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Heft 32: Region - Eigensinn sozialer Räume

1989 | Inhalt | Editorial | Leseproben: 1 & 2

Titelseite Heft 32
  • September 1989
  • 98 Seiten
  • EUR 7,00 / SFr 13,10
  • ISBN 3-88534-050-X

Karl August Chassé

Ist das Land noch ländlich?

Das Land erfreut sich wieder steigenden Interesses. Was aber über es bekannt ist, was wir darüber wissen, ist bruchstückhaft, verbogen oder romantisierend.

Nach den 70er Jahren nahm man an, das Land sei in Auflösung begriffen, ein Irrtum, der erst deutlicher wurde, als die Stadt, der Ort des Fortschritts in der Moderne, selber in Krisen geriet. Obwohl einige Außenseiter schon in den 1970er Jahren die Eigenständigkeit des Landes darstellten (Poppinga 1975, Ilien/Jeggle 1978), wurde erst in den letzten Jahren zur Kenntnis genommen, daß das Land der kapitalistischen Modernisierung nicht erlegen ist. Es hat sich verändert, sehr verändert, da ist kein Zweifel, aber es hat zentrale Momente seiner Besonderheit bewahrt. Daß man dies heute bemerkt und sich dafür interessiert, hat vielleicht auch zu tun mit der Diskreditierung der - mit Stadt identifizierten - Moderne, die das Interesse an Nischen und Lücken im Modernisierungsprozeß und an Widerständigkeit gegen einen Fortschritt, der nur die Verallgemeinerung und Globalisierung einer Entwicklung von Risiken (Beck 1986) bringt, aufleben läßt. Freilich gibt es diese Widerständigkeit nicht nur auf dem Land - aber das ist ein anderes Thema. Daß Denk- und Verhaltensweisen, eine Kultur, nicht vom Prozeß der Verallgemeinerung industrieller Produktions- und Austauschbeziehungen absorbiert, sondern von mächtigen geschichtlichen Traditionen im Kern bestimmt bleiben, ist sicherlich eine Herausforderung für die Sozialwissenschaft und ihren Fortschrittsbegriff, aber eine Hoffnung für einen anders bestimmten Fortschritt.

Die Lebensweise auf dem Land hat sich in der Zeit des deutschen Wirtschaftswunders (1950-75) vielleicht noch nachhaltiger als in den Städten verändert. Den ländlichen Raum kennzeichnet dabei vor allem die Industrialisierung der Landwirtschaft, die die weithin vorindustrielle, subsistenzwirtschaftlich orientierte Landwirtschaft ersetzte. Trotz langsamer Verbesserungen bei den Geräten, der Zucht, der Fruchtfolge und Düngung war die Produktionsweise der alten Landwirtschaft vorindustriell geblieben. Weit über die Nahrungsmittel hinaus wurde ein Großteil des Bedarfs aus der eigenen Wirtschaft gedeckt. Die Familienbetriebe waren kaum spezialisiert. Diese überkommene Struktur der Landwirtschaft änderte sich schnell und drastisch ab 1950. Sie führte zum Ende des Landes als Produktionsstruktur. Binnen weniger Jahre wurde die Landwirtschaft zu einer voll mechanisierten und kapitalintensiven Branche. Die Tiere verschwanden, die bisher die Geräte gezogen hatten; sie wurden durch stationäre und mobile Maschinen ersetzt. Die Spezialisierung der Betriebe, kombinierte chemische Düngung und Schädlingsbekämpfung steigerten die Erträge beträchtlich und hatten großen Anteil an der Kapitalintensivierung der Branche. Zwar herrscht auch heute in der Landwirtschaft der Familienbetrieb vor, doch ist die Produktionsweise hochindustriell.

Mit dieser Entwicklung verschwanden zugleich die dörflichen Handwerker und sonstigen um die Landwirtschaft herum gruppierten Berufe ersatzlos, an ihre Stelle trat der Servicebetrieb für Maschinen in der Kleinstadt. Die Naturalwirtschaft im Haushalt, d.h. der große Anteil an Selbstversorgung mit eigenen Produkten bzw. der eigenen Weiterverarbeitung der Produkte durch Pökeln, Konservieren, Einmachen usw. ging zurück und wurde durch industriell verarbeitete und gekaufte Produkte ersetzt.

Sozial gingen diese Veränderungen auch mit einer Heterogenisierung der ländlichen Bevölkerung einher. Grundlegend erscheint die Durchsetzung einer auf dem Konsum industriell produzierter Waren beruhenden Lebensform, verbunden mit der gesellschaftlichen Durchsetzung des Individualverkehrs, der Technisierung des Haushalts und einer entsprechenden raum- und energieintensiven Siedlungsform. Analytisch kann man diese umfassende Modernisierung der Reproduktionsstrukturen als strukturell tiefgreifende Individualisierung der Lebensweise interpretieren, die auch die Verschärfung sozialer Problemlagen mit sich bringt. Die Lebens-, Kooperations- und Kommunikationsbeziehungen der Menschen werden zunehmend warenförmig vermittelt. Dann bedrohen aber materielle Defizite die zentralen sozialen Teilhabebeziehungen viel entscheidender. Die gesteigerte Abkoppelung aus wichtigen sozialen Lebensbezügen erscheint als charakteristisches Merkmal moderner sozialer Probleme.

Kurz kann man vielleicht sagen, die ländliche Region vor dem "Wirtschaftswunder" war dominiert von der bäuerlichen und subsistenzwirtschaftlichen Wirtschaftsweise; heute hat sie den Charakter einer infrastrukturell schwächeren Wohnregion, in der die ehemals dominante Land- und Forstwirtschaft keine große Rolle mehr spielen. Die Arbeitskräfte pendeln in die Industrie. Die alte Einheit dörflichen Lebens als Wohn- und Arbeitszusammenhang ist aufgelöst. Das ländliche Milieu hat sich verändert. Einige Aspekte dieser Veränderung will ich im folgenden teils beschreiben und teils analysieren.

Die Lebenslagen auf dem Land haben sich infolge der skizzierten Entwicklungen insgesamt denen städtischer Räume angenähert, es bleibt der Unterschied an infrastruktureller Versorgung. Andererseits bleibt ein Kernbestand traditioneller Orientierung und dörflichen Lebens noch lebendig, der neue Problemlagen anders auffangen kann. Das Lebensniveau ist allgemein gestiegen. Gerade auf dem Land hat der Wohnbesitz stark zugenommen; er bildet einen der Eckpfeiler traditioneller Orientierung. Die moderne Lebensform hat sich auch in das Land hineingeschoben. Die Durchsetzung industrieller Arbeit und der modernen Lebensweise auf dem Land hat auch die sozialen Lebenslagen verändert. Mit der Auflösung familienbezogener Subsistenzwirtschaft und der traditionellen Orientierung, begleitet von Mobilitätschancen durch Bildung, sind die Lebensläufe ihrer überkommenen Überschaubarkeit und Festgelegtheit verlustig gegangen. Sie sind heute nicht mehr soziales Schicksal und milieubezogen vorentschieden, sondern werden tendenziell zum Problem des einzelnen, der nun in viel schärferer Weise sein persönliches Schicksal gestalten muß.

Dieser Gewinn sozialer Mobilität kann als strukturelle Individualisierung gesellschaftlicher Lebenslagen und Erfahrungsgrundlagen verstanden werden. Während dieser Individualisierungsschub u.a. seine Triebkraft aus der Auflösung traditioneller Bindungen an Landbesitz bzw. Handwerksbetrieb, der veränderten Bedeutung der Familie als Kernfigur privaten Lebens und aus strukturell neuen Selbstgestaltungsmöglichkeiten (Partnerschaften, Mobilität usw.) bezieht, und sich diese Entwicklung auf dem Land im starken Abwandern der Jungen ausdrückt, hat gleichwohl auf dem Land trotz aller Attribute der Moderne die traditionelle Orientierung mit den Polen Haus(-bau), Familie und dörfliches soziales Leben (Feuerwehr, Vereine, Nachbarschaft) noch eine außerordentliche Kraft.

Die 1980er Jahre lassen nun erstmals ein Problem schärfer hervortreten, das zuvor wegen der günstigen ökonomischen Entwicklung verdeckt geblieben war, die strukturelle Veränderung der Problemlagen. Daß die sozialen Probleme auf dem Land zunehmen, ist übereinstimmender Befund eines Expertentreffens (ISS 1986) und neuerer Publikationen (Schmals u.a. 1986; Böhnisch/Blanc 1987; Keller 1987; Hottelet 1987). Zwei Entwicklungsstränge lassen sich für diese neuen Sachverhalte angeben: Zur strukturellen Veränderung des Landes sind in dem 1980er Jahren der zunehmende Rationalisierungsdruck in der Landwirtschaft und, als Folge eines ähnlichen, weltmarktinduzierten Rationalisierungsprozesses in der Industrie, der Wegfall zahlreicher industrieller Arbeitsplätze hinzugekommen. Das Problem der Armutslage auf dem Land ist damit erstmals seit den 1950er Jahren in breiterem Maß aktuell/akut geworden.

Freilich besitzen wir keine empirischen Kenntnisse über die Unterschiede städtischer und ländlicher Problemlagen, die Entwicklungstendenzen und Art und Ausmaß eines möglichen (kommunalen) sozialpolitischen Bedarfs.

Offen ist auch die Frage, wieweit noch relativ konsistente verwandtschaftliche, nachbarschaftliche und dörfliche Sozialstrukturen in der Lage sind, einen Teil der z.B. mit Arbeitslosigkeit oder Armut verbundenen sozialen Probleme aufzufangen, zu mildern, zu bearbeiten.

Auch die Vermutung, eine zumindest teilweise Rückkehr zur Subsistenzwirtschaft sei zur Abfederung ökonomischer Risikolagen auf dem Lande noch möglich und könne die materiellen Probleme zumindest abmildern, ist bislang empirisch ungeklärt. Diese Lücke hängt sicherlich mit der Neuheit der Phänomene zusammen, die sich erst in den letzten Jahren so zugespitzt haben.

Gerade die anhaltende Massenarbeitslosigkeit hat diese Problematik verschärft und zu breiteren sozialen Herabstufungs- und Verarmungsprozessen geführt, die eine bislang ungeahnte Härte der Problemlagen mit sich führen. Für die 1980er Jahre dürfte die Komplexität der Problemlagen charakteristisch sein: materielle, soziale, physische etc. Probleme in Kombination, wobei als neuere Entwicklung die Häufigkeit von Verschuldungen hinzutritt. Die neuen komplexen Problemlagen scheinen sich dadurch auszuzeichnen, daß sie die einzelnen Betroffenen bzw. ihren sozialen Kontext überfordern und offenbar erstrangig professioneller sozialer Hilfe bedürfen. Offenbar werden nicht nur die traditionalen Strukturen von Selbsthilfe, sondern auch die ländliche Sozialarbeit von dieser Entwicklung mehr als quantitativ überfordert. Daher stehen neue Angebote, neue effektivere Arbeitsformen sowie die Kooperation mit dörflichen Hilfe- bzw. Sozialstrukturen in Diskussion (vgl. unten). Ungeklärt ist vor allem die Frage, wieweit dörfliche Strukturen zur Hilfsorganisation aktiviert, motiviert und organisatorisch mobilisiert werden können/sollen, wie die Kooperation mit professionellen Diensten gestaltet werden kann und welche Chancen eine solche kombinierte Lösungsform bietet.

Konzepte zum "Strukturwandel im ländlichen Raum"

In agrarsoziologischen Deutungen zum Strukturwandel im ländlichen Raum ist eine systematische theoretische Klärung von ländlicher Raumentwicklung durch gesamtgesellschaftliche Entwicklungsprozessen ziemlich vernachlässigt worden (vgl. den Überblick bei Kromka 1986, auch Pongratz 1987). Die dominierende These, unangepaßtes Bewußtsein bzw. Verhaltensbestände seien für den Rückstand erstrangig verantwortlich, erscheint unzureichend. Außerdem führt in der agrarsoziologischen Literatur die Beschränkung auf die bäuerliche Berufsgruppe tendenziell zum Ausblenden übergreifender Probleme des ländlichen Raums (z.B. Ziehe 1970, van Deenen 1971, Planck/Ziehe 1979). Konzepte einer Minderheit erscheinen weiterreichend, indem als Erklärung der Entwicklungsprobleme auf die Besonderheiten sozioökonomischer Produktionsbedingungen des Agrarsektors zurückgegriffen wird (z.B. Poppinga 1975). Reduziert man diesen Erklärungstypus nicht auf die Landwirtschaft, sondern zielt auf die spezifischen sozialökonomischen und räumlichen Entwicklungsbedingungen ländlicher Regionen allgemein, hat man einen zureichenderen Theorietypus zur Verfügung (z.B. Friedrichs u.a. 1986). Veränderungen in der Entwicklungsdynamik der westdeutschen Gesellschaft haben demzufolge heute andere - überwiegend negative - Auswirkungen auf den ländlichen Raum (Schmals/Voigt 1986).

Ein theoretischer Ansatz, der die besondere Entwicklungsform des ländlichen Raums thematisiert, läßt sich eher außerhalb der Agrarsoziologie finden. Neue Impulse dazu liefern allgemein-soziologische Konzepte. Lutz' (1984 u. 1986) These der dualen Entwicklung der industriellen europäischen Staaten, des Untergangs des traditionellen Sektors vorindustrieller Produktion, erscheint dafür wichtig. Sie erklärt einen Teil der bisherigen Entwicklungslogik der bürgerlichen Gesellschaft und geht von einem Bruch dieser Entwicklungslogik ab der Mitte des Jahrhunderts aus: Bis in die Zeit des sog. Wirtschaftswunders entwickelt sich die Gesellschaft innerhalb einer zweigeteilten Wirtschafts- und Sozialstruktur. Es existiert neben dem modernen Segment, das durch Gewinnorientierung und Lohnarbeit bestimmt wird, ein großes traditionelles Segment mit altüberlieferten Strukturen bäuerlichen und handwerklichen Wirtschaftens, was durch nicht-kapitalistische Prinzipien von Subsistenzwirtschaft in kleinen Familienbetrieben, die nur ansatzweise Trennung von Arbeit und Leben und das Fehlen der Lohnarbeitsform von Arbeit gekennzeichnet ist.

Dabei ist das Land mit seiner Verbindung bäuerlicher und handwerklicher Wirtschaft das räumliche Zentrum des traditionellen Sektors, der im wesentlichen die Lebensmittel für alle gesellschaftlichen Gruppen bereitstellt und in dem die Reproduktion (Lebenserhaltung) der Gesellschaftsmitglieder organisiert wird. Diese lange, fast hundertjährige Symbiose von kapitalistischer Industrie und handwerklich-bäuerlicher Gesellschaft geht erst ab den 1950er Jahren zu Ende (vgl. Lutz 1986, 125).

Diese Perspektive läßt sich vervollständigen durch das Konzept einer allgemeingesellschaftlichen Integration des Bereichs der Lebenserhaltung (Konsumgüterproduktion) in den Kreislauf industriellen Kapitals (Aglietta 1976, Naschold 1985, Hirsch/Roth 1986, Chassé 1988). Die Auswirkungen auf soziale Prozesse hat überzeugend Beck (1986) mit den Thesen der Enttraditionalisierung und Individualisierung vorgestellt. Das sei am Beispiel der Familie ausgeführt:

Vor dem gesellschaftlichen Hintergrund der Auflösung schichten- und klassenbezogener Milieus (Mooser 1984) und einem allgemeinen Wohlstandsschub, vermehrter Bildung und Mobilität haben sich die herkunfts- und milieubezogenen Determinierungen der Lebensläufe und Lebensstile zusehends aufgelöst zugunsten einer übergreifenden Individualisierung und Diversifizierung von Lebenszuschnitten (vgl. auch Beck-Gernsheim 1983). Arbeit und Familie verlieren tendenziell ihre Rolle als Sinnkristall des individuellen Lebens, wiewohl sich infolge dieser Entwicklungen die Bedeutung privater Sozialbeziehungen als Kern von Identitätsstrukturen erhöht. Weniger denn je besteht dieser Kern jedoch in der familialen dauerhaften Lebensgemeinschaft, vielmehr werden neben der Familie familienähnliche Lebensgemeinschaften u.a. die Orte, in denen neue soziale Identitäten konflikthaft ausgebildet werden. Die mit dem gesellschaftlichen Individualisierungsschub gegebenen neuen Chancen privater Lebensgestaltung und Sinnstrukturen brechen sich zudem an den gesellschaftlichen Beschränkungen von Arbeitsmarkt und Mobilität, sozialökonomischen Disparitäten und sozialen Benachteiligungen. So erscheinen die Familie und ähnliche Formen von Lebensgemeinschaft wie die sie umgebenden sozialen Netze in einem Prozeß sozialer und kultureller Evolution einbezogen, der zu vielfältigen Variationen der Intimitätsformen, Identitäten und der Gestaltung sozialer Kontexte führt und dessen "Ergebnis in seiner Widersprüchlichkeit nicht vorhersehbar ist" (Karsten/Otto 1987, XV). Lebensgemeinschaften haben sich generell von Subsistenz- bzw. Reproduktionsgemeinschaften in Richtung auf durch soziale Beziehungen konstituierte Lebensformen transformiert (a.a.O., XVI).

Quitmann/Rauch beschreiben den Wandel im Binnenbereich der Familie auf 3 Ebenen:

  • Enttraditionalisierung und Pluralisierung familialer Lebenswelten, Lebensstile, Familienkarrieren
  • Individualisierung familialer Leistungsbeziehungen (Rollenwandel der Frau, Wandel von Liebe, Ehe und Partnerschaft
  • Wandel der Eltern-Kind-Beziehung (Elternschaft, Wandel der Rolle des Kindes) (1987, S. 145)

Insgesamt erscheinen Familie und andere private Lebensformen infolge der skizzierten Entwicklung sowohl eine stärkere wie eine stärker konflikthafte, widersprüchliche Bedeutung für die einzelnen im Prozeß lebensgeschichtlicher Sinn- und Identitätsfindung erhalten zu haben, so daß perspektivisch der Blick auf die veränderte Innen- und Außendynamik der Familie (im weiten Sinne) zu richten, und die aus der Tendenz zur Überlastung privater Lebensformen durch Intimisierung folgende Fragen nach vergesellschafteter Erweiterung von Sozialisationsprozessen sowie der Unterstützung von privaten Lebensformen durch gesellschaftliche Hilfsangebote zu stellen ist.

Ich gehe davon aus, daß die Entwicklung zu einer umfassenden Diversifizierung der Lebenslagen und Lebensstile auch den ländlichen Raum betrifft, dort aber durch die Macht der traditionellen Lebensweise gebrochen und spezifisch modifiziert wird. In welcher Weise dies geschieht, ist eine der offenen Fragen.

Für die soziale Isolierung und Individualisierung von sozialen Problemen scheint vor allem der Verlust relativ homogener Sozialmilieus mit entscheidend zu sein. Gerade auf dem Lande hat sich aber ungeachtet aller Modernisierung das traditionelle dörfliche Milieu mit bemerkenswerter Kraft erhalten (Brock/Vetter 1986, S. 208 ff.). Als Hypothesen für das Land ließen sich also formulieren:

1. Wegen der strukturellen Besonderheiten des ländlichen Raumes unterscheiden sich die Lebenslagen und Lebensstile von denen verdichteter Räume. 2. Die Veränderungen der gesellschaftlichen Lebensweise haben auch auf dem Land die Lebenslagen und Lebensstile differenzierter gestaltet. 3. Die Bestandskraft der traditionellen Kultur des Landes kann vielleicht einige der neuen Probleme teilweise auffangen. 4. Die Entwicklung der 80er Jahre läßt die dörflichen Strukturen an die Grenze ihrer Integrationsfähigkeit geraten.

Literatur zur ländlichen Sozialarbeit bzw. zum Kontext vom ländlichen Strukturwandel und neuen Aufgaben, Formen und Inhalten von Sozialpolitik, Sozialpädagogik/Sozialarbeit liegt nur vereinzelt vor (Dettling 1984, Böhnisch/Blanc 1987, Hottelet 1987, Faber/Vogtes 1979). Die neuere Literatur stellt insbesondere auf die infolge des Strukturwandels veränderte Problemsituation ab. Erstmals lasse sich von einer Bedarfskonstellation für Sozialarbeit/Sozialpädagogik im ländlichen Raum sprechen (ISS 1986), die Folge des Strukturwandels sei.

Eine neue Entwicklung, wohl durch die ökonomische Krise verstärkt, stelle die zunehmende Komplexität der Problemlagen dar (psychische, soziale, finanzielle, rechtliche Schwierigkeiten kombiniert, vgl. auch ISS 1986, S. 31, 48f.). Sozialpädagogische Ansätze treffen freilich auf die traditionale Orientierung der Betroffenen und ihres sozialen Umfeldes. Die Mentalität der Landbevölkerung bleibt weiterhin von dem historisch gewachsenen Selbstverständnis bestimmt, daß Hilfe von Dritten, Fremden und Institutionen als anstößig gilt. Probleme mit Gesundheit, Erziehung und ökonomische Probleme werden, so irgend möglich, innerhalb der Familie und Verwandtschaft behoben. Die Wirksamkeit und Perspektive dieser Selbsthilfekräfte einzuschätzen wäre eine wichtige Aufgabe. Sozialarbeit/Sozialpädagogik könnte auf dem Land stärker als anderswo "Entwicklungshilfe" für Selbsthilfepotentiale sein, was eine von der dörflichen Gemeinschaft unabhängige Ausweitung vor allem ambulanter sozialpädagogischer Dienste keineswegs ausschließen kann (a.a.O., 43f., vgl. auch Hutter 1985, Keller 1987).

Das "ländliche Milieu": Resignation oder Selbstbehauptung?

Brüggemann/Riehle (1986) sehen in der Auseinandersetzung mit der modernen kapitalistischen Integration, nämlich einem "latent spannungsgeladenen Verhältnis der Gleichzeitigkeit von Anpassung, Distanz und Widersetzlichkeit" (dem Kolonisator gegenüber) so etwas wie kollektive Auseinandersetzungsformen der Menschen im ländlichen Raum. Theoretischer Hintergrund ist die Kolonisierungsthese. Pongratz (1987) glaubt in seiner empirischen Untersuchung eine "Mischung von berufsständischer Distanzierung, konservativ-ordnungsstaatlicher politischer Anpassung und sporadischer Widersetzlichkeit in den gesellschaftlichen Orientierungen" von Bauern als Reaktion auf eine weit fortgeschrittene Modernisierung unter Bauern gefunden zu haben (S. 532 ff.). Während in diesen Deutungsmustern offenbar die resignative Komponente überwiegt, da die Bauern sich eigener Handlungsmöglichkeiten beraubt sehen, diese Entwicklung zu beeinflussen, zeigen die Ergebnisse einer anderen Studie eher die Selbstbehauptung ländlich-traditionellen Milieus. Soziale Beharrung kennzeichnet das Bewußtsein bayerischer Automobilarbeiter, deren "konservatives Arbeitsverständnis" (Brock/Vetter 1986, S. 224) von den Autoren durch die traditionelle Lebensführung in der Heimatregion erklärt wird. Die spezifischen Reproduktionsmuster des ländlichen Milieus erklären für die Autoren die überstarke Loyalität zum Automobilwerk; da in diesem Fall die industrielle Arbeit anscheinend dauerhafter als in früheren Lebensphasen die Möglichkeit gibt, die traditionelle Lebensform mit der Lohnarbeit integrieren zu können, wobei sich die Automobilarbeiter unter den an Bescheidenheit und Genügsamkeit orientierten materiellen Lebensbedingungen der Dörfler am oberen Ende der Sozialskala befinden.

Hinter dem zentralen Befund dieser Studie, der sozialen Beharrung (S. 226), verbirgt sich mithin ein hohes Maß kultureller Resistenz der traditionalen Lebensform. Das ländliche Umfeld wird als sozial und sozialisatorisch homogen beschrieben, der Anteil an Hausbesitz liegt sehr hoch, der Ausstattungsgrad der Haushalte mit Geräten erscheint durchschnittlich, 90 % sind verheiratet oder leben eheähnlich, Familie und Freizeit sind traditionell gemeinschaftsbezogen organisiert. Urlaub und extensivere Freizeitvergnügen werden als nachrangig empfunden. Städtische und staatlich alimentierte Lebensformen wirken als Negativbild (S. 225). Die Studie ergibt, daß konservative, überkommene und in diesem Sinn auch partiell vorindustrielle Leitbilder ihre Gültigkeit im Alltagsleben behalten, obwohl in der äußeren Infrastruktur der Region wie auch im Lebensstandard der Bevölkerung generell zum Teil erhebliche Veränderungen eingetreten sind. Seine Kraft bezieht dieses ländliche Milieu aus seiner sozialisatorischen und kulturellen Besonderheit; es sind die Kindheit im Dorf, der Beginn des Arbeitslebens im Rahmen vertrauter örtlicher sozialer Beziehungen, Heirat und Kinder, Hausbau und die Integration der Menschen in Vereine am Ort, die engen Kontakte zu Verwandten und Freunden von früher, die die lebensweltliche Attraktivität und Geschlossenheit traditioneller Lebensform ausmachen. Die Autoren sehen in ihren Befunden eine Gegenthese zu traditionellen Auffassungen von Industrialisierung, eine Heterogenisierung der Industrialisierungsformen, und man kann fragen, ob nicht gerade die besondere Form der Auflösung des traditionellen ländlichen Sektors in der Nachkriegsprosperität, nämlich das Fehlen einer Arbeitsplatzproblematik, gerade eine Bedingung der Resistenz ländlicher Sozialstrukturen gegenüber modernistischen Lebensformen darstellt.

Die in dieser Studie Befragten haben mit der lebensgeschichtlichen Entscheidung für den Verbleib in der Heimatregion eine "bewußte Präferenz" getroffen, die zeitweiliges Pendeln zur Arbeit oder Abwesenheit für einen begrenzten Zeitraum einschließt. Damit ist eine wichtige Frage angesprochen: ob sich diese Präferenz auch in einer individuellen und sozialen Krisensituation wie der Arbeitslosigkeit durchhalten läßt. Mit der Häufigkeit von Arbeitslosigkeit wird auch das - vermutliche - dörfliche Deutungsmuster in Frage gestellt, nach dem es keine Nichtbeschäftigung gibt, da neben der beruflichen tradionelle andere Formen teilweiser Integration in dem dörflichen Arbeitskontext bestanden.

Insgesamt möchte ich die Befunde aber relativieren, weil hier das dörfliche Milieu doch als bruchlos homogen und letztlich idyllisch erscheint. Der Befund hängt wohl damit zusammen, daß mit der industriesoziologischen Forscherperspektive auf die Industriearbeiter nur die - wie die Verfasser selbst sagen - am oberen Ende der dörflichen Sozialskala Stehenden betrachtet wurden, die, denen es gelungen ist, Industriearbeit und Verbleib im Heimatmilieu zu verbinden. Man wird davon ausgehen müssen, daß unter heutigen Verhältnissen diese Perspektive prekär geworden ist und sich gerade innerhalb des dörflichen Gemeinwesens zahlreiche Brüche, Inkompabilitäten, Widersprüche usw. angesiedelt haben. Allgemeiner kann man sagen, daß insbesondere durch die um 10 Jahre andauernde Massenarbeitslosigkeit auch zentrale Grundorientierungen des dörflichen Milieus in Frage gestellt werden. Das gilt sowohl für die Subjektseite, da ja die zentralen Stationen dörflicher Sozialisation - Kindheit, Schulzeit, Eintritt ins Arbeitsleben, Familiengründung usw. bis hin zur Integration ins dörfliche soziale Leben - direkt oder indirekt tangiert sind, wie für die Seite der dörflichen Leitbilder und Verkehrsformen, die durch diese neuen und in historisch neuer Konstellation auftretenden Probleme in Frage gestellte werden, da sie zunehmend inkonsistent werden.

Es muß, wenngleich in ländlichen Regionen mit zeitlicher Verzögerung und spezifischen Modifikationen, davon ausgegangen werden, daß ein säkularer Individualisierungsprozeß mit erheblichen Konsequenzen für individuelles Handeln wie für die Struktur sozialer Systeme ausgelöst wurde. Über die Enttraditionalisierung von Lebenswelten obliegen Formen des Lebensentwurfs und -Verlaufs und der alltäglichen Lebensführung zunehmend individueller Entscheidung. Die selbstverständliche Orientierung an vorgegebenen, tradierten Handlungsmustern, Normen und Leitbildern wird zunehmend weniger notwendig und möglich.

Bei dem anhaltend hohen Niveau der Arbeitslosigkeit sollte man eher davon ausgehen, daß die Belastungskapazität arbeitsmarktexterner Reproduktions- und Lebensformen erschöpft ist. Die Individualisierung ökonomisch generierter Probleme führt zu sozialer Desintegration, gesellschaftlicher Isolation in Resignation und damit einer Deformation der privaten Lebenssphäre der Betroffenen sowie der Problemverschiebung in die sozial-kulturelle Lebenswelt der betroffenen Gruppen. In den letzten Jahren läßt sich eine sich verschärfende regionale Streuung der Arbeitslosigkeit ablesen, so daß über die regionale Segmentierung des Arbeitsmarkts sich die Lebens- und Reproduktionsbedingungen peripherer Räume verschlechtern und zu einer verstärkten sozialen Strukturierung der Betroffenengruppen beitragen.

Literatur

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