Pfad: Startseite > Hefte > 1989 > Bildung zur Gerechtigkeit

 
Startseite Suchen Druckansicht imagemap Schrift verkleinern Schrift vergrößern

Heft 33: Moralisierungsdiskurs

1989 | Inhalt | Editorial | Leseprobe

Titelseite Heft 33
  • Dezember 1989
  • 100 Seiten
  • EUR 7,00 / SFr 13,10
  • ISBN 3-88534-051-8

Micha Brumlik

Bildung zur Gerechtigkeit
Über Moralpädagogik und Jugendarbeit

I. Die Linke und die Moral

Das Wort "Moral" hatte bei der Neuen Linken - im Unterschied zur alten Linken - noch nie einen guten Klang. Im Unterschied zur alten Linken, die inkonsequenterweise einerseits an den Selbstlauf der Weltgeschichte glaubte, andererseits jedoch von ihren Mitgliedern individuelle Tugenden wie Mut, Solidarität und Opferbereitschaft einforderte, stand die Neue Linke in der Tradition der großen antimetaphysischen Moralkritiker des neunzehnten Jahrhunderts.

Mit dem reifen Marx sah die Neue Linke in der Moral ein historisch vergängliches Überbauphänomen, das allenfalls gegen die sie hervorbringenden Verhältnisse gekehrt werden konnte, aber selbst kaum wahrheitsfähig war. Mit Nietzsche wurde das oft muffige, spießige, wenig großzügige, letztlich ressentimentgeladene Reagieren aller Moral entlarvt, offenbarte sich ihr vermeintlich durch und durch zwanghafter Charakter.

Mit Sigmund Freud endlich erschien Moral als ein zwar der bisherigen Vergesellschaftung dienlicher, zivilisatorisch eventuell wichtiger, aber nichtsdestowenigertrotz verinnerlichter Überichzwang, den eine befreite Gesellschaft zugunsten lustvoller Kooperation würde aufgeben können. Schließlich schlug sich in den ästhetischen Revolten der Situationisten und ihrer Nachfolger bis zu Fritz Teufel das Erbe des europäischen Ästhetizismus seit Baudelaire nieder, der die Schönheit des Bösen und Schockhaften gegen die eingelebten Üblichkeiten des Alltags kehrte.

Die Nachhutgefechte der Postmodernisten von der eindringlichen Machtkritik Foucaults über den philosophisch dünnen Relativismus Lyotards bis hin zum Zynismus Baudrillards fügen der großen antimetaphysischen Moralkritik des neunzehnten Jahrhunderts in der Sache nichts hinzu, sondern wiederholen die alte Melodie im aufgeputzten Gewande.

Es bedurfte des Scheiterns der Neuen Linken im Deutschen Herbst und des Ökologieschocks, um zu erkennen, daß moralische Diskurse dem linken Projekt nicht nur äußerlich anhaften, sondern ihm gleichsam wesentlich sind.

Warf der Deutsche Herbst in aller Deutlichkeit moralische Fragen wie die nach der Solidarität der Linken, der Legitimität des Ausübens von Gewalt und der Illegitimität staatlichen Handelns auf, so konfrontierte die ökologische Krise und die dritte technologische Revolution die Linke mit Fragen wie der, ob AKWs zumutbar seien, ob gentechnologische Eingriffe in die Keimbahn zulässig sind, ob und in welchem Sinn es ein Recht auf Datenschutz gebe. Friedensbewegung und all die öffentlich geführten Debatten über die nationalsozialistische Vergangenheit, die nach Bitburg geführt wurden, verankerten moralische Diskurse in den Neuen Sozialen Bewegungen so sehr, daß sie in ihrem Kern oft genug als Kreuzzüge von Moralaposteln erscheinen konnten. Ist es erlaubt, zur Drohung Massenvernichtungsmittel auch nur bereitzuhalten? Was heißt es, daß nachfolgende Generationen jüngerer Deutscher die Verantwortung für die Verbrechen der Nationalsozialisten, ihrer Helfershelfer und Mitläufer übernehmen sollen? Dürfen wir heute Ungeborenen eine belastete Umwelt hinterlassen?

Im Lichte dieser Überlegungen erweist sich retrospektiv, daß das ganze Engagement der Neuen Linken wesentlich nichts anderes war, als das Aufbegehren einer ganzen Generation gegen die Ungerechtigkeit und Verlogenheit, mit der die selbsternannten Hüter westlicher Werte von Algerien über Vietnam bis in die deutsche Vergangenheit und ihre Folgen Lebensrecht und Würde von Millionen Menschen mit Füßen traten. Der Wille, diesem moralischen Impuls eine angemessene Theorie zu unterlegen, führte dann jedoch auf den Holzweg eines szientistisch gelesenen Marxismus, der die unabdingbare Forderung nach illusionsloser Analyse der gesellschaftlichen Zustände mit dem historischen Mißverständnis verquickte, daß das Aufbegehren gegen herrschende Ungerechtigkeit nicht mehr als ein argumentativ nicht begründbarer, somatischer Reflex und der Lauf der Geschichte in Umrissen wenigstens entlang der Spannung von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen abzulesen sei.

Marxens verzweifelte Anstrengung, seinen Leserinnen und Lesern weiszumachen, daß Ausbeutung qua Aneignung von Mehrwert kein Phänomen von moralischer, sondern nur ökonomischer Bedeutung sei, zeugt ebenso von diesem Mißverständis wie Adornos nur zu verständliches, verzweifeltes Diktum, wonach Argumente gegen die Verbrechen von Auschwitz nur dem Denken Vorschub leisteten, das erst zu Auschwitz geführt habe.

Heute steht nun die Linke bzw. das, was von ihr übrig geblieben ist und das, was sich vielleicht einmal zu einer postkonventionellen Linken formieren wird, vor der Aufgabe, ihre Argumente und Fundamente (jawohl, Fundamente!) neu zu sortieren und dabei einen Begriff von Moral wiederzuentdecken, der sowohl die eigene Praxis einholen als auch die Verzeichnungen in der Lektüre der Moralkritiker von Marx bis Freud korrigieren kann. Dazu bedarf es sowohl eines selbstkritischen Durchgangs durch die eigene Theorieentwicklung, die ich hier nur streifen kann, als auch einer kritischen Neuaneignung dessen, was um die Jahrhundertwende und danach als ethischer Sozialismus verächtlich gemacht wurde. Für diese Idee gibt es heute in der Tat neue Argumente und Theorien, die im folgenden skizziert und in ihrer praktischen Bedeutsamkeit gewürdigt werden sollen.

Schematisch, und damit nicht wahr, sondern nur heuristisch nützlich, ließe sich der Weg der Linken in der Bundesrepublik folgendermaßen beschreiben: von Engels zu Habermas!

Auf diesem langen Weg standen (eher logisch als historisch) zuerst Engels, Bloch und Marx Paten.

Am Anfang stand der dialektische Materialismus mit seinem metaphysischen und mechanistischen Glauben an dialektische Gesetzmäßigkeiten der Materie, die sich auf dem einen oder anderen Weg auch in der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt durchsetzen würden und denen nur mit geeigneten strategischen Mitteln beizuspringen sei. Naturrecht und menschliche Würde können in einer solchen Theorie trotz aller Beteuerungen schon deswegen nicht den ihnen gebührenden Platz finden, da alle Theorien, die von höchsten Gütern ausgehen, praktisch alle Mittel freigeben, um dieses höchste Gut so bald wie möglich zu erreichen. Es ist kein Zufall, daß die dem dialektischen Materialismus entsprechende politische Theorie der Stalinismus oder Attentismus ist. Verbindet sich eine solche Ontologie zudem noch mit einer optimistischen Geschichtsphilosophie, so verlieren moralische Skrupel ihre letzte Bedeutung, wissen doch die Exekuteure der materiellen Gesetzmäßigkeiten, daß ihr Spiel gut ausgehen muß.

Die Neue Linke setzte wider den Stalinismus und wider den eindimensionalen Welfare und Warfare Staat des vermeintlich späten Kapitalismus an und hatte dabei die Katastrophe der industriellen Massenvernichtung ebenso im Rücken wie die nüchterne Einsicht, daß sich das Proletariat in die Korporationen eines saturierten Wirtschaftsbürgertums zurückgezogen hatte. Die immer noch basale Kapitalismuskritik mußte darum auf der Suche nach einer theoretischen Grundlage auf eine um die Theorie des höchsten Gutes und den Geschichtsoptimismus ermäßigte Lehre der kapitalistischen Entwicklung und eines existenziell motivierten, nicht begründeten Widerstands stoßen. An die Stelle von Marx/Engels und Bloch treten nun Marx, Freud, Adorno und Marcuse. Der dialektische Materialismus wird nun durch den historischen Materialismus ersetzt, der Gesellschaftliches nur noch aus Gesellschaftlichem erklären will und auf Naturontologie verzichtet. Mit Marx werden nun die Tiefenstrukturen der kapitalistischen Gesellschaft in Warenform und Fetischismus, in Akkumulationsgesetzmäßigkeiten und Profitraten, mit Adorno/Freud/Weber die entfremdenden und aggressionsfördernden Mechanismen von Triebunterdrückung und verselbständigter Zweckrationalität entdeckt. Mit Hilfe der Psychoanalyse läßt sich nun eine Art biologischer Wurzel des Sozialismus entdecken, der Aufstand der vom Leistungsprinzip gepeinigten Triebe gegen die eindimensionale Gesellschaft. Nachdenklichere Theoretiker teilten zwar mit Marcuse dessen Hochschätzung der Psychoanalyse, blieben aber seinem Aktivismus gegenüber skeptisch und setzen auf die Insistenz negativen Denkens und esoterischer Kunst - so Adorno.

Moralische Skrupel spielen in einer für somatisches und physisches Leid sensibilisierten Kritischen Theorie eine entscheidende Rolle - wie aber sollen sie ausgewiesen werden, wo doch alle Moral unter dem Verdacht steht, entweder ein Derivat von Überichzwängen oder von Reziprozitäts- und Äquivalenz-, d.h. letztlich zu überwindenden Tauschprinzipien zu sein? Existenzieller Protest und negativistische Kritik sind der angemessene Ausdruck einer geschichtspessimistischen Gesellschaftstheorie, die sich von den morschen Stützen einer Ontologie und eines halbblinden Optimismus entfernt hat. So moralisch eine von solchem Denken belehrte Praxis auch handelt, so wenig darf sie doch einräumen, daß begründbare und autonome Moral sie ebenso bewegt, wie die Produktionsbedingungen des Lebens. Auf dem Spiel steht hier nicht mehr und nicht weniger als das Materialistische am Historischen Materialismus.

Eine Linke, die aus welchen guten oder schlechten Gründen auch immer den Bannkreis nur intellektueller Kritik und existenzieller Aktion durchbrechen will und unter den bestehenden Umständen politisch wirken möchte, mußte, je mehr sie die moralische Ökonomie sozialen Protests wahrnahm, erst die klassentheoretischen und dann auch die formationstheoretischen Hypothesen des Historischen Materialismus einziehen, denselben um seine Entwicklungstheorie und seine substantialistische Geschichtsphilosophie erleichtern und ihn zu einer praktisch vermittelten Methode umdeuten. Mit dem jungen Marx, mit Korsch, Gramsci, mit Kosik, Lefèbre und Castoriadis wird aus dem Historischen Materialismus so in einer letzten Mutation die Praxisphilosophie. Sie stellt sich uns als ein kritischer Historismus in Reinform dar, der vom jungen Marx einige moralische (kantianische und romantische) Intuitionen übernommen hat, sich aber ansonsten dem politischen Gemeinwesen spätkapitalistisch bzw. realsozialistischer Staaten zuwendet und der Erfindung einer angemessenen Beschreibung dieser Gesellschaften und akzeptabler Strategien zu ihrer Überwindung den Vorrang gibt. Unversehens wandelt sich hier Kapitalismus- in Bürokratiekritik, während methodisch die Produktivität und Innovationskraft sozialer Gruppen zum leitenden Prinzip erhoben wird. In diesem Denken wird der Historische Materialismus selbst konsequent historisiert, während das Ziel, das Worumwillen der Politik entweder im Dunkeln bleibt oder als Polis, als Stadt, als civil society wiederentdeckt wird. Die Willkürlichkeit dieser Ziele mag aus der Ausweglosigkeit des realen Sozialismus erklärbar sein, was sie im vollentfalteten Kapitalismus mit seinen Massengesellschaften und Steuerungsproblemen zu sagen haben sollen, bleibt undeutlich. In Bezug auf die Moral hat die Praxisphilosophie zu einem halbherzigen und eher opportunistischen Kompromiß gefunden. Die Selbstverständlichkeit, daß keine sozialistische Gesellschaft hinter das erreichte Niveau bürgerlicher Rechtssicherheit und garantierter Menschenrechte zurückfallen dürfe, wird immer wieder beteuert, aber nicht begründet. Nachdem die Praxisphilosophie den Materialismus aufgegeben hat, bleibt sie als Historimus zurück und kann entweder nur noch reagieren, regredieren oder die Flucht nach vorne antreten und sich selbst als normativ inspirierte und methodisch ausweisbare, begründete aber auch bestreitbare politische Praxis begreifen. An genau diesem Punkt wirft der Materialismus seinen mißverständlichen Anspruch ab, als wissenschaftliche Theorie zugleich begründen zu können, was geschehen soll und begründet sich neu als ethischer Sozialismus - als letztmögliche Form, in der Sozialismus überhaupt denkbar ist.

Die historische Erfahrung aller realer Formen des Sozialismus von Pjöngjang bis zu den israelischen Kibbuzim ließ die Einsicht reifen, daß "Sozialismus", wenn er überhaupt noch gedacht werden kann, nicht mehr als eine Form guten Lebens, sondern nur noch als ein abstrakter, an Gerechtigkeitsprinzipien orientierter Rahmen für eine Pluralität von individuell vermittelten Lebensweisen konzipiert werden muß.

Die historische Erfahrung der ökologischen Krise ließ zudem deutlich werden, daß über keine Lebens- und Wirtschaftsweise mehr isoliert nachgedacht werden kann, daß streng genommen jede politische, ökonomische Handlung die Interessen aller Menschen, auch der zukünftig lebenden berührt. Im ökologischen Schock entbarg sich die Gattungsfrage und damit die Aufgabe eines strikten Universalismus, der dem Marx der "Judenfrage" zum Trotz seine institutionelle Verwirklichung in den Menschenrechten gefunden hat.

Das, was ich oben als postkonventionelle Linke bezeichnet habe, und das seinen durchaus ambivalenten ersten Ausdruck in den Neuen Sozialen Bewegungen gefunden hat, orientiert sich an hochabstrakten Gerechtigkeitsprinzipien unter Verzicht auf das Vorschreiben von Lebensformen. Dabei bedient sie sich zur Analyse der gegenwärtigen Situation aller möglichen wissenschaftlichen Theorien im Wissen von deren Grenzen, ohne dogmatisch die eine vor der anderen zu bevorzugen. Das, was vormals wissenschaftlicher Sozialismus war, fällt nun in eine Reihe gesellschaftswissenschaftlicher Theorien, die freilich immer normativ aufgeladen sind und auf einige sparsame Gerechtigkeitsprinzipien, die systematisch gerechtfertigt werden müssen und können, auseinander. Vor diesem Hintergrund sind nun neuere Entwicklungen der Moralpädagogik zu betrachten.

II. Von der Moral zur Sozialwissenschaft

Die soeben erzählte Geschichte des linken Denkens in der Bundesrepublik versuchte zu verdeutlichen, daß linke Theoriebildung einem zunehmenden Abstraktionsprozeß unterlag, an dessen Ende nicht mehr übrig blieb, als die begründete Überzeugung, daß die menschliche Angelegenheit gerecht, d.h. die Bedürfnisse und Ansprüche aller mitberücksichtigt und nach Maßgabe der historisch-gesellschaftlichen Umstände stets so egalitär wie möglich geregelt werden sollen. Vor diesem Hintergrund einer so ausweisbaren Überzeugung läßt sich nun zeigen, worin die großen Moralkritiker des neunzehnten Jahrhunderts und ihre marxistischen Nachfolger gerirrt haben. Das Projekt linker Politik bestand - anders als etwa das Projekt illusionsloser Wissenschaft - niemals nur darin, die Welt zu erklären oder zu interpretieren, sondern: sie zu verändern! Im Unterschied zu rückwärtsgewandten Erklärungen, die sich nur auf schon geschehene, unveränderbare Ereignisse beziehen können, hat es Politik mit künftigen Handlungen zu tun, also mit dem, was in einem gegebenen Rahmen durch menschliche Intervention veränderbar ist. Es geht also um das, was künftig entweder nach Maßgabe individueller Interessen tunlichst durchzusetzen ist oder um das, was unter Berücksichtigung der eventuell widerstreitenden Interessen vieler oder aller nach Maßgabe eins vernünftigen Kriteriums jetzt getan werden soll. Eine Theorie der Moral beschreibt nicht mehr, aber auch nicht weniger, als jenes Kriterium, anhand dessen mit Argumenten eventuell widerstreitende Interessen universalistisch einer Lösung nähergebracht werden. Dabei spielt der Gedanke, daß ein wirkliches Austauschen von Argumenten nur unter zwanglosen Bedingungen möglich ist, eine hervorragende Bedeutung, verdeutlicht er doch, daß bereits jedes vernünftige Reden eine minimale, zwangsfreie Moral impliziert.

Diese Konzeption von Moral ist den Standardeinwänden der großen Moralkritiker des neunzehnten Jahrhunderts, die vor allem den Standpunkt der von illegitimen gesellschaftlichen Zwängen unterdrückten Individualität einnahmen, nicht mehr ausgesetzt:

Indem diese Konzeption von Moral deutlich herausstellt, daß ihr Ziel eine zwanglose Verständigung über strittige Fragen ist, entgeht sie dem Hinweis, daß das Wesen der Moral im unbefragten Hinnehmen repressiver und undurchschauter Normen steht.

Entgegen dem besserwisserischen Einwand, daß derlei naiv, die Verhältnisse ohnehin anders, auf grobe Klötze grobe Keile und zu jedem Hobeln fallende Späne gehörten, ist zu unterstreichen, daß eine Moraltheorie selbstverständlich eine Idealisierung darstellt, wenn man so will - eine regulative Idee! Dem hierauf folgenden hegelianischen Hohn bezüglich der Ohnmacht des Hoffens und Sehens sowie der Subjektivität des Meinens und des guten Willens wird entgegnet, daß moralische Diskurse erstens in der bisherigen Veränderung der Welt faktisch eine große Rolle gespielt haben und zweitens, daß gerade diese in der Wirklichkeit angelegten Idealisierungen überhaupt erst ein negativistisch kritisches Bewußtsein, eine Distanz zur blinden Affirmation des Gegebenen ermöglichen. Nichts anderes meinte Marxens Aufforderung, den bestehenden Verhältnissen die eigene Melodie vorzuspielen - nur daß eine nicht historische, universalistische Moraltheorie die Auffassung vertritt, daß auch derlei Melodien noch auf ihre Vernunft hin überprüft werden können. Wenn also moralische Argumentationen weder der Vorwurf, sie strebten nur moralinsaure Bedürfnisrepression bzw. ideologische Interessencamouflage an, noch der Hinweis, sie seien bezüglich des Weltlaufs naiv, gemacht werden kann, so entpuppt sich Moral in der Tat als der Kern des "linken Projekts", nämlich als das ausweisbare Interesse, die gesellschaftlichen Angelegenheiten gerecht zu regeln (soweit war schon die alte Linke) als auch den Prozeß dieser Regelung selbst strikt universalislisch und d.h. demokratisch zu gestalten. Mehr als diese sparsame universalistische Gerechtigkeitsintuition ist nach den schrecklichen Irrtümern, moralischen Katastrophen und verheerenden wirtschaftlichen und politischen Fehleinschätzungen der alten und auch von Teilen der neuen Linken nicht mehr möglich, aber auch nicht mehr nötig. Was die postkonventionelle Linke hingegen so dringend benötigt wie ein Fisch das Wasser, sind keine Ontologien, Geschichtsphilosophien und Spekulationen, sondern komplexe, gehaltvolle und überprüfbare (d.h. auch widerlegbare) Theorien, die uns Wege durch das Dickicht einer von Umweltkrise, elektronischer Revolution und nie gekannten außenpolitischen Veränderungen aufgewühlten Landschaft eines nachindustriellen Dienstleistungskapitalismus weisen. Wie unter diesen Bedingungen die Menschen durch demokratische Teilhabe den Selbstlauf von Wirtschaft, Recht und Bürokatie so kontrollieren können, daß Raum zum Entwerfen, Offenhalten und Durchsetzen eigener Zukunftsvorstellungen bleibt, ist die zentrale Frage, die sich politischer Bildung - zumal im Bereich der Jugendarbeit - stellt.

Nimmt man die oben genannte Konzeption ernst - nämlich Kriterien bereit zu stellen, wonach gesellschaftliche Angelegenheiten in einem universalistischen und egalitären Geiste erörtert werden sollen, so wird sofort deutlich, daß eine solche Moral bei den Individuen bestimmte Fähigkeiten und Haltungen voraussetzt: nämlich die Fähigkeit, von den eigenen Interessen virtuell abzusehen und sich in die Lage anderer zu versetzen, die Bereitschaft, überkommene und unkritisch übernommene Regeln und Praktiken nach Maßgabe eines universalistischen Gerechtigkeitskriteriums in Frage zu stellen sowie die Verallgemeinerbarkeit von Regeln und ihre individuelle Zumutbarkeit beurteilen zu können. Mit der Frage nach den individuellen Voraussetzungen für moralisches Handeln und Urteilen befinden wir uns aber im Bereich der Psychologie, genauer und zugleich abstrakter gesprochen im Bereich der Sozialwissenschaften, die uns darüber Auskunft geben können, unter welchen Bedingungen derartige Haltungen entstehen können.

Theodor W. Adorno, der seinen pessimistischen Einsichten entsprechend in einem verwalteten Deutschland nach Auschwitz nur noch eine reformistische Pädagogik als praktische Möglichkeit sah, hat vor dem Hintergrund ähnlicher, aber nicht identischer Voraussetzungen massiv eine stärkere Berücksichtigung sozialwissenschaftlicher Einsichten angemahnt:

"Es kommt wohl wesentlich darauf an, in welcher Weise das Vergange vergegenwärtigt wird, ob man beim bloßen Vorwurf stehen bleibt oder dem Entsetzen standhält durch die Kraft, selbst das Unbegreifliche noch zu begreifen. Dazu bedürfte es freilich einer Erziehung der Erzieher. Sie wird auf das schwerste dadurch beeinträchtigt, daß das, was in Amerika behavioural sciences (sic M.B.) genannt wird, in Deutschland nicht oder nur äußerst dürftig vertreten ist. Dringend wäre zu fordern, daß man an den Universitäten eine Soziologie verstärkt, die zusammenfiele mit der geschichtlichen Erforschung unserer eigenen Periode. (Sperrung M.B.) Pädagogik müßte, anstatt mit Tiefsinn aus zweiter Hand über Sein des Menschen zu schwafeln, eben der Aufgabe sich annehmen, deren unzulängliche Behandlung man der re-education so eifrig vorwirft." (Adorno 1971: 25)

Adornos Votum für "Verhaltenswissenschaften" und "re-education" geht über das hinaus, was üblicherweise für die von ihm befürwortete wissenschaftliche Grundlage einer Erziehung gegen die Kälte, zur Einfühlsamkeit, einer Erziehung nach Auschwitz gehalten wird. Gewiß stellen die psychoanalytisch zu ermessenden Grundlagen eines nichtautoritären Verhaltens unerläßliche Grundlagen eines demokratischen Handelns dar, wie es die "re-education" anzielte. Ebenso gewiß aber bedarf es noch weitergehender kognitiver Fähigkeiten, wenn es darum geht, nicht nur das Schlimmste zu verhüten (nämlich den Rückfall in den Nationalsozialismus, den Adorno noch sah), sondern auch einen Modus zu finden, in einer immer unübersichtlicher werdenden ökologischen, sozialen und weltpolitischen Lage universalistisch zu urteilen. Hierzu gehört nicht nur ein Minimum sachlicher Informationen bzw. der Bereitschaft und Fähigkeit, auch komplexe sachliche Informationen zu verarbeiten, sondern auch die Bereitschaft und Fähigkeit zur moralischen Abstraktion und Dezentrierung.

Adorno hat jene Theoretiker, die sich für diese Problematik interessierten, nicht zur Kenntnis genommen bzw. gegen einen ihrer gesellschaftstheoretischen Gewährsleute, den französischen Soziologen Emile Durkheim, ob dessen vermeintlichen Positivismus heftig und zu Unrecht polemisiert. Dies dürfte nicht zuletzt daran gelegen haben, daß Durkheim, in diametralem Gegensatz zu den anfangs erwähnten Kritikern des Moralismus, die Auffassung vertreten hat, daß das stets behauptete Spannungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft, zwischen subjektivem Wunsch gesellschaftlichem Leben nicht repressiv sein muß, mehr noch, daß es überhaupt erst die freiwillig befolgten moralischen, normativen Regeln sind, die das stiften, was Marxisten als gesellschaftliche Synthesis bezeichnen. Im Unterschied zum Marxismus hat diese Form bürgerlicher Soziologie stets darauf hingewiesen, daß sich etwa das Recht nicht durch den Warentausch erklären läßt, da jeder geregelte Tausch bereits legitim akzeptierte Austauschregeln voraussetzt. Es kann hier nicht darum gehen, die Auseinandersetzung Adornos mit Durkheim zu analysieren, sondern allenfalls darauf, zu zeigen, warum eine im neueren soziologischen Denken breit angelegte Soziologie und Psychologie der Moral im linken Diskurs verdrängt wurde.

Es war der genetische Erkenntnistheoretiker Jean Piaget, der im Anschluß an Durkheim die Entwicklung des Moralurteils bei Kindern untersuchte. Auf diesen Untersuchungen baute schließlich der us-amerikanische Psychologe Lawrence Kohlberg seine kognitive Theorie der Entwicklung des moralischen Urteilsvermögens auf, die auf der Schnittstelle von Philosophie und Psychologie angesiedelt, ebenso normativ gehaltvoll wie empirisch überprüfbar und so weit gut bestätigt ist.

Wenn das politische Projekt der postkonventiellen Linken die diskursive Verflüssigung des Selbstlaufs von Markt, Recht und Bürokratie ist, so entspricht diesem Projekt eine politische Bildung, die im Anschluß an Lawrence Kohlberg das moralische Urteilsvermögen in echten Auseinandersetzungen, einer demokratischen Atmosphäre und relevanten Konflikten fördert.

III. Sozialwissenschaftlich angeleitete Bildung zur Gerechtigkeit

Kohlberg und seine Schule haben durch eine Fülle von Studien - die sich über die ganze Erde und verschiedenste Gesellschaften erstreckten - empirisch erhärten können, daß die Entwicklung des moralischen Urteilsvermögens der Menschen einer Entwicklungslogik folgt. Eine Entwicklungslogik liegt dann vor, wenn jede erreichte Entwicklungsstufe beinhaltet, daß vor ihr entsprechend niedrigere Stufen durchlaufen worden sind und daß Rückfälle von einer einmal erreichten Stufe auf niedrigere Stufen nur unter Zwang möglich sind. Von einer Entwicklungslogik sprechen wir ferner dann, wenn gesichert ist, daß im Verlauf der Entwicklung keine Stufe übersprungen werden kann. Von einer solchen Entwicklungslogik ist die Entwicklungsdynamik zu unterscheiden, die darüber Auskunft gibt, aufgrund welcher Faktoren im Verlauf der Sozialisation der Übergang von einer Stufe zur nächsthöheren gelingt. Dies sind nach Kohlberg vor allem gehaltvolle argumentative Debatten über moralische Konflikte.

Kohlberg und seine Mitarbeiter haben zunächst zwischen drei allgemeinen Stufen der Entwicklung moralischer Urteilsfähigkeit unterschieden: einer präkonventiellen, einer konventionellen und einer postkonventionellen Stufe. Das Kriterium der Unterscheidung und Konstruktion dieser Stufen ist die Stellung von Menschen zu den moralischen Üblichkeiten, der "Moral", unter der sie leben.

Menschen auf einer sehr niedrigen Entwicklungsstufe (auf jeden Fall kleine Kinder) sind kaum in der Lage, moralische Regeln und Begründungen als etwas zu begreifen, dem mehrere gemeinsam folgen müssen und geben ihre diesbezüglichen Urteile nur aus der Perspektive ihrer Interessen ab. Sie urteilen präkonventionell.

Menschen einer mittleren Entwicklungsstufe (ältere Kinder, viele Jugendliche und Erwachsene) halten sich mehr oder minder rigide an das, was vorgegeben ist, sie urteilen konventionell. (Dem konventionellen Urteil korrespondiert bei Erwachsenen oft, aber nicht notwendigerweise ein autoritärer Charakter.)

Menschen, die endlich die höchste, die postkonventionelle Stufe erreicht haben, haben zugleich verstanden, daß vorfindliche Regeln und Üblichkeiten falsch sein können, daß gesellschaftliche Moralen ihrerseits von einem allgemeinen und abstrakten Gesichtspunkt aus begründet und gerechtfertigt werden müssen. Sie urteilen postkonventionell. Diese drei Stufen zerfallen noch einmal in mindestens je zwei Unterstufen, die ich im folgenden anhand der besten mir bekannten Einführungen, die es hierzu auf Deutsch gibt, wiedergebe. (Aufenanger u.a. 1981). Hier werden für jede Stufe und Unterstufe die ausformulierten und empirisch ermittelten Kriterien dargestellt, die Menschen verwenden, wenn sie schwierige moralische Dilemmata, wie etwa das, ob unter Lebensgefahr Recht und Gesetz gebrochen werden darf, anlegen. (Bei seinen Untersuchungen hat Kohlberg stets größten Wert darauf gelegt, sich nicht auf die faktischen Antworten auf derlei Dilemmata zu beziehen, sondern auf deren formale Begründungsmuster. Die Entwicklung moralischer Urteilskompetenz hängt zunächst nicht davon ab, was im Einzelnen für gut und richtig gehalten wird, sondern wie das, was als gut und richtig vorgebracht wird, begründet wird. Auch in moralischen Fragen sind Meinungsverschiedenheiten normal, weswegen es alleine auf ein vernünftiges Verfahren des Austrags unterschiedlicher Meinungen ankommt und nicht auf mehr oder minder zufällige Einsichten. Die Kriterien für die Stufen lassen sich z.B. folgendermaßen ausformulieren:

Präkonventionelle Stufe

  • Stufe l (Heteronomes Urteilen):
    Gerecht ist jede Handlung,für die ich belohnt werde.
  • Stufe 2 (Wechselseitiger Instrumentalismus):
    Gerechtigkeit bedeutet, daß ich jetzt etwas für dich tue, wenn du später etwas für mich tust.

Konventionelle Stufe

  • Stufe 3 (Interpersonaler Konformismus):
    Gerecht sind jene Handlungen, die in meiner Bezugsgruppe gutgeheißen werden.
  • Stufe 4 (Recht und Ordnung):
    Gerecht sind jene Handlungen, die den faktisch akzeptierten Regeln der Gesellschaft entsprechen.

Postkonventionelle Stufe

  • Stufe 5 (Sozialvertrag, sozialer Nutzen, individuelles Recht):
    Gerechtigkeit bedeutet, daß Menschen ihre fundamentalen Rechte wahrnehmen können.
  • Stufe 6 (Universale ethische Prinzipien):
    Gerecht sind all jene Regelungen, denen alle Betroffenen zwanglos zustimmen könnten.

Kohlberg und seine Mitarbeiter haben bei ihren empirischen Untersuchungen herausgefunden, daß in westlich-kapitalistischen Gesellschaften 80 % der jugendlichen und erwachsenen Bevölkerung auf Stufe 4 stehen und nur außerordentlich wenig Konflikte und Dilemmata auf Stufe 6 beurteilen.

Wie realistisch sind die normativen Implikationen dieser Theorie dann? Zu welchen Schlußfolgerungen politischer und pädagogischer Art geben sie Anlaß? Sind Zustände, die einem Vernunftideal entsprechen würden, überhaupt möglich und vor allem: wie könnten sie erreicht werden?

Schließlich wurden gegen Kohlberg und seine Theorie noch weitere Einwände erhoben: Es handele sich lediglich um eine Theorie moralischen Urteilens, wie ist es aber um das Verhältnis von Urteilen und Handeln bestellt? Handelt, wer "reif" urteilt, auch immer entsprechend? Offenbar nicht! Schließlich scheint die ganze Theorie von einem männlichen abstrakten Moralverständnis auszugehen, was daran sichtbar werde, dass Frauen und Mädchen bei den gestellten Aufgaben mit fiktiven moralischen Konflikten in der Regel niedriger abschneiden als Knaben! (Gilligan 1984)

In der Tat ist die Theorie Kohlbergs und die entsprechende empirische Forschung noch erheblich von der Lösung der genannten Probleme entfernt. Aber gerade das Fehlen einer Theorie moralischer Gefühle und die offene Frage, in welchem Verhältnis etwa moralische Urteilsfähigkeit und Ich-Autonomie stehen, verweisen darauf, wie eine Theorie moralischer Bildung auszusehen hätte.

Sie wäre repressionsfrei, weil sie - begründet auf gerechtigkeitsorientierte Argumente - darauf vertraut, daß schließlich das konsequente Besprechen echter moralischer Konflikte innerhalb jener Lebensformen, in denen Kinder, Jugendliche und Erwachsene miteinander leben, alle Beteiligten auf eine höhere Stufe des moralischen Urteils bringt. Eine Pädagogik der Moral baut zwar auf einer Psychologie der Moral auf, ist aber nicht identisch mit ihr. In einer Psychologie der Moral treten Erwachsene, Eltern und Erzieherinnen vor allem als externe Beobachter kindlicher und jugendlicher Meinungsbildung auf, während sie in einer Bildung zur Gerechtigkeit als voll engagierte, gleichberechtigte Teilnehmer auftreten. Eine solche Erziehung ist aber auch frei von jeglichem Pädagogisieren, weil sie von Kindern und Jugendlichen niemals mehr erwartet, als ihnen gemäß ihrem Entwicklungsstand als nächsthöheres Niveau zumutbar ist.

Eine solche Bildung zur Moral wäre praktisch und solidarisch, weil sie weiß, daß auch und gerade moralische Autonomie nur durch Kooperation erzielt werden kann. Repressionsfreie moralische Argumente und solidarische Kooperation bedürfen einer alltäglich gelebten Demokratie. Lawrence Kohlberg hat Projekte angeregt, in denen moralisches Argumentieren unter demokratischen Bedingungen als pädagogische Praxis gelebt wird.

Schließlich vermag eine solche, noch zu entfaltende Theorie der Entwicklung moralischer Urteile, moralische Gefühle und moralischen Handelns jenen Skeptizismus gegenüber der Gerechtigkeit zu überwinden, den Freud gewiß nicht wollte und dessen Rezeption über Nietzsche und seine Anhänger ein Markstein auf dem Weg in den Nationalsozialismus gewesen ist. Baute die emanzipatorische Erziehung der späten sechziger Jahre noch vorwiegend auf einer Verbindung von wissenschaftlicher Psychoanalyse und den Idealen der philosophischen Aufklärung auf, so wurde dieses Modell - jedenfalls im Bereich demokratischer Jugendarbeit - alsbald durch eine rasche Folge von sich ablösenden "Ansätzen" abgelöst: Auf das "emanzipatorische" Modell folgte der "antikapitalistische Ansatz" , der dann im Gefolge der Entdeckung des "subjektiven Faktors" durch den "bedürfnisorientierten" Ansatz abgelöst wurde, der aber seinerseits mit dem allmählichen Verfall verbandlicher Jugendarbeit zu dem sog. "lebensweltlichen Ansatz" führte, der schließlich einem konzeptionslosen und pragmatischen Durchwursteln wich, das vor allem auf die Modernisierung der Einrichtungen im Namen der "Kultur" setzte.

Erst die massiven öffentlichen Diskussionen um die Geschichte Deutschlands unter dem Nationalsozialismus und der öffentlich erstarkende Rechtsextremismus auch unter Jugendlichen gab der politischen Jugendbildungsarbeit nicht nur neue Impulse, sondern auch neue Aufgaben.

Zeitgeschichtliche Bildung und antirassistische Jugendarbeit erweisen sich neben einer Sensibilisierung für ökologische Probleme und die Nöte der Dritten und Vierten Welt als vorrangige Aufgaben. Gentechnologie, veränderte Geschlechterbeziehungen und AIDS stellen neue Herausforderungen an vernünftige zwischenmenschliche Verhaltensweisen und an das solidarische Bearbeiten von Lebensproblemen.

Kohlbergs Theorie der moralischen Bildung stellt nicht, wie vielfach gemeint wird, lediglich eine Theorie der Stärkung kognitiver Fähigkeiten und des moralischen Trockenschwimmens dar, sondern beinhaltet eine Praxis demokratischer Gemeinschaften in einer gerechten Atmosphäre. Moralisches Lernen im Ernstfall läßt sich indessen am besten in selbstverwalteten, mit echter Autonomie und wirklicher Verantwortung ausgestatteten Lebenseinheiten (Wohngruppen, Jugendlager, Kulturzentrum etc.) verwirklichen. Im Unterschied sowohl zu den sog. "antikapitalistischen" als auch den "bedürfnisorientierten" Ansätzen setzt eine moralische Bildung nach Kohlberg keine Gesellschaftstheorie voraus und konzentriert sich auch nicht nur auf das Artikulieren von Bedürfnissen, sondern unternimmt den Versuch, das Verhältnis von artikulierten Bedürfnissen und ihrer Durchsetzbarkeit in einer komplexen gesellschaftlichen und globalen Lage argumentativ miteinander zu vermitteln und dabei zugleich jene Haltung zu fördern, die es Kindern und Jugendlichen ermöglicht, ebenso autonom wie verantwortlich, ebenso solidarisch wie eigenständig auch noch die Belange der Fernsten und Schwächsten, der Toten ebenso wie der noch nicht Geborenen, der Menschen nebenan wie in der Vierten Welt in ihre Überlegungen miteinzubeziehen und dabei zugleich zu lernen, daß sie auch die Probleme ihres eigenen Alltags am besten gewaltfrei und das heißt argumentativ lösen können.

Mit Kohlbergs Theorie der moralischen Erziehung kann die postkonventionelle Linke den liegengelassenen Idealen der emanzipatorischen Erziehung eine handhabbare und überprüfbare Theorie an die Seite stellen - kann eine auf ihre Dialektik aufmerksam gewordenen Aufklärungspädagogik versuchen, Boden für Vernunft zurückzugewinnen.

Literatur

ADORNO. TH.W., Erziehung zur Mündigkeit, Ffm. 1971

APEL, K.O., Diskurs und Verantwortung - Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral. Ffm. 1988

AUFENANGER, S. u.a., (Hg.), Erziehung zur Gerechtigkeit, München 1981

GILLIGAN, C., Die andere Stimme - Lebenskonflikte und Moral der Frau, München 1984

HABERMAS, J., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Ffm. 1983

KOHLBERG, L., zur kognitiven Entwicklung des Kindes, Ffm. 1974

LIND, G./RASCHERT, J. (Hg.), Moralische Urteilsfähigkeit. Eine Auseinandersetzung mit L. Kohlberg, Weinheim/Basel 1987

PIAGET, J. Das moralische Urteil beim Kinde, Ffm. 1973

1989 | Inhalt | Editorial | Leseprobe