "Festungsmauern" und "Kasematten" der "zivilen Gesellschaft" zurück, d.h. auf jene politisch-kulturellen Systeme vom Bildungswesen über Kirchen und Medien bis hin zu den dominanten Formen von Familie. GRAMSCI's Schlußfolgerung: Ohne vorherige Besetzung dieser "Kasematten" und Schleifung dieser "Festungsmauern" kann es keine Revolution geben, bestenfalls eine Machtergreifung in den Organen des Staates. Diese Verdopplung der kapitalistischen Gesellschaft in politische Gesellschaft (= Staat im engeren Sinne) und zivile ("bürgerliche") Gesellschaft setzt auf eine Dialektik beider Systeme und nicht auf eine schlichte Trennung in Politik und Ökonomie. Gelingt es einer Gesellschaftsklasse, in beiden Sphären sowohl herrschend als auch führend zu sein, spricht GRAMSCI von einem historischen Block, dessen Hegemonie auf einem - wenn auch immer prekären - Gleichgewicht von Zwang und Konsens beruht. Das militärische Vokabular benutzt GRAMSCI, um den Unterschied zwischen der Revolution im Osten, wo in einem Bewegungskrieg der Staat - sprich: die Verwaltungs- und Repressionsapparate - mit Waffengewalt genommen werden konnte und den Bedingungen einer Revolution im Westen, die er mit einem Stellungskrieg vergleicht, aufzuzeigen.

"Im Osten war der Staat alles; die zivile Gesellschaft steckte in ihren Anfängen, ihre Konturen waren fließend; im Westen herrschte zwischen Staat und ziviler Gesellschaft ein ausgewogenes Verhältnis, und erzitterte der Staat, so entdeckte man sofort die kräftige Struktur der zivilen Gesellschaft. Der Staat war ein vorgeschobener Schützengraben, hinter dem eine robuste Kette von Befestigungswerken und Kasematten lag, natürlich mehr oder weniger von Staat zu Staat, aber gerade dies erforderte eine eingehende Erkundigung nationalen Charakters" (Phil, S. 347).

Diese Stellungs-/Bewegungskriegmetapher ist wohl der bekannteste Gedanke GRAMSCI's. Weniger bekannt sind seine daraus gezogenen Konsequenzen. Weil der Staat im Osten auch nach der Revolution alles war, also derjenige, der Ökonomie, Politik, Kultur usw. organisieren mußte, ist mit diesem Revolutionstypus notwendigerweise eine "gewisse Staatsvergottung" (Phil., S. 374 f) und ein Hang zum "Cäsarismus" (Phil., S. 340) verbunden. Auf der anderen Seite kann eine Revolution im Westen nur erfolgreich sein, wenn die Arbeiterklasse, bevor sie zur herrschenden wird, zunächst auch die führende ist, d.h. daß sie eigene hegemoniale Vorstellungen von Politik, Ökonomie, Moral und Kultur gegen die bürgerliche entwickeln muß. Gelingt ihr das nicht, so ist zu folgern, besteht auch hier die gleiche Gefahr der Staatsvergottung und des Cäsarismus wie im Osten.

Exkurs: Historisch-analytische und antiökonomistische Denkweise

Bevor ich diesem Gedanken weiter nachgehe, muß ich einen kleinen Umweg machen, um GRAMSCI's radikale antiökonomistische Denkweise und sein betont historisch-analytisches, an wechselseitig sich bedingenden Prozessen orientiertes Vorgehen verständlich zu machen.

Am deutlichsten wird dies in GRAMSCI's eigenwilliger Interpretation des Basis-Überbau-Problems, gekennzeichnet durch drei Grundüberlegungen:

a) Jede gesellschaftliche "Tatsache" entfaltet ihre Wirksamkeit erst dann, wenn sie "durch die Köpfe der Menschen" gegangen ist; das bedeutet, daß auch ökonomische "Tatsachen" nicht an sich sind, sondern immer nur als schon interpretierte, in einen sozialen Zusammenhang gestellte.

b) Menschen machen ihre Geschichte selbst - wenn auch nicht unter von ihnen gemachten Bedingungen. Diese Betonung des aktivistischen Moments des Herstellens und Konstituierens von gesellschaftlichen Zusammenhängen verneint nicht z.B. die Wirksamkeit des Wertgesetzes, holt es aber aus dem ökonomischen Himmel auf den Boden komplexer Widersprüche und Konflikte herunter.

c) Basis und Überbau stehen nicht in einem einseitigen Kausalverhältnis, sondern sind eher zu begreifen als Systeme der Ungleichzeitigkeit innerhalb einer reichen Totalität gesellschaftlicher Beziehungen (nicht nur hier ergeben sich interessante Verwandtschaften zu BLOCH). Diese Tatsache läßt sich an einfachen Beispielen demonstrieren: Die berühmte "Ware" kommt für sich allein nicht vor; sie hat immer zugleich einen juristischen Aspekt (Realisierung des Tausches) und einen sozialen bzw. materiellen Aspekt (Gebrauch). Diese verschiedenen ökonomischen, politischen, juristischen und kulturellen Sphären sind aber nicht aufeinander reduzierbar, sondern haben "relative Autonomien". Nur so wird der "Fetisch"-Charakter der Ware plausibel. Politisch und wissenschaftlich interessant ist gerade die Dialektik zwischen Autonomie und Abhängigkeit, und zwar in beiden Richtungen. Ungleichzeitigkeit heißt bei GRAMSCI auch unterschiedliche Beeinflußbarkeit bzw. Handhabbarkeit durch die handelnden Menschen: Es gibt formationsbestimmte, objektive strukturelle Prozesse ("organische", also relativ permanente Bewegungen), die sozusagen die Bahnen bilden, in denen sich unterschiedliche "Konjunkturen" und politische "Koalitionen" entfalten, von den verschiedenen Politiken diverse Fraktionen unterschiedlicher Klasse bis hin zur Tagespolitik.

Den Zusammenhang dieser drei Aspekte konkretisiert PRIESTER am Beispiel des Problems der "Staats"-Werdung einer Klasse.

"Das politische Kräfteverhältnis ergibt sich aus dem Grad an Geschlossenheit, an Selbsterkenntnis und Organisation, der von den verschiedenen Gesellschaftsklassen erreicht worden ist. Die unterste, früheste Stufe hierbei nennt er (GRAMSCI, T.K.) "ökonomisch-korporativ". Sie bezeichnet die Organisationsebene berufständiger Interessen. Doch die Erkenntnis gemeinsamer, unmittelbarer ökonomischer Interessen führt noch nicht zur Erkenntnis von Gemeinsamkeiten einer ganzen Gesellschaftsklasse.

In dem Augenblick, wo sich eine gesellschaftliche Klasse ihrer Gemeinsamkeiten - und seien sie zunächst auch nur ökonomischer Art - bewußt wird, stellt sich die Frage nach dem Staat. Aber erst, wenn "das Bewußtsein" erreicht ist, "daß die eigenen korporativen Interessen in ihrer gegenwärtigen und zukünftigen Entwicklung den korporativen Rahmen der rein ökonomischen Gruppen sprengen und zu Interessen anderer, untergeordneter Klassen werden können und müssen" (... ; PHIL, 327), erst dann ist die eigentliche politische Phase erreicht, ist der Übergang von der Basis zur Sphäre der Überbaustrukturen vollzogen. Die Ideologien werden zur "Partei" und stellen über die ökonomischen und politischen Ziele hinaus die "intellektuelle und moralische" Einheit her. Der Kampf spielt sich nun nicht mehr auf der ökonomisch-korporativen Ebene für die Verwirklichung von Partikularinteressen ab, sondern nimmt universale Dimensionen an. Erst diese "Universalität", dieser Übergang vom "Partikularen zum Allgemeinen" konstituiert die Hegemonie einer "fundamentalen gesellschaftlichen Klasse über andere untergeordnete Gruppen":

"Der Staat wird als der einer Gruppe zugehörige Organismus konzipiert. Seine Bestimmung liegt darin, günstige Bedingungen für die größtmögliche Ausdehnung eben dieser Gruppe zu schaffen. Diese Entwicklung wird jedoch als Antriebskraft einer universellen Expansion begriffen und als solche dargestellt, als Entwicklung aller 'nationalen' Energien. Das heißt, die herrschende Klasse wird mit den allgemeinen Interessen der untergeordneten Klassen konkret koordiniert, und das staatliche Leben wird begriffen als ständiges sich Bilden und Überwinden unstabiler Gleichgewichtsverhältnisse (im Bereich des Gesetzes) zwischen den Interessen der Hauptklasse und denen der untergeordneten Klassen." (...; PHIL, 328)

Das dritte Moment das bei der Bestimmung des Kräfteverhältnisses eine Rolle spielt, ist das militärische Kräfteverhältnis, ja die geschichtliche Entwicklung, so GRAMSCI, schwanke ständig zwischen dem ersten - dem ökonomisch-korporativen - und dem dritten Moment, vermittelt durch das zweite - das ethisch-politische." (PRIESTER 1981, S. 37/38)

Am Beispiel der Französischen Revolution stellt GRAMSCI anschaulich diesen Prozeß des Aufsteigens von der Basis in den Überbau und von der Tendenz der Staatwerdung einer aufsteigenden Klasse dar.

GRAMSCI "historisiert" also das strukturelle Verhältnis von Basis und Überbau. Jede Klasse, die Hegemonie erreichen will, muß sich in den Überbau der jeweils herrschenden Klasse hinaufarbeiten und damit zugleich seine eigene neue Basis gestalten. Karin PRIESTER kommt deshalb auch zu dem Schluß, daß GRAMSCI "genaugenommen, nicht 'den' bürgerlichen Staat analysiert, sondern den Prozeß der 'Staatswerdung' einer Klasse". (S. 62)

Entspechend dieser drei Momente postuliert GRAMSCI drei Phasen, die eine erfolgreiche revolutionäre Bewegung im Westen durchlaufen muß. Nachdem sie ihren ökonomisch-korporativen Charakter überwunden hat, muß sie alle Momente des "ethischen Staates" erreichen - wir würden heute sagen: alle Momente einer "neuen" politischen Kultur und Moral (sowohl inhaltlich als auch organisatorisch) - bevor sie in einer Phase, die GRAMSCI mit Katharsis (Phil., S. 161) kennzeichnet, zur herrschenden und führenden Klasse wird, deren neues, universelles Produktions- und Lebensmodell damit zur alltäglichen Wirklichkeit werden läßt.

"Erst wenn zwischen Basis und Überbau eine Homogenität besteht, hat der Staat seine ökonomischkorporative Phase überwunden. Basis und Überbau bilden dann einen 'historischen Block', d.h., das komplexe, widersprüchliche und ungleiche Ganze der Überbauten ist der Reflex der gesamten gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse" (PRIESTER, S. 33).

GRAMSCI bezeichnet das Gelingen dieser Staatwerdung auch als "integralen Staat", d.h. als die Einheit von ziviler und politischer Gesellschaft (den repressiven und organisierenden Staatsapparaten) (vgl. PRISTER, S. 49, S. 61)

"Man kann sagen, daß (integraler, T.K.) Staat = politische Gesellschaft + bürgerliche Gesellschaft, d.h. mit Zwang gepanzerte Hegemonie" ist. (... , zitiert nach PRIESTER, S. 53)

Ich hoffe, daß dieser Exkurs über die Gramscianische Methode ausreicht, die folgenden Anmerkungen zur DDR verständlich zu machen.

Blockierte Transformation: Herrschende, aber noch nicht führende Klasse

Entgegen der für die entwickelten kapitalistischen Gesellschaften geltend gemachten Notwendigkeit des Aufstiegs von der Basis in den Überbau, beginnt die Geschichte des Sozialismus in der DDR mit der militärischen Besetzung der "Kommandohöhen" des Staates. Die kommunistischen und sozialdemokratischen Gründer der DDR waren sich dieses Umstands ja durchaus bewußt, indem sie nicht die sozialistische Republik proklamierten, sondern eine Art Volksfrontbündnis ("Volksdemokratie"), das ursprünglich für eine sehr viel längere Phase gedacht war, das aber durch den kalten Krieg genau in die Phase der Staatsvergottung und des Ulbrichtschen Cäsarismus gedrängt wurde bzw. sich selbst flüchtete, wie GRAMSCI es für den Fall einer derartigen Machtübernahme prognostiziert hatte. Anders als im "Osten" hatte der sich entwickelnde Arbeiterstaat es aber mit einer komplexen, kapitalistisch präformierten zivilen Gesellschaft zu tun . Die SED trug dieser Tatsache in vielfacher Weise Rechnung. In den Organen des Staates kopierte sie die Formen bürgerlich-parlamentarischer Herrschaft und ihnen entsprechende Verwaltungsstrukturen. Daß diese Kopie mittlerweile zur Karikatur geraten ist, hat objektive Gründe. Die Einrichtungen des bürgerlichen Staates sind ja gerade Ausdruck der Trennung von Politik und Ökonomie, von dem Wirken des Wertgesetzes, d.h. von dem stummen Zwang der Verhältnisse auf der einen und deren herrschaftlicher Regulation auf der anderen Seite. Entfällt das Wertgesetz, d.h., werden die Produktion und die Ökonomie unmittelbar durch den Staat organisiert, tritt ein neues Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft ein, werden tendenziell alle Funktionen der zivilen Gesellschaft vom Staat übernommen, der sich dadurch natürlich auch verändert - sowohl in der Form als auch im Inhalt.

"Wenn es richtig ist, daß jeder Staatstypus zwangsläufig eine Phase ökonomisch-kooperativen Primitivismusses durchläuft, so kann man daraus ableiten, daß der Inhalt der politischen Hegemonie der neuen sozialen Gruppe, die den neuen Staatstyp gegründet hat, vorwiegend ökonomischer Art sein muß: Es handelt sich darum, die Basis und die realen Verhältnisse zwischen den Menschen und der Wirtschaftswelt oder der Produktion zu reorganisieren" (Q, 1053, zitiert nach PRIESTER S. 66).

Die Entwicklung der DDR ist eine derartige "Reorganisation" und ist damit vielleicht am ehesten vergleichbar mit der "passiven Revolution" der Bourgeoisie in Italien und Deutschland im letzten Jahrhundert. In beiden Ländern kam es ohne Revolution nach französischem Muster zu einer kapitalistischen Transformation, die zumindest in der Herrschaftsform viele Elemente des feudalen Staates adaptierte.

So betrachtet, könnte man die jetzige Situation der DDR charakterisieren als eine sich blockierende Transformation, in der aus vielerlei Gründen die herrschende soziale Gruppe noch nicht zur führenden geworden ist, d.h., die Arbeiterklasse und ihre Organisationen in einer ökonomisch-korporativen Phase "steckengeblieben" sind. Das hauptsächliche Kenzeichen dieser Blockierung bzw. dieses Steckenbleibens ist die Tatsache, daß die herrschende Gruppe es bislang nicht vermocht hat, einen der Basis entsprechenden Überbau zu entwickeln. Nur so könnte sie außer zur herrschenden auch zur führenden Gruppe werden, d.h., im umfassenden Sinne Hegemonie ausüben.

Diese "Unfähigkeit" hat sowohl historische als auch strukturelle Gründe. Die historischen liegen in der besonderen Entstehungsgeschichte der DDR, die strukturellen auf der einen Seite ganz sicherlich in der Systemkonkurrenz, in der sich die herrschende Gruppe in der DDR gezwungen sah und sieht, sowohl in der ökonomischen Sphäre (Übernahme von Produktions- und Konsumptionsmustern des Kapitalismus) als auch in der politisch-ideologischen zu konkurrieren (Übernahme bürgerlicher parlamentarischer Formen, Orientierung an bürgerlicher Rechtsförmigkeit und bürgerlichen Prestigemustern, aber auch Zwang zur Hochrüstung). Auf der anderen Seite ist es die konservative Eigendynamik gerade dieser Strukturen, die ein anderes Überbaumodell gar nicht erst in den Blick geraten läßt. Die eigentümliche Kopie bürgerlicher Herrschaftsweise garantiert zumindest eine Verteidigung gegenüber feindlichen Systemen im Westen und verspricht weiterhin die "brüderliche Hilfe" des Freundes im Osten. Wohin Versuche der Entwicklung eines eigenständigen Überbaumodells geführt haben, dazu geben Ungarn, die Tschechoslowakei und Polen "abschreckende" Beispiele.

Kontrolle und Pädagogisierung der Konflikte

Diese Wechselwirkung von inneren und äußeren Strukturzwängen vorausgesetzt, bedarf es noch einmal eines genaueren Blickes auf die inneren Widersprüche einer Gesellschaft, deren Ökonomie nicht nach dem Wertgesetz funktioniert. Auf der einen Seiten dieses Widerspruchs stehen die Elemente der kapitalistischen Formation, die eben nicht historisch überwunden sind, sondern sich täglich erneut reproduzieren: Die Orientierung an kapitalistischer Produktionsorganisation und an kapitalistischen Konsumzielen reproduziert den bekannten Privatismus, der durch repressive Kontrolle und Pädagogisierung der daraus resultierenden Konflikte in Zaum gehalten wird. Zugleich produziert diese Kopie unterhalb der offiziellen Ökonomie eine zweite, DM-orientierte mit all ihren bekannten Folgen materieller und ideologischer Art. Auf der anderen Seite des Widerspruchs stehen Elemente sozialistischer Vergesellschaftung, in deren Mitte das tatsächliche Zentrum dieser Gesellschaft steht: der Plan, d.h. die planmäßige Erzeugung von Gütern und Leistungen, die planmäßige Verteilung des gesellschaftlich erarbeiteten Mehrprodukts.

Ein Beispiel für das Zusammenspiel beider Seiten des Widerspruchs ist der Wohnungsbau. Bis 1990 soll das materielle Problem des Wohnungsbaus gelöst sein, d.h. jedem Bürger soll eine nach DDR-Standard angemessene Wohnung zur Verfügung stehen. Dieses von oben festgelegte Planziel impliziert aber, daß mit den 1-3 Zimmer-Wohnungen zugleich auch eine Kleinfamilienform zementiert, z.T. geradezu konstituiert wird (nur wer heiratet, bekommt eine Wohnung), die einen kleinbürgerlichen Familientypus mit all seinen psychodynamischen Aggressions-, Verdrängungs- und Unterdrückungsritualen ständig reproduziert. Inwieweit diese familialistische Orientierung durch solidarische und egalitäre soziale Beziehungen im Betrieb und anderen gesellschaftlichen Bereichen kompensiert werden kann, scheint mir gerade wegen der bevormundend pädagogisierenden und reglementierenden Beziehungen in diesem Bereich unwahrscheinlich. Psychodynamisch scheint mir das eher eine Verlängerung der Kleinfamilie zu sein, wo die alles versorgende Mutter (der Betrieb) und der strenge, aber fürsorgliche Vater (die Staatsapparate) herrschen.

Mir sind keine wissenschaftlichen Analysen bekannt, die unter dieser Perspektive den spezifischen Basis-Überbau-Widerspruch eingehend untersuchen würden. Allerdings gibt es in der Literatur dazu reichhaltige Hinweise. Am prägnantesten fand ich die Darstellung dieses Widerspruchs in dem Theater- und Fernsehstück "Die Prämie", in dem Bauarbeiter ihre Arbeitskraft nicht zurückhalten, also den offiziellen Plan ernst nehmen und damit offensichtlich die Planrealität ins Wanken bringen. Ähnliche Widersprüche formuliert Bahro, wenn er von "organisierter Verantwortungslosigkeit" spricht. Allerdings spricht daraus noch der Technokrat Bahro, denn das, was er an Unterlaufen von offiziellen Produktionsanforderungen ausgibt, ist auf der anderen Seite ja durchaus ein Vorschein von "proletarischer Öffentlichkeit", d.h. Ausdruck der Tatsache, real in einem viel höheren Maße über die eigene Arbeitssituation zu verfügen, als das für unsere Verhältnisse vorstellbar ist. Ganz offensichtlich ist die "geringere" Produktivität der meisten DDR-Betriebe ein Problem für Technokraten und die herrschende Parteibürokratie. Einige scheinen tatsächlich das Drohmittel Arbeitslosigkeit zu vermissen. Da ihnen dieses aber nicht zur Verfügung steht und aus ideologischen Gründen auch kaum vorstellbar ist, zählen neben dem Mittel "materieller Anreiz" vor allen Dingen eine ständige Pädagogisierung, Ermahnung, immer neue Wettbewerbe als (eben nicht ausreichende) funktionale Äquivalente. Die Herrschaft scheint - unter dem skizzierten Strukturwiderspruch zu recht - von ihren Massen nicht zu erwarten, daß diese aus Einsicht oder Interesse an der Sache produktiv werden.

"Prometheus in Fesseln"

Gerade in dem Produktivitätsverständnis und in den kleinbürgerlich anmutenden Arbeitsmoralvorstellungen tritt die charakteristische korporative Blockierung des Transformations-Prozesses in der DDR besonders deutlich hervor. Die Reduktion des integralen Staates auf den politischen Staat hat zur Folge, daß die "proletarische" Gesellschaft (die "neue" zivile Gesellschaft) in den Untergrund gedrängt wird bzw. erst in Ansätzen sich entwickeln kann. In vielen gesellschaftlichen Einrichtungen erscheint diese proletarische Gesellschaft als "Prometheus in Fesseln", gefesselt durch eine rigide staatlich-parteiliche Kontrollmaschinerie, die gerade das blockiert, was sie selbst immer propagiert, nämlich Kollektivität und Plandemokratie.

Diese Blockierung kann nur aufgehoben werden, wenn sich eine reale Plandemokratie entwickelt, in der auch über Inhalte der Produktion diskutiert und entschieden wird, nicht nur über Normerfüllung. Nur so wird eine Perspektive hin zu kollektiver Konsumption möglich und damit eine inhaltliche Alternative zu kapitalistischen Produktionsmustern.

Über diesen Weg kann sich eine proletarische Öffentlichkeit und eine proletarische Kultur und Moral entwickeln, die den politischen Staat zum "ethischen" und damit zum "integralen Staat" werden läßt und die die lächerlichen Kopien bürgerlicher Öffentlichkeit z.B. auch in den Medien, überflüssig werden läßt. Wohl in keinem anderen Bereich sind die Tendenzen zur Staatsvergottung so deutlich geblieben wie in diesem, in dem wie in feudalen Zeiten Herrschaftstitel und Funktionen heruntergebetet werden. Aber auch hier sind Elemente proletarischer Öffentlichkeit auszumachen: Betriebsöffentlichkeit, im kapitalistischen Westen ein Tabu, steht dort an oberster Stelle, wenn auch immer unter der Maxime offizieller Produktions- und Leistungsförderung. Wie spannend wäre hier doch öffentliche Diskussion der Betriebe um Inhalte und Formen ihrer Produktion.

Die tragfähigsten Elemente proletarischer Öffentlichkeit finden sich wahrscheinlich gerade in den Ansätzen von Betriebsöffentlichkeit, als Kooperation, Kollegialität und Vertrauen, die allerdings immer in der Gefahr stehen, bei zu gutem "Funktionieren" als subversiv, als Arbeitszurückhaltung, als unproduktiv gebrandmarkt zu werden.

Die überall anzutreffende Pädagogisierung aller Lebensäußerungen ist ein weiteres Kennzeichen für die Tatsache, daß die herrschende soziale Gruppe eben nicht führend ist. Aus den genannten Widersprüchen war es bisher nicht möglich, "Konformität" anders als durch Repression und durch kontrollierende, bevormundende Pädagogik zu erzeugen. Ein eigener sozialistischer "way of life" mit einer entsprechenden offenen und kreativen Alltagskultur kann sich somit nur in Ansätzen entwickeln und wird - entsprechend dem rigiden Normalitätsstandard - bei Abweichung sehr schnell zur Ausgrenzung. Die Sicherheit, mit der man "drüben" von "Asozialen" spricht, war für uns Westler doch einigermaßen überraschend, zumal diese Gruppe zahlenmäßig sehr gering ist. Allerdings darf man dabei nicht vergessen, daß die Toleranzgrenzen zumindest im Alltag und ganz besonders im betrieblichen Bereich sehr viel weiter gesetzt sind als bei uns. Solange die informellen und formellen Integrationsmechanismen von Betrieb, Schule und Kollektiv funktionieren, gibt es offensichtlich viele Möglichkeiten der Toleranz - z.B. in bezug auf Alkohol, Anwesenheit und privaten Gebrauch von Arbeitsmaterial und Werkzeug. Sind diese Grenzen aber überschritten, so bleibt alternativlos nur die Ausgrenzung. So auch z.B. im Umgang mit jugendlichen "Abweichlern"? Wer die rigide, bevormundende, deshalb auch stigmatisierende und entmündigende Heimerziehung in der DDR erlebt hat, kann sich nur verwundert fragen, wieso die Offiziellen gerade hier immer MAKARENKO im Munde führen.

Welche Perspektiven ergeben sich als mögliche Ausgänge aus dieser korporativen Blockierung, aus dieser stagnierenden sozialistischen Transformation?

Zur Zeit sieht es nicht so aus, als ob es etwas anderes gäbe als die Fortsetzung der bisherigen politisch-ökonomischen Strategie. Solange die gesetzmäßige Entwicklung zum Sozialismus/Kommunismus als immunisierende Ideologie zur Erhaltung des Status quo erhalten bleibt, ist nicht zu erwarten, daß anders verfahren wird als nach der Melodie: "Mehr desselben". Die Eigendynamik ökonomischer und gesellschaftlicher Prozesse wird weiter in das Korsett eines repressiven und pädagogisierenden Staates gepreßt. Wie lange das gutgehen kann, ist nicht prognostizierbar.

Vorstellbar wäre weiterhin eine Entwicklung wie in Jugoslawien oder Ungarn, d.h. eine gesellschaftliche Rahmenplanung, die auf den Egoismus der Betriebe und damit auf zunehmende soziale Differenzierung mit den Begleiterscheinungen "neue Armut", ungleichmäßige Entwicklung der Regionen und der Kompensation sozialer Risiken durch den Staat setzt - ein Entwicklung, die noch am ehesten das Etikett "Staatskapitalismus" rechtfertigt.

Bliebe als dritte Perspektive eine Zurücknahme des Staates in die Gesellschaft. Optionen anarcho-syndikalistischer bzw. rätedemokratischer Art halte ich aus dem gleichen Grunde wie GRAMSCI für untauglich: Beide haben das Problem des "integralen Staates", also das Problem der Hegemonie und der gesamtgesellschaftlichen Regulation zu simplifizierend auf den repressiven Staat bzw. die Machtübernahme in den Staatsorganen reduziert. Wenn auch rätedemokratische Perspektiven sich auf eine reale Plandemokratie orientieren, so vernachlässigen sie jedoch in zu starkem Maße Probleme der politischen und kulturellen Hegemonie.

Für einen sozialistischen Ausgang aus der Blockierung bliebe also noch die Gramscianische Vision einer "regulierten Gesellschaft", in der die repressiven Funktionen des Staates in die Gesellschaft zurückgenommen werden und in dem es gesamtgesellschaftliche Verfahren für die Auseinandersetzung um die Herstellung und Verteilung des gesellschaftlichen Mehrprodukts gibt. Dies hat allerdings zur Voraussetzung, daß die herrschende soziale Gruppe zur führenden wird, d.h. daß sich die Dialektik zwischen Führung und "Geführten" auf einen realen, universellen Konsens berufen kann, der nicht durch Bevormundung hergestellt werden kann, sondern durch alltägliche Erfahrung stabiler sozialer Beziehungen. Ansätze zu einer derartigen politisch-kulturellen Hegemonie sind sicherlich vorhanden. Ihr Durchbruch wird allerdings nur möglich sein mit der Entfaltung neuer Produktions- und Konsumptionsmuster.

"Die kommunistische Revolution schafft einen neuen Staat, eine neue Zivilisation und eine neue Produktion. All dies ist nicht möglich, wenn die Masse in der kommunistischen Regierung nicht 'ihre' Regierung sieht" (GRAMSCI, zitiert nach PRIESTER, S. 67).

Literatur

  • BAHRO, R., Die Alternative 1977
  • BUCI-GLUCKSMANN, C. Gramsci und der Staat, Köln 1981
  • CONERT, H.-G., Die Linke und der reale Sozialismus, in: Sozialismus 9/1985, S. 56-64
  • DAMUS, R., Der reale Sozialismus als Herrschaftssystem am Beispiel der DDR,. Gießen 1978
  • GRAMSCI, A., Philosophie der Praxis, Frankfurt 1967 (zit. als Phil.)
  • PRIESTER, K., Studien zur Staatstheorie des italienischen Marxismus: Gramsci und Della Volpe, Frankfurt 1981
  • THAA, W., Herrschaft als Versachlichung. Wertabstraktion, Arbeitsteilung und Bürokratie in den nachkapitalistischen Gesellschaften sowjetischen Typs, Frankfurt 1983

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