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Heft 21: Ganzheitlichkeit

1986 | Inhalt | Editorial | Leseprobe

Titelseite Heft 21
  • Dezember 1986
  • 96 Seiten
  • EUR 7,00 / SFr 13,10
  • ISBN 3-88534-039-0

Zu diesem Heft

Ganzheitlichkeit ist zweifellos seit geraumer Zeit "in". In den alternativen Zeitungen und Stadtblättern finden sich Werbeanzeigen für ganzheitliche Therapieveranstaltungen so selbstverständlich wie die Kinoprogramme. In den Buchläden haben sich die Regale für Esoterik ausgedehnt und bei den Neuerscheinungen gibt es einen Wettlauf zwischen Büchern über die atomare Katastrophe und Büchern über die anstehende Wende: Wende-Zeit, Zeiten-Wende, innere Wende ...

Astrologie, Horoskope sind für die einen eine vergnügliche Silvester-Beschäftigung - für andere haben sie Ernst-Charakter.

Aber nicht bloß Privatleute haben ihren Sinn für Ganzheitlichkeit entdeckt, auch Politiker stimmen kräftig in diesen Chor mit ein. Die einen wollen "Versöhnen statt spalten" (sozialdemokratische Ganzheitlichkeit), die anderen wollen Ökonomie und Ökologie mittels technologischer Neuerung versöhnen (christdemokratische Ganzheitlichkeit). Und beiden geht es dabei um's "Ganze": die Ausrichtung der (nationalen) Gesellschaft auf die "postindustrielle" Zukunft (auch manchem Grünen gehts beim Wiederfinden der "verlorenen Einheit von Mensch, Natur und Gesellschaft" um's Ganze).

Das Bedürfnis nach ganzheitlichen (Denk)systemen taucht besonders dann auf, wenn Gesellschaften sich im Umbruch befinden, wenn sie von Krisen geschüttelt werden oder eine Modernisierung ansteht. Sie stellen - auf die heutige Zeit bezogen - Versuche dar, Sinn zu geben, und zwar einen Sinn,

  • der jedem seinen Ort in der Welt bestimmt;
  • der aber auch in der Lage ist, das ganze Chaos (ökologischer Katastrophe, technologische Revolution, Leistungszwang, Arbeitslosigkeit, Emanzipationswünsche, alternativ Leben, immer weitergreifende Durchrationalisierung von Lebensbereichen, politische Mißerfolge) geordnet erscheinen zu lassen.

Ganzheitliche Denksysteme ergreifen also die Köpfe und Gefühle von Menschen, Grund genug, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Denn sie sind mit Heilsversprechen (vom besseren Leben jetzt oder irgendwann) erfüllt, sie versprechen (Selbst-)Befreiung oder zumindest Gelassenheit. Mehr oder weniger begreifen sie sich als Alternative zu sozialen und politischen Bewegungen, die noch die Abschaffung von Leiden auf ihre Fahnen geschrieben haben. Und ganz ausgeschlossen scheint es nicht, daß ganzheitliche Ideen auch für einen ideologischen Überbau geeignet sind, der einen neuen Fortschritt, in nur gewandelten Formen der Ausbeutung von Mensch und Natur, proklamiert.

Da es bei Diskussionen um Ganzheitlichkeit leicht zu Sprachverwirrungen kommt, seien Charakteristika benannt, die allen Ganzheitlichkeitssystemen gemeinsam sind, unabhängig von Besonderheiten einzelner Denk-Richtungen.

  1. In ganzheitlichen Systemen gibt es ein allgewaltiges Prinzip, das die Welt zusammenhält und durchdringt, strukturiert. In den einzelnen historischen Lebensäußerungen, Verhältnissen, Konflikten offenbart sich immer dieses eine Prinzip.
  2. Dieses Prinzip hat den Charakter eines allgemeingültigen Gesetzes. Der Lauf der Geschichte ist sozusagen vorherbestimmt.
  3. Das Subjekt muß sich in diese ganzheitliche Welt- und Geschichtsordnung hineinfinden, sich einfügen und findet im Auf und Ab des überzeitlichen Prinzips seine Identität. Gesellschaft ist kein Experimentierfeld für selbstbewußte, freie Subjekte, sondern, was sich in der Gesellschaft offenbart, ist ein den Subjekten äußerlicher, vorausgesetzter Wille. In manchen ganzheitlichen Systemen werden Gesellschaft und Natur so analog gesehen ("natürliche Kreislaufmodelle"), daß Herrschaftsverhältnisse als natürlich erscheinen müssen.
  4. Charakteristische "Begleiterscheinungen" ganzheitlichen Denkens sind Harmonie- u. Versöhnungsstreben, Religiosität, Dualismen, ganzheitliches Wissen als Geheimwissen.
  5. Ganzheitliches Denken führt zu einer Weltanschauung. Mann/Frau ordnet sich der Weltanschauung unter oder nicht. Erkenntnis ist allein die Offenbarung des jeweiligen Prinzips. Die Fähigkeit der Erkenntnis hebt die Erkennenden heraus. Sie gewinnen Gottähnlichkeit oder gelten zumindest als Erleuchtete oder Bekehrte. Wer die Erkenntnis noch nicht oder nicht mehr hat, ist dementsprechend wieder zu bekehren oder ein Ketzer.
  6. Ganzheitliche Weltbilder sind einer rationalen Auseinandersetzung nur schwer zugänglich. In Diskussionen erweisen sich wesentliche Prinzipien als Glaubensfragen oder werden durch Zirkelschlüsse vor Kritik immunisiert ("Daß Du die Existenz eines authentischen 'Selbst' bezweifelst liegt nur daran, daß Du es noch nicht gefunden hast").

Zur Ganzheitlichkeit sind bereits eine Vielzahl von Büchern und Artikeln erschienen, die sich immanent oder ideologiekritisch mit einzelnen Systemen auseinandersetzen. Uns geht es darum, den Umgang mit Ganzheitlichkeit, die zugrundeliegenden individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnisse, aufzuklären. Außerdem geht es um diejenigen, die Ganzheitlichkeit praktizieren (wollen) und die, an denen sie praktiziert wird. Den Anspruch auf Vollständigkeit, auf Berücksichtigung aller bestehenden Ansätze können wir nicht einlösen und beschränken uns daher auf die Auseinandersetzung mit Waldorfpädagogik als Teil der Anthroposophie. Vollständigkeit scheint auch deshalb unangemessen, weil die Annahme fehl geht, Ganzheitlichkeit und vor allem das dahinterstehende Bedürfnis wären ein für allemal abzuhaken. Auch in den Redaktionsdiskussionen zeigte sich deutlich ein weitreichendes Ganzheits-"bedürfnis" in den Arbeitserfahrungen im Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsbereich.

In der Sozialarbeit frustriert das Gefühl des Zu-Spät-Kommens, die Spezialisierung auf bestimmte Lebensausschnitte und Problemlagen, die Beschränkung auf einen "künstlichen", abgehobenen pädagogischen Zugang zu den Klienten.

Im Bildungsbereich kann man die Erfahrung machen, daß kognitives Lernen im Vordergrund steht und daß Bildung als etwas verstanden wird, was z.B. nach der Schule bzw. nach der Ausbildung auf dem Arbeitsmarkt verwertbar sein muß.

Im Gesundheitsbereich interessieren kaum "ganze Menschen" in ihren Lebensumständen, sondern der Patient wird in seine Symptome zerlegt und die Therapien gehen entsprechend technisch mit den Betroffenen um. Schließlich kann sich bei Berufstätigen in diesen Bereichen die Erfahrung herausbilden, daß professionelle Arbeit mit den ursprünglichen Berufswahl-Motiven nur noch wenig zu tun hat und die Idee, sich über Arbeit zu verwirklichen, eine Seifenblase war.

Nun aber zu den Artikeln im Einzelnen:

Frank Düchting führt mit Rolf Deutschmann und Michael König ein Gespräch Über elterliche Motive, ihre Kinder auf eine Waldorfschule zu schicken. Gegenüber diesem Blickwinkel liefert Dieter Huber eine Innenansicht der pädagogischen Praxis an einer solchen Schule und erläutert sie im Kontext der Überlegungen von Steiner. Wolfgang Völker sucht in seinem Beitrag einen vollkommen anderen Zugang. Seine selbstkritische Reflexion auf eine linke Sozialarbeitergeschichte fragt nach den Ursachen des Ganzheitlichkeitsbedürfnisses, das auch nach Frust, Ausstieg oder Ausstiegsversuchen aus dem Sozialarbeiterberuf immer wieder auftaucht. Niko Diemer und Rolf Schwendter beurteilen die Ganzheitlichkeitsbewegungen grundsätzlich. Während Niko Diemer den Zusammenhang zur Krise der Linken und ihre Hoffnungen herstellt, analysieren Schwendters Thesen im historischen Zusammenhang die Ganzheitlichkeitstheorien als Klassen"projekte", die keineswegs eindeutig entweder nur Herrschaftsrechtfertigung oder Herrschaftskritik bedeuten. So steht am Ende auch die Frage: Welche Interessen stecken in der gegenwärtig vermehrten Kritik an Ganzheitlichkeits-Entwürfen?

Offenbach, im November 1986

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