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Heft 3: Methoden, Techniken, Ziele – Die heimliche Anpassung?

1982 | Inhalt | Editorial | Leseprobe

Titelseite Heft 3
  • September 1982
  • 144 Seiten
  • EUR 7,00 / SFr 13,10
  • ISBN 3-88534-022-4

Thea Kimmich, Reinhard Laux

Von der Häßlichkeit der Technik

Vorbemerkungen

Technik-Begriff

Wir können in einem kleinen Zeitschriftenartikel keine solide umfassende Kritik an den Methoden der Medizin üben. Wir grenzen also zunächst ein auf "Technik in der Medizin". Aber was heißt hier Technik? Ist die Anwendung eines Werkzeugs, einer Schere, einer Zange schon Technik? Oder wollen wir eher über Technologien reden, also über die industrielle Praxis der Naturwissenschaften? Technik wird außerdem im übertragenen Sinn fast synonym mit Methodik gebraucht (z.B. die "Technik des Kaiserschnitt"). Wir einigen uns auf "Apparatemedizin" (inzwischen ein modisches Schlagwort), das den Anteil an medizinischer Praxis bezeichnet, in dem mit Maschinen umgegangen wird, d.h. mit Produkten einer Industrie, die naturwissenschaftlich-technische Erkenntnisse anwendet.

Heimliche Methodik

Die Eingrenzung ist problematisch. Die Art der Anwendung, die jeweilige Einbettung in menschliches Verhalten, dieser technisch-technologischen Methoden darf eigentlich nicht beiseite gelassen werden. Gemeint sind Vorstellungen und Eingriffe der Anwender in Bezug auf psychosoziale Einstellung und Verhalten des Patienten im Zusammenhang mit der Maschine. Im Schulbereich spricht man von "offiziellem Curriculum" und "heimlichem Lehrplan". Eine "heimliche Methodik" gibt es auch in der Medizin, Methodik, die nicht mit Wissenschaft begründet wird, sondern im Laufe der Berufspraxis erlernt wird, das Alltagsverhalten betrifft, sozusagen vom "gesunden Menschenverstand" gespeist wird. Wir werden diese Anteile an der Behandlung im Artikel ausblenden. Es wäre gut, sich damit einmal gesondert ausführlich zu beschäftigen. Ein Aufsatz darüber könnte an folgenden Phänomenen ansetzen: Ein kranker Mensch muß isoliert werden, örtlich und sozial, entkleidet, auch aller Ämter und Würden, seiner Persönlichkeit, seines 'freien' Willens. Seine Körperteile und -funktionen werden meist voneinander getrennt betrachtet, in ihrer Wichtigkeit eingeordnet, an ihnen wird arbeitsteilig und hierarchisiert gehandelt - entsprechend der Klinikorganisation. Diese Methoden werden meist unbewußt angewandt. Die Aufzählung ist (noch) nicht wertend gemeint, obwohl darin "Reizworte" vorkommen, bei denen bei uns bestimmte Vorstellungen einrasten, z.B. Bilder vom Knast. Sie soll nur zeigen, wie wenig durch die Beschreibung eines spektakulären Therapieanteils (wie z.B. einer Operation) über die gesamte Methodik der Behandlung ausgesagt ist.

Im übrigen gibt es zu diesem Komplex eine Menge Literatur, zur Patientenkarriere, zur Arzt- und Patienten-Rolle usw. aus psychologischer, soziologischer und medizinsoziologischer Sicht.

Distanzierung durch Bilder

Wir versuchen uns dem Thema anzunähern, indem wir uns zunächst einmal distanzieren. Nicht mehr der Blick des Arztes, sondern der eines potentiellen Patienten. Das Umschalten wird natürlich nicht ganz gelingen (Es geht dabei nicht um den modischen Unterschied zwischen "Kopf- und Bauch-Ansatz". Der zweite Blick ist auch "kopfig" und soll es auch sein). Der im Bild festgehaltene Ausschnitt soll uns vom Eindruck der Vertrautheit des für uns Gewöhnlichen, Alltäglichen befreien.

Abb. 1

Abb. 1

- Häßlichkeit Den Anblick eines Menschen, der in der Intensivstation mit Maschinen verbunden bewegungslos daliegt, finden wir häßlich. Es half, den subjektiven, emotional-sinnlichen Begriff der Häßlichkeit erst einmal so stehen zu lassen, ihn noch nicht weiter zu zerlegen.

- Wünsche Der nächste Schritt war, nach unseren Wünschen an die Medizin zu fragen, gerade angesichts dieser Häßlichkeit. Wie sollte sie sein: nicht besser, sondern gut, d.h. fast gar nicht vorhanden oder so, daß sie mehr als gesund macht. Also zunächst nicht Wünsche, die sich eng reformistisch an der Realität entlang bewegen, sondern solche, die hoch hinaus wollen.

- Kapitalismus: Anwendung und Fundierung Schließlich ein mehr analytischer Ansatz: Was ist aus den Wünschen geworden, wer hat welche Pläne gemacht, wer hat Pläne vorangetrieben und damit stark geprägt? Es folgen also Gedanken zu spezifisch kapitalistischer Medizin-Technik, nur sehr kurz, als "Ordnungsansatz" gedacht, mit wenigen Beispielen.

- Konkretion Im zweiten Teil haben wir versucht, unseren Ansatz an der künstlichen Beatmung zu konkretisieren. Manches, was im ersten Teil noch zu enzyklopädisch allgemein war, wurde uns hier erst klar.

Es wurde uns auch klar, wie stark wir beide durch dieses Thema in unserer beruflichen Identität betroffen waren. Von verschiedenen Seiten: für Reinhard werden Dinge und Vorgänge seines Alltags beschrieben, ihre Geschichte betrachtet, Gefühle zerlegt. Wie weit muß er seinen Alltag verteidigen? Wie distanziert kann er überhaupt sein? Und für Thea, als zur Zeit sehr arbeitswillige arbeitslose Ärztin: Kann sie sich ihre gewünschte Zukunft madig machen?

Tatsächlich lag ein wichtiger Impuls, den Artikel zu schreiben im Bestreben, einer Medizintechnik-Kritik zu widersprechen, die hart und global war, teilweise zum Aussteigen aufforderte. Im Entwurf zu diesem Artikel stand noch: Dabei geht es uns auch darum, uns vor allem von zwei Arten zur Zeit wohlfeiler Technik-Kritik abzusetzen:

1. Gewerkschafter tendieren dazu, "nur" die Folgen neuer Technologien für die Arbeitsplatzsituation zu diskutieren. Über die Stumpfsinnigkeit bestimmter Arbeitsabläufe darf nichts gesagt werden, um nicht noch mehr Arbeitsplätze durch Rationalisierung zu gefährden (Beispiel: Schreibautomaten in Büros).

2. Gut verkäuflich, vor allem an die liberale Mittelschicht (Sternleser), ist eine Medizintechnologie-Kritik, die in oft recht jammriger platter Weise an allerdings real begründeten Ängsten ansetzt. Stichwort: "seelenlose Technik". Zur Suche nach der Seele im Apparat gesellt sich die Illusion einer immer noch autonomen, sich selbst regulierenden und heilenden, äußeren und inneren Natur.

So also nicht, aber wie anders? In einem Leserbrief zu unserem Artikel in Widersprüche l waren unsere Vorschläge zur Verbesserung der Geburtshilfe wie folgt kommentiert worden: "Das ist superreformistisch, also auch idealistisch und revolutionär zugleich. Weiß nicht, ob so die praktische Dialektik zwischen Reform und Revolution aussehen kann." (1) Es erwies sich auch beim genaueren Diskutieren und Schreiben, daß nicht geht, was noch im Entwurf steht: "Der Schluß des Artikels soll nicht versöhnen, aber die Janusköpfigkeit mancher Technologien zeigen." Die Problematik ließ sich nirgends auf ein simples einerseits-andererseits reduzieren. Entsprechend schwierig sind also Stellung beziehende zusammenfassende Aussagen, wie wir sie gerne zum Thema Fortschritt und Medizintechnik machen würden. Aussagen, zu denen wir stehen, nicht nur, weil wir drin stecken und nicht aussteigen wollen.

Zukunft So könnte es sein: "Technik als Entbindung und Vermittlung der im Schoß

der Natur schlummernden Schöpfungen". (2) Und Medizin in einer besseren Zukunft: "damit sie (die Menschen) nicht mehr Leibeigene ihrer selbst bleiben, nachdem sie es in der Gesellschaft nicht mehr sind." (3)

1.1. Wunschbilder: Zwischen Kreuchen und Fleuchen

In der letzten Zeit haben wir oft Leute gefragt: "Was wollt Ihr von der Medizin, von den Ärzten, was wünscht Ihr Euch von ihnen, was sollten sie können, wie sollten sie sein?" Die meisten haben geantwortet: "Erstmal wünschen wir uns, daß wir sie nie brauchen. Falls wir sie brauchen, wollen wir sie so schnell wie möglich wieder los sein." Dies sind also die Medizin und ihre Ärzte, wie es sie heute gibt. Wie wäre es mit einer vorgestellten "guten" Medizin (in einer "guten" Gesellschaft), mit viel besseren Ärzten?

In "Grundrisse einer besseren Welt" von E. Bloch befindet sich ein Kapitel über die ärztlichen Utopien. Zur Einleitung ist eine Inschrift abgedruckt: "Der Geheilte muß sich als neuer Mensch fühlen, er müßte gesünder sein als vorher." (4) Wie neugeboren soll er wieder sein, der eben noch Totkranke. "Das Lager, von dem der Kranke aufsteht, wäre erst vollkommen, wenn er erfrischt, statt nur geflickt wäre." (5) Wenn man nun noch hinzufügt, wie schnell das alles geschehen soll ("Morgens im Blut geschwommen, mittags gesund und frisch auf zwei Beinen") (6), so ist man endgültig im Reich der Märchen angelangt. Dort ist es auch ein leichtes, lange oder ewig zu leben, dabei immer jung bleibend und das alles ohne "schmerzliche Umwege". Mancher heutige Natur- und Kräuter-Heiler knüpft genau an diesen ungeduldigen Wünschen wieder an. Dort wo nicht mehr gezaubert werden kann, ist wieder "kreuchen können" gefragt, muß zunächst geflickt werden, findet Restauration dessen statt, was vor der Krankheit war. Das Bild zeigt, daß selbst hohe Kunst des Flickens noch Wünsche offen läßt.

Abb. 2

Abb. 2 : Subtotale Amputation beider Unterschenkel eines 36jährigen Eisenbahners vor und zehn Monate nach Replantation. (Rechtes Bein : Abtrennung im distalen Drittel bis auf zwei Sirecksehnen, linkes Bein : Abtrennung im proximalen Drittel bis auf eine Hautbrücke von fünf Zentimeter Breite)

Um den Leib aber gesünder zu machen als er vorher war, ist mehr als Wiederherstellungskunst notwendig: er muß umgebaut werden.

"Wie das zuletzt in einer sehr späten Sozialutopie herauskommt, unverhohlen, in Swesens "Limanora, The Island of Progress", 1903. Die Herrschaften auf dieser Insel lachen über den Gedanken, daß Medizin nur therapeutisch sei. Sie sind weit hinaus "over the crude stage of mere cure of desease", sie greifen in das bloße laisser faire, laisser aller des Körpers zurückhaltend, befördernd, stimulierend, ordnend ein. So wird der Arzt hier überall nicht als Schuflicker gedacht, der schlecht und recht das Alte wieder herrichtet. Sondern er wird als Erneuerer gewünscht, das Fleisch nicht nur von seiner erworbenen, sondern sogar von seiner angeborenen Schwäche befreiend. Denn auch dem gesunden Leib könnte noch viel weiter geholfen werden." (7)

Umbauwünsche bis hin zum Fliegenkönnen sind älter als die Medizin und richten sich nicht oder nicht mehr an die Ärzte, sondern an die Ingenieure der äußeren Natur, früher auch an Priester und Magier. Die Medizin soll gattungsmäßige Übel des Leibes abschaffen, sie soll das Altern besiegen, sie soll künstliche Zuchtwahl betreiben, das Geschlecht beeinflussen. Nicht zufällig erinnert diese Aufzählung an die Nationalsozialisten, sie haben solche Pläne durchgeführt, am konsequentesten von allen, experimentiert wie für Tierversuchsanstalten der Landwirtschaft.

Abb. 3 : Werbock

Abb. 3 : Werbock

Zwischen Umbau und Restauration gibt es viele Übergänge. Wir haben uns an einige schon gewöhnt: eine Plastikkonstruktion ersetzt eine kranke Herzklappe, aus einer Darmschlinge wird eine Art Magen gebaut, die Funktionen einer Niere übernimmt ein sich außerhalb des Körpers befindender Apparat usw. Viele Komplikationen, Anpassungsschwierigkeiten zeigen die Unvollkommenheit dieser Umbauten. Wir sind nicht zufrieden, wir wollen mehr: "Dafür aber meinte der organische Wunschtraum mindestens einen Leib, auf dem nur Lust, nicht Schmerz serviert wird und dessen Alter nicht Hinfälligkeit als Schicksal ist. Es ist also dieser Kampf gegen das Schicksal, der medizinische und soziale Utopien trotz allem verbindet. Das Vermögen, verlorengegangene Teile zu ersetzen, ist im menschlichen Körper geringer als bei niederen Tieren, dafür wird erst im Menschen das utopische Vermögen zu bisher nie Besessenem wirksam. Es ist unwahrscheinlich, daß diese dem Menschen so wesentliche Kraft, die Kraft des Überschreitens und Neubildens, an seinem Leib stillsteht. Die Erforschung dieser Tendenz ist freilich nicht möglich ohne Kenntnis dessen, was im Leib selber schon auf sie hin angelegt ist; alles andere wäre Narretei." (8) Nicht nur Narretei, sondern oft unverantwortliches, ja verbrecherisches Experimentieren kommt heraus, wenn verfrüht und ohne solche Kenntnisse der Umbau gewagt wird. Es gab ihn nicht nur im Zusammenhang mit Rassismus und Krieg; wir denken, daß auch einige heute praktizierte Methoden dazu gehören, etwa die Psychochirurgie bei psychischen Erkrankungen und "Triebtätern". Die Angst vor den Ergebnissen solchen Umbaus ist schon oft beschrieben worden, eindrücklich in den Geschichten von Dr. Jekyll und Mr. Hyde oder von Frankenstein. Verfrüht, d.h. vor allem dem Kampf gegen das soziale "Schicksal" weit, zu weit, vorauseilend.

"Die Beherrschung des individuell-biologischen Habitus und die Abschaffung seiner als eines "Schicksals" sind gewiß ein Ziel, doch erst wird diese Planung die wirklichen Slums niederreißen, bevor sie den Slum des schwächlichen Leibes nahetritt." (9)

Abb. 4

Abb. 4

Wunschbilder

Abb. 5

Abb. 5

Abb. 6

Abb. 6

Abb. 7

Abb. 7 : Huichol-Schamane beim Sprung über eine Felskluft

Abb. 8

Abb. 8

1.2 Bilder der Realität

"Vom abstrakten Profittrieb her, die Verhäßlichung, welche Maschine und Maschinenarbeit über die Welt gebracht haben." (10)

Abb. 9

Abb. 9

Zum abstoßenden Gefühl der Häßlichkeit kommt das der Angst. "Es gibt eine spezifische Angst des Ingenieurs, zu weit, zu ungesichert vorgedrungen zu sein, er weiß nicht, mit welchen Kräften er es zu tun hat und aus solcher NichtVermittlung stammt nicht zuletzt der sinnfälligste Effekt des ausgelassenen Inhalts: der technische Unfall." (11)

Abb. 10 : Geburtszange

Abb. 10 : Geburtszange

Abb. 11

Abb. 11

Abb. 12

Abb. 12 : "Auch Trümmerfrakturen lassen sich mit einer Kombination von Marknagel und Schrauben oder Platte stabil versorgen."

Abb. 13

Abb. 13 : Chirurgische Instrumente, spezielle Zangen und Sägen. Holzschnitt von 1497

Abb. 14

Abb. 14 : Knochenzangen, Knochenhebel. Meißel, Hammer

"Der Technik fehlt, auf ihrem immer weiter vorgeschobenen Posten, der Anschluß an die alte gewachsene Welt, von der sich der Kapitalismus abgestoßen hat und ebenso den Anschluß an ein in der Technik selber Günstiges in der Natur, zu der der abstrakte Kapitalismus nie den möglichen Zugang finden wird." (12)

Abb. 15

Abb. 15 : Spezielles Durchleuchtungsgerät für Kinder. Der Säugling ist für die Untersuchung in einer Sitzmulde fixiert

Abb. 16

Abb. 16 : Fixateure extern oder äußere Festhalter

Abb. 17

Abb. 17

1.3 Medizinische Technologien im Kapitalismus - ein Ordnungsansatz

Aus manchen Wünschen sind Pläne geworden und "Pläne müssen vorangetrieben werden". Kapitalistischer Antrieb fängt weit vorne an und deshalb dürfen wir natürlich nicht nur Anwendungsprobleme diskutieren.

- Fundierung: Zur herrschaftlichen Rationalität in der "Wissenschaft" Medizin. Es gibt (noch) keine Wissenschaft Medizin. Was an der Universität gelehrt wird, ist eine unreine Mischung aus versimplifizierter Naturwissenschaft plus Handwerk, der Rest Empirie und Pragmatik, das ganze seit neuestem gewürzt mit etwas Sozialwissenschaft, ebenfalls stark vereinfacht. Es ist darzustellen, woher Erfindungen, Innovationen zur Zeit kommen, nämlich: die große Masse der klinischen Forschungen sind Auftragsarbeiten der pharmazeutischen und technischen Industrien. Grundlegenderes ist oft unmöglich, da eine anstrengende Praxis begleitend und da nicht belohnt, wie bei der Auftragsforschung. Den angegliederten "wirklichen" Forschungsinstituten fehlen meist im großen Maßstab Mittel. Die "innere" Distanz, die sie zu den Kliniken halten, macht sie nicht besser. Aber ein gewisses Gefühl von Reinheit entschädigt für die nicht vorhandenen Mittel bis hin zum fehlenden Sportwagen.

Wenn also die Innovation heute hauptsächlich von den Apparate und chemische Produkte herstellenden Industrien kommen, so können sie nichts anderes sein als Abfallprodukte. Der Markt ist doch vergleichsweise klein (wenn auch lukrativ), Abfall sind diese Produkte in Bezug auf Kriegsforschung und -produktion und die Technologien für andere Industrien und die Landwirtschaft. So haben sie immer noch etwas Zerstörerisches, nicht nur Künstliches an sich (Beispiele: Cytostatika, das erste vom Stickstoff-Lost (13) abgeleitet, Radiumtherapie und Cobalt-Kanone usw.). Dies gilt nicht nur für die Mittel selber, sondern auch für ihre Produktion, d.h. es wird oft viel Umweltverschmutzung "in Kauf genommen" (Beispiel: "Jacutin", HCH-Verseuchung (14)). Wo es sich nicht um indirekte Auftragsforschung handelt, ist klinische Forschung oft hochfliegend. Umbaupläne sind dann meist so verfrüht (gegenüber dem, was gesellschaftlich nicht ausgeschöpft ist), daß die Umsetzung auf faschistische Methoden hinausläuft (Beispiele: Psychochirurgie und Fortsetzung tatsächlicher faschistischer Experimente zur Sterilisierung, der Fall Prof. Lindemann (15)). Hier ist zu zeigen, wie der Mensch sein eigener Tierbändiger wird.

Schließlich: In den medizinischen Theorien wird heute noch getrennt, als betreibe man Physik der alten Zeiten, als befände man sich im großen Zeitalter der Mechanik. Getrennt werden Organe, Körperteile, aber auch Krankheiten und "Befindlichkeiten", Ursachen- und Wirkungszusammenhänge. Theoriebildung findet statt, als wehre man sich immer noch gegen pfäffische, an feudalen Weltbildern orientierte, ganzheitliche Theorien. "Neue" Konstruktionen von Zusammenhängen gibt es z.B. in der Alternativszene oder in der Anthroposophie. Sie sind oft gänzlich unmaterialistisch. Saltos zurück zur Mystik. In der herrschenden Medizin wird aber auf ganzheitliche Theoriebildung verzichtet. (Hier befindet sich der direkte Anschluß an das Dilemma der Sozialwissenschaften.) In den Ländern des realexistierenden Sozialismus stagniert dialektisch-materialistische Fundierung einer psychosomatischen Medizin ebenso wie die Entwicklung dieser Gesellschaften insgesamt (vgl. 16).

- Anwendung: Gesunde Geschäfte und RefA im Krankenhaus Dies ist ein schon öfter beackertes Feld, aber deshalb lange nicht unwichtig, d.h. es ist notwendig, sich immer wieder vor Augen zu führen, wieviel an der Medizin verdient wird und wie aggressiv geworben wird. Als erste breit, auch von bürgerlichen Ärzten diskutiert und kritisiert: die Pharmaindustrie (Beispiele aus "Gesunde Geschäfte" (17) und "Neunmal teurer als Gold" (18)).

Im Sinne der Verwertungslogik des Kapitals wird nicht nur vermarktet. Auch wenn Krankenhäuser meist kein Privatbesitz sind, die Produkte bringen mit sich die Arbeitsorganisation der Fabrik, aus der sie stammen. Beim Bedienen der Maschinen soll wie beim "Bedienen" der Menschen nach RefA-Methoden gemessen, danach ohne Rücksichten rationalisiert werden. Durchdrungen von dieser Haltung sind Krankenhausorganisationspläne, bis hin zu Gesetzen zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen. An dieser Stelle geht Anwendung in Fundierung über. Prinzipien der Rationalisierung, der einseitigen Effektivitätsmessung gehen nicht nur in die Theoriebildung privater oder halbstaatlicher Institute ein, sondern auch in die der Universitäten.

2. Künstliche Beatmung

Vorbemerkung

Im Folgenden wird auf einige historische Aspekte in der Entwicklung der künstlichen Beatmung eingegangen. Gedacht haben wir das als Konkretisierung, als exemplarische Abhandlung, also als Hilfe zum besseren Verständnis. Bei der Einarbeitung in die Materie merkten wir aber, daß der Einstieg in die Geschichte das Problem nur scheinbar transparenter macht. Zum einen sind die Entwicklungen so kompliziert, ist die Materie so materialreich, daß wir wirklich nicht mehr als Aufrisse geben können. (So fanden wir z.B. einen Hinweis, daß Trachealkanülierung und assistierte Beatmung schon zu Hippokrates' Zeiten vorgenommen worden seien - so etwas müßte man eingehend prüfen - aber dazu fehlt die Zeit.) Zum anderen finden wir gebrochene, gegenläufige Bewegungen nicht nur in der Gegenwart, sondern auch in der Geschichte, die geplante Vereinfachung schafft also eine Komplizierung, indem diese Schwierigkeiten zusätzlich auf der Zeitachse darzustellen sind. Dennoch unternehmen wir diesen Exkurs:

- weil es Zeit wird, daß auch Mediziner (und zwar praktizierende!) 'die Funktion des Denkens entwickeln'!

C.G. Jung:

"Das medizinische Studium besteht einerseits in der Aufstapelung eines unheimlich großen Gedächtnismaterials, welches ohne wirkliche Kenntnis der Grundlagen einfach memoriert wird, andererseits in der Erfahrung in praktischen Fertigkeiten, welche nach dem Prinzip: Da wird nicht lange gedacht, sondern in die Hand genommen!' erworben werden muß. So kommt es, daß von allen Fakultäten der Mediziner am wenigsten Gelegenheit hat, die Funktion des Denkens zu entwickeln." (19)

- weil die herkömmliche deutsche Medizingeschichte vorwiegend Heldenepen erzählt. ("Hinter mir stand nur der Herrgott.")

"Die geschönte Geschichte soll erheben, ihr Geschäft wird als moralische Anstalt verstanden. Dadurch wird die Geschichte um etwas gebracht, das schwer zu entbehren ist: um das Leben, das sie war und das allein - gegebenenfalls - fortwirken kann." (20)

- weil wir so an unsere Alltagsprobleme herankommen, ohne ständig in das Modische 'ich habe das so gefühlt' verfallen zu müssen.

- weil besonders die (auch im Wortsinn) bildhafte Form der Darstellung anregend ist, Spaß macht, und wir viel über unser jetziges Tun daraus lernen konnten.

2.1. Zeittafeln mit Bildern:

1773 eines der ersten Geräte zur mechanischen Wiederbelebung von Alexander Johnston

Abb. 18

Abb. 18 : Blasebalg mit Holzzwischenstück zur Beatmung Asphyktischer durch die Nase

1774 Entdeckung des Sauerstoffs durch Priestley

1774 Erstbeschreibung der Wiederbelebung eines Bergmannes mittels Mund-zu-Bund-Beatmung durch Fothergill

1847 manuelles Beatmungsverfahren durch v. Hasselt 1858 verbessertes manuelles Beatmungsverfahren durch Sylvester

ca. 1860 erste Elektrobeatmung durch faradische Reizung des Nervus phrenicus durch Ziemssen an einem CO-Vergifteten (Beatmung über 11 Stunden)

1846 erfolgreiche Zahnextraktion in Ätheranästhesie durch Morton - wird als Geburtsstunde der Anästhesie angesehen

1876 erstes Modell einer eisernen Lunge, durch Woillez, Paris

1883 erstes Patent für eine eiserne Lunge in Deutschland für Ketchum

Abb. 19

Abb. 19 : Beatmungsapparatur von Ketchum 1883

1886 Einführung der Hitzesterilisation durch Bergmann

1887 Entwicklung des ersten praktischen Narkosegerätes mit Lachgas und Sauerstoff durch Sir Frederich Hewitt

1895 Entdeckung der Röntgenstrahlen durch C.W. Röntgen

1895 erste Entwicklung des Laryngoskopes mit direkter Sicht durch Kirstein

1898 erste erfolgreiche Spinalanästhesie durch A. Bier

1901/03 Eisenmenger und der Ungar Piski melden "tragbare Vorrichtungen zur Erzielung künstlicher Atmung" zum Patent an, später als Biomotor bekanntgeworden. (Abb. eines analogen Gerätes von 1929)

Abb. 20

Abb. 20 : Beatmungssack nach Schumacher 1929

1903 Synthese des ersten Barbiturats durch Fischer und v. Mehring

1910 Anwendung der Intubationsbeatmung durch Eisberg am Menschen, dabei Benutzung eines mit Elektromotor betriebenen Ventilators mit zwei Kolbenpumpen (zur Anästhesie, d.h. Kurzzeitbeatmung)

1911 Beschreibung der peroralen Intubation zur künstlichen Beatmung durch Kühn - eine Ausbreitung der Methode wird durch Sauerbruch verhindert

1905/06 Streit zwischen Sauerbruch und Brauer um Unter- oder Überdruckbeatmung - ohne Entwicklung praktischer Beatmungsgeräte

1904/09 Entwicklung des Injektorprinzips und der Wechseldruckbeatmung über Maske durch Heinrich Dräger, aufbauend auf den Arbeiten von Brauer. Konstruktion des "Pulmotor", der weit über 20.000 mal produziert und verkauft wurde

1928 Drinker entwickelt in den USA die erste für Dauerbeatmung einsetzbare Eiserne Lunge (zur Behandlung atemgelähmter Poliomyelitispatienten)

1932 theoretische Entwicklung der "Dänischen Wippe", später als "Rapid rocking bed" in den USA zur Behandlung von Poliokranken produziert

Abb. 21

Abb. 2l : Rapid-rocking-Bell von Emerson

1947 anläßlich einer Kinderlähmungsepidemie in Hamburg wird auf der Deutschen Werft auf Veranlassung Aschenbrenners und Dönhardts die erste deutsche Eiserne Lunge aus dem Decksrohr eines Torpedos, dem Blasebalg einer Feldschmiede und Getriebeteile eines Schiffes konstruiert

Abb. 22

Abb. 22 : Links die erste deutsche Eiserne Lunge aus alten Schiffsteilen, rechts das zweite, nur wenig geänderte Gerät

1932 Beschreibung einer neuen manuellen Wiederbelebungsmethode durch den dänischen Oberst Holger Nielsen (Abb. S. 1366, DMW von 1953)

Abb. 23

Abb. 23

1950/55 Weiterentwicklung der Eisernen Lunge durch Dönhardt und Dräger-Werke

Abb. 24

Abb. 24 : Drei Dräger-Lungen der Poliomyelitisstation des Allgem. Krankenhauses, Hamburg-Altona.

1952 Klinischer Einsatz der "Bag-ventilation" anläßlich der Kopenhagener Polio-Epidemie; über Trachealkanülen werden ca. 200 Patienten mittels Beutel und Sauerstoff-Stickstoffgemischen in 8stündigen Wechselschichten durch Studenten von Hand beatmet

Abb. 25

Abb. 25 : Polio-Pendelbeatmungsgerät

1955 Beschreibung der maschinellen einphasigen Überdruckbeatmung zur Beatmung zur Behandlung der postoperativen Ateminsuffizienz durch Björk und Engström

ca. 1954 Entwicklung des "Poliomaten" durch Dönhardt und Draeger

Abb. 26

Abb. 26 : Poliomat, angeschlossen an den Intubationskatheder

1968 für die Wieberbelebung ateminsuffizienter Neugeborener werden Analeptika, Mund-zu-Mund-Beatmung und Pulmotor eingesetzt. "Im Gegensatz zu dieser akuten Wiederbelebung ist die Dauerbeatmung nur selten erfolgreich. Ob neue Geräte hier eine Wendung bringen, bleibt abzuwarten" (21)

1971 Beschreibung von Wechseldruckbeatmung für asphyktische Neugeborene mit dem Bird-Respirator, immer noch nur für akute Wiederbelebung. Bei Langzeitbeatmung sterben fast alle Patienten

1976 Beschreibung von Erfahrungen mit Unterdruckbeatmung von Neugeborenen in der Pulmarca-Kammer - erste Besserung der Überlebenschancen von Frühgeborenen

ca. 1975 Einsatz neuer Respiratoren (für IPPV und Peep-Beatmung) bei Neu- und Frühgeborenen, Besserung der Überlebensstatistik für Frühgeborene seit ca. 1976

1980/81 Entwicklung von Ultra-Hochfrequenz-Jetbeatmung im Versuchsstadium. D.h.: Es werden Versuche mit Beatmungstechniken angestellt, die nicht mehr die natürliche Atmung imitieren, sondern aus den Kenntnissen der Atmungsphysiologie einen neuen, in der Natur nicht vorkommenden, technischen Atemtyp entwickeln. Hierbei wird ein sehr dünner Schlauch, der die Luftröhre bei weitem nicht abdichtet, durch den Kehlkopf eingeführt, und darüber in ungeheuer schneller Folge, nämlich bis zu 600 mal in der Minute, die Lunge mit Luft-Sauerstoffgemisch "gespült". (Im Rahmen der Neugeborenen-Beatmung)

2.2 Wunschbilder: Überwindung des "Scheintodes"

Abb. 27

Abb. 27 : Die Wiederbelebung des Sohnes der Witwe : 1. Könige 17, V. 17-24

Eine der modernen Urgestalten von Horror-Romanen und -Filmen ist ein Scheintoter: Dracula. Er wird allerdings nicht durch Beatmung, sondern durch eine ältere medizinische Technik zu seinem grausigen Tun wiedererweckt: Er nimmt sich Bluttransfusionen. Eine andere Scheintote, die zumindest vordergründig sehr viel angenehmer als der blutrünstige Graf ist, kennen wir alle aus unseren Kindertagen: Dornröschen. Sie wird zart durch einen Kuß geweckt, aber könnte es nicht auch Mund-zu-Mund-Beatmung gewesen sein? Wiederum eher grausige Varianten schildert E.A. Poe, bei dem Scheintote begraben werden und im Sarg ihren zweiten Todeskampf ausfechten. Und in den meernahen Gebieten Norddeutschlands, wahrscheinlich aber überall, wo es größere Gewässer gibt, werden je nach Stimmung und Gemüt Geschichten über Ertrunkene bzw. deren wundersame Rettung in letzter Minute erzählt. Der Scheintod ist die Hoffnung gegen die Endgültigkeit des Todes, gleichzeitig ist er aber auch spätestens seit der Romantik das schlüpfrig-makabre Spiel mit dem Feuer. Verbindungen mit demonstrativen Aspekten von Selbstmorden lassen sich hier assoziieren - der Scheintod also auch als ein Extrem der Hilfebedürftigkeit, des Hilfesuchens. (Hierher gehört dann wohl auch der neurotische Stupor, die völlige Lähmung durch psychische Traumen.)

Nun ist die Atemlähmung, die Atemlosigkeit des Lebenden sicher nur eine extrem kurze Phase des Scheintods, die bei Fortbestehen sehr bald in den endgültigen Tod übergeht. Dennoch erscheinen uns die Verbindungen zu den oben angedeuteten, mit viel Wunschenergie besetzten Wunschbildern zu eng, um nach einfachen Kausalbeziehungen zwischen gesellschaftlichen Entwicklungen und der Entwicklung der Beatmungstechnik zu suchen. Daß es allerdings auch solche Beziehungen gibt, wollen wir im Folgenden aufzeigen. Gesellschaftliche und natürliche Anlässe, nach Methoden künstlicher Beatmung zu suchen:

- Ertrinken: Den Ertrinkungstod dürfte es seit Ikarus und länger geben. Das Schwimmen in und unter Wasser gehört zu den längsten Menschheitsträumen. U.a. dürfte hier ein tiefenpsychologisches Moment, die Sehnsucht nach der Geborgenheit im Fruchtwasser, zum Tragen kommen. Warum aber werden gerade gegen Mitte des 18. Jahrhunderts manuelle Wiederbelebungsmethoden zur Rettung Ertrunkener so energisch verbreitet? Warum kommt es ca. um die Jahrhundertwende zum 20. Jh. zur Gründung von ebenso wohltätigen wie paramilitärisch organisierten Einrichtungen wie der DLRG? Ist es ein Zufall, daß die letzte Verfeinerung manuelle Wiederbelebungstechniken gerade von einem dänischen Oberst stammt? Zum Militär wollen wir uns weiter unten äußern; die allgemein zunehmende Bedeutung des Ertrinkungstodes dürfte aber schon eine gesellschaftliche Erklärung finden: Mit der Entstehung von Industrien und Ballungszentren wird der Rohstoff Natur knapp, wird die Reproduktion zunehmend organisiert gelöst. Es entwickelt sich der "Badebetrieb", den ebenso helfend wie überwachend Organisationen wie die DLRG mit ihren "Bademeistern" leiten. Sicher gibt es viel mehr Aspekte: Schiffbau, Ausbau des Transportes, besonders von Massengütern (Kohlen!) zu Wasser, etc. Wenn die Forschung und Entwicklung von künstlicher Beatmung durch solches nicht gerade revolutioniert wurde, einen Stupser dürfte sie auch hiervon bekommen haben.

- Vergiftungen: Rauchvergiftungen, Lungenödem erzeugende Chemiedämpfe, Selbstmorde mit Schlaftabletten: Zumindest für die ersten beiden Formen (die wohl auch quantitativ wichtiger sind) liegen die Bezüge zur Entwicklung der (kapitalistischen) Industrie auf der Hand. Für den Tablettenselbstmord liegen die Dinge sicher verwickelter, der Leser mag sich hier seinen eigenen Erfahrungen überlassen.

- Bergwerksunglücke: Mit der Zunahme der Größendimensionen von Bergwerken (die der Zunahme an Energiebedarf der expandierenden Industrie entsprechen) werden auch die Ausmaße von Unglücken - Schlagwetterexplosionen, Verschüttungen - immer schlimmer. Hier wirksamere Rettungsmittel zu schaffen ist nicht nur Forderung der Humanität, wie es die Medizingeschichte nennt, es ist auch ein Gebot wirtschaftlicher Vernunft und vor allem u.a. ein Mittel zur sozialen Befriedung. Man denke nur an Beschreibungen der sozialen Zustände in solchen Bergwerksorten bei Marx und Engels oder, eindringlicher, in Zola's Germinal. Besonders die Entwicklung transportabler, automatischer Beatmungsgeräte, die mittels der Intubations- oder Maskenbeatmungstechnik arbeiten (also klein und handlich waren), wurden hierdurch befördert (vgl. das Beatmungsgerät von Johnston, 1773).

- Kriege: Die Beziehungen des "Arbeitsvermögens Krieg" zur Entwicklung der künstlichen Beatmung sind außerordentlich vielschichtig. (Hier könnte im Sinne von Negt/Kluge weiter gearbeitet werden, jetzt nur einige Anekdoten) (23): Der dänische Oberst Nielsen wurde schon erwähnt. Die erste deutsche Eiserne Lunge wurde auf der Deutschen Werft in Hamburg u.a. aus dem Decksrohr eines Torpedos gefertigt. Der deutsche Arzt August Bier, der sich als Förderer der Spinalanästhesie einen Namen machte, war u.a. auch der Erfinder des Stahlhelms, mit dem die deutsche Wehrmacht im 1. Weltkrieg ausgerüstet wurde - ein früher präventiver Arbeitsmediziner oder ein Wehr(machts-)wolf im Arztrock? Eine der angesehensten englischsprachigen Monographien über die Anästhesie, die in der DDR ins Deutsche übertragen wurde, sieht die Entstehung ihres Faches so:

"Die beiden Weltkriege haben die Entwicklung sowohl der Chirurgie als auch der Anästhesie vorangetrieben, und nach jedem dieser Ereignisse hatte die Zahl der Ärzte, welche ihre Arbeit auf dem Gebiet der Anästhesie während des Militärdienstes erlernten und diese im Zivilleben weiterführten, einen beachtlichen Einfluß auf die Entwicklung unseres Fachgebietes ausgeübt." (24)

In Abwandlung eines Ausspruchs des ersten Menschen auf dem Mond könnte man sagen: Für die Medizin sind die Kriege immer nur ein wichtiger Schritt, für die Menschheit ein Fiasko!

- Die Kinderlähmung (Poliomyelitis anterior): Wenn wir bei der geschichtlichen Betrachtung zur Polio kommen, sind wir der Gegenwart schon bedenklich nahe: Die wirksame Zurückdrängung der Krankheit gelang bei uns erst Mitte der sechziger Jahre. Die Polio ist charakterisiert durch das Auftreten in Epidemien im Sommer und Herbst. Sie kann grundsätzlich in zwei Formen verlaufen, die eine, bei der es "nur" zur Lähmung der Beine kommt, was meist mit mehr oder minder großen Restschäden ausheilte. Die andere, besonders gefürchtete sog. bulbäre Form, bei der die Lähmung der motorischen Nervenzellen quasi das Rückenmark hinaufkroch und schließlich sämtliche Atemmuskulatur lahmlegte: Ein Modell des schleichenden Scheintodes, bei vollem Bewußtsein, wohlgemerkt. Die Indikation für die maschinelle Beatmung wurde gestellt, wenn der Patient nicht mehr laut bis sechs zählen konnte. Ärzte, die Polioepidemien erlebt haben, sprechen von dem Schlimmsten, was einem als Arzt begegnen kann: Man sieht zu, wie der Patient unter den Fingern qualvoll stirbt, kennt die Ursachen und kann nicht helfen. Die Polio ist sicherlich der stärkste medizinische Motor für die Weiterentwicklung der künstlichen Beatmung, besonders der Langzeitbeatmung. Sie gehört zu den dramatischen Teilen der jüngeren Medizingeschichte. Sie ist die Ära der Eisernen Lunge, also der besonders "häßlichen" Technik in der künstlichen Beatmung.

Ist die Kinderlähmung deshalb ein Naturereignis, das sich neben die vorgenannten gesellschaftlichen Aspekte stellt? Seit die Menschen begonnen haben, Geschichte zu machen, d.h., ihre Welt nicht hinzunehmen, sondern zu verändern, gibt es keine rein natürlichen Phänomene mehr. Es gibt sicher Ereignisse, bei denen der Anteil gesellschaftlicher Entwicklung noch sehr gering ist (z.B. Erdbeben), sich seuchenartig ausbreitende Krankheiten aber setzen ein gewisses Maß an Vergesellschaftung geradezu voraus. Die Gruppe der Polioviren ist sicher schon sehr alt. Das Auftreten der Polio wird aus der ganzen Welt berichtet, unabhängig vom Stand der gesellschaftlichen Entwicklung der verschiedenen Länder. Erstmalig beschrieben wurde sie aber erst 1840 von Heine, ihre Natur als Infektionskrankheit 1887 von Medin erklärt. Dies aber nicht nur als Zeichen des Erkenntnisfortschritts der Medizin des 19. Jahrhunderts, sondern weil sie in diesem Jahrhundert erstmalig in großen Epidemien auftrat, in den USA früher, in Deutschland etwas später. Die medizinische Epidemiologie erklärt dies so: In Ländern mit sehr niedrigem Hygienestandard gibt es bereits in sehr jungem Lebensalter eine hohe Durchseuchung, d.h., schon die Kleinkinder haben sich mit dem Erreger zu fast 100 % auseinandergesetzt. Bei ihnen verläuft die Erkrankung weniger schwer. Mit einsetzenden Hygienemaßnahmen in den industrialisierten Staaten wird der Zeitpunkt der Durchseuchung auf spätere Lebensalter verschoben, in denen die Krankheit viel schwerer verläuft (vgl. 25). Also eine "Zivilisationskrankheit"? - Eine andere Betrachtung scheint mehr Sinn zu geben: Die Industrialisierung schafft mit der Entstehung von Ballungsgebieten zunächst sehr enge Wohnverhältnisse mit raschem Austausch. Daneben hat dieser "Fortschritt" zunächst aber zur Folge, daß eine breite Verelendung eintritt, daß z.B. der Quotient aus Kosten für Grundnahrungsmittel und durchschnittlichem Nettoeinkommen sinkt (vgl. 26). Unter solchen Bedingungen von Enge, Armut, harter Arbeit kommt es verständlicherweise zur seuchenartigen Ausbreitung von bis dahin nur vereinzelt auftretenden Krankheiten. Dies ist der gesellschaftliche Preis für nicht nur vergesellschaftete Produktion, sondern auch für die private Aneignung der so entstandenen Produkte.

Aber auch die Medizin und mit ihr die Mediziner müssen sich veränderten Anforderungen stellen. Das Hospital, ein Kind der Aufklärung, das zunächst vorwiegend Ausgrenzungsfunktionen zu erfüllen hatte, wird gesellschaftlich nun auch kurativ in die Pflicht genommen. In den engen Mietskasernen mit ihren amputierten Rumpffamilien ist kein Platz und keine Zeit mehr für die Pflege so schwer Erkrankter. Und der Fortschritt, in dessen Namen so manche Leiden ertragen werden, soll sich jetzt auch in den Krankenhäusern zeigen. Große Erwartungen, die bei ihrer Erfüllung großes gesellschaftliches Ansehen nach sich ziehen, liegen nahe bei der Verdammung des gesamten Gewerbes, sollte es sich der Herausforderung nicht gewachsen zeigen. Die Ärzte werden in diesen Strudel gerissen, zumeist mit einem antiquierten Selbst- und Geschichtsbild ausgestattet, das sie diese Ansprüche als Überforderung, als Undankbarkeit, als Zorn des Pöbels, aber auch als Möglichkeit für Erkenntnisgewinn und individuelles Fortkommen erleben läßt. Medizinische Antworten auf diese Herausforderungen mußten auf jeden Fall individuelle Therapieerfolge sein - dies ist der "Tritt in den Arsch", den die Entwicklung der Langzeitbeatmung erhielt. Darüber hinaus war die Medizin, in ihrer im doppelten Sinn bewahrenden Funktion (als Bewahrung des individuellen Lebens wie des politischen Systems), aufgerufen, die infektiöse Natur dieser Seuche zu erforschen und ihr in bewahrender Form Einhalt zu gebieten. Diese Antwort wurde gegeben: In der Entwicklung der künstlichen Beatmung wurden erhebliche Erkenntnisse über Atemphysiologie und Lungenfunktion gewonnen, von 117 atemgelähmten Patienten konnten immerhin 48 am Leben erhalten werden (Hamburg 1947/48). Die Verdrängung des Schreckens geschah dann in gesellschaftlicher Dimension, medizinisch entschärft und verfremdet: Durch Entwicklung und Durchführung von Massenimpfungen seit 1962, die zusammen mit dem "Wirtschaftswunder" diese Krankheit fast vollständig zum Verschwinden bringen konnten.

- Neugeborenenasphyxie: Die Geschichte der Kindersterblichkeit ist ein Teil Gesellschaftsgeschichte, der noch nicht hinreichend geschrieben wurde. Die Einflußfaktoren sind äußerst vielfältig, ihr jeweiliges Gewicht bis heute nicht hinreichend abschätzbar (vgl. 27). Dennoch ist sicher, daß für alle, die jeweils mit Geburtshilfe zu tun hatten, die "Asphyxie" ( = Pulslosigkeit = Scheintod) des Neugeborenen ein großes und angstbesetztes Problem darstellte. Schon relativ früh war bekannt, daß dieser Scheintod des Neugeborenen in den meisten Fällen ein Problem der nicht hinreichenden Umstellung auf die Eigenatmung war, aber über Jahrhunderte blieb die Hilflosigkeit diesem Problem gegenüber gleich groß. Wahrscheinlich wurde Mund-zu-Mund-Beatmung relativ früh ausgeübt und geriet immer wieder in Vergessenheit. Äußere Reize, bis hin zum Eintauchen in Eiswasser, wurden mit zweifelhaften Erfolgen angewendet. Manche Geburtshelfer entwickelten ebenso dogmatische wie meist nutzlose Wiederbelebungstechniken wie die "Schulze'schen Schwenkungen" im frühen 20. Jahrhundet. Der äußeren Stimulation wurde die innere durch Medikamente wie Coffein u.a. hinzugefügt. Die künstliche Beatmung mittels Intubationstechniken, die derzeit unbestritten die wirksamste Methode ist, wurde zwar schon im 19. Jh. empfohlen, machte aber bis in die Mitte des 20. Jh. wenig Fortschritte. Insbesondere die Langzeitbeatmung des Frühgeborenen, also die erfolgreiche Behandlung von Atemstörungen über mehrere Tage bis sogar Wochen, blickt auf eine gerade zehnjährige Geschichte, nicht mehr. Obwohl die künstliche Dauerbeatmung von Früh- und Neugeborenen in den 80er Jahren eine tägliche Routine auf den Neugeborenen-Intensivstationen ist, bleibt das überlegene Lächeln über den "Primitivismus" bis in die 60er und frühen 70er Jahre im Halse stecken, wenn wir sehen, wie oft auch heute noch tage- und wochen-lange Bemühungen mit dem Tod des Kindes enden. Die Zahl der Kinder, die nur um den Preis einer Hirnschädigung überleben, nimmt allerdings ständig ab. Fortschritt? - ja. Um welchen Preis? - Hierzu wird weiter unten noch einiges zu sagen sein. Hier soll noch kurz auf die Frage eingegangen werden: Warum - wenn doch die Neugeborenen-Asphyxie ein sehr altes Problem ist - wurden erst und gerade Anfang der 70er Jahre solche Fortschritte erzielt?

Über die Antriebe für die allgemeine Entwicklung der künstlichen Beatmung wurde zu den vorhergehenden Schlagworten schon viel gesagt. Daß sie den Boden bildeten, auf dem sich die Beatmung Neu- und Frühgeborener entwickeln konnte, ist einsichtig. Daß aus den Forschungen zur Neugeborenen-Asphyxie jetzt Techniken entwickelt werden, die nahe an "Umbaupläne" heranreichen (vgl. Zeittafel), mag aus Machermentalität, Forschungsdynamik, vielleicht Raumfahrtforschung zu erklären sein. Daß aber Kinder in den "westlichen Industriegesellschaften" seit etwa Mitte der 60er Jahre als zunehmend wertvoller angesehen werden, ist wieder ein komplexes gesellschaftliches und bei weitem nicht nur sozialpsychologisches Datum. Hier mischen sich emanzipatorische Interessen der selbstbewußter werdenden Frauen (Gebärstreik), Psychoboom, Konsumterror, wirtschaftliche Stagnation und steigende Arbeitslosigkeit zu dem Brei, der immer wieder in scheinbar wertfreier Weise als "Pillenknick" verkauft wird, der aber durchaus ein zweites, häßliches Gesicht hat, das mit Neo-Malthusianismus zu umschreiben wäre (vgl. 28).

2.3. Einige Bemerkungen zur "Häßlichkeit" der künstlichen Beatmung

In den Anmerkungen zur Geschichte der künstlichen Beatmung hoffen wir u.a. dieses deutlich gemacht zu haben: Die jeweiligen Techniken, in ihrer gesellschaftlich angewandten Form, waren nie Reflexe auf bloßes Naturgeschehen oder reiner Erfindergenius, sondern sie waren Bestandteil der jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklung selbst, sei es eher direkt, wie am Beispiel der Vernetzung von Kriegstechnik und Anästhesie zu sehen, oder eher indirekt, vermittelt, wie am Beispiel der Kinderlähmung u.a. zu zeigen war. Die unbezweifelbare Häßlichkeit, die die Eisernen Lungen Döhnhardts in beeindruckender Weise repräsentieren, gehört also in den Kontext akkumulierter gesamtgesellschaftlicher Häßlichkeit, wie sie sich nach Ende des 2. Weltkrieges darstellte. Ihre äußerliche, abstoßende Erscheinung bezieht sie aus dem Notbehelf der Konstruktion, das notdürftig umfunktionierte Kriegswerkzeug. Aber ihr eignet auch eine innere Häßlichkeit: Vieles, was zu ihrer Anwendung an Wissen erforderlich war, wurde im Krieg gelernt, ja die gesamte Anästhesie selbst ist ja z.T. Kriegswerkzeug, die Logik ihrer Anwendung beinhaltet dies noch immer. (Von hier gibt es direkte Kontinuität zu ganz aktuellen Anlässen, wie z.B. den als Katastrophenschutz getarnten ideologischen Kriegsvorbereitungen, wie sie sich im Gesundheitssicherstellungsgesetz wiederfinden.) Unser methodisches Rüstzeug (sic!) ist solchen Entstehungen noch immer so verwoben, daß wir - selbst bei größter Entfernung von solchen kriegerischen Ursprüngen - noch immer Krieg führen: gegen den behandelten Körper, gegen die als Krankheit in Erscheinung tretende gesellschaftlich geformte Natur. Von einem partnerschaftlichen Verhältnis ist die friedlichste Intensivmedizin noch Äonen weit entfernt.

Die Vermittlung von Technik zu Lebendigem geschieht durch Gewalt. Z.B. bei Langzeitbeatmung von Neugeborenen bzw. Frühgeborenen: Der Grundgedanke der Behandlung ist, den Übergang vom geschützten, im Wortsinn abhängigen Dasein des Ungeborenen in der Gebärmutter auf das losgelöste, abgenabelte Dasein zu erleichtern, zu ermöglichen. Die von uns benutzte Technik ist eine Mischung aus Imitationen der Plazenta-(Mutterkuchen)Funktionen, schützenden und wärmebewahrenden Uterus-(Gebärmutter)Funktionen und dem Erzwingen einer Lungenatmung, wie sie dem extrauterinen Leben (dem Leben nach der Geburt) entspricht. Die benutzten Mittel sind "Strippen" (Elektrodenkabel, Infusionsschläuche, Intubationsschläuche, Magensonden), "Kästen" (Inkubatoren, sog. "Brutkästen") und pumpenartige Maschinen mit einiger Regeltechnik (Beatmungsgeräte, Infusionspumpen). Zur "Überwachung" der gesetzten Effekte dienen die meisten Maschinen, die sich vorwiegend elektronisch-chemischer Prozesse bedienen (Röntgengerät, Blutgasanalysegeräte, Puls- und Atemmonitoren, fortlaufende Sauerstoff- und Kohlendioxidmessung über die Haut), dazu kommen einfache physikalische Verfahren (Temperaturmessung, Gewichtskurven, Flüssigkeitsbilanzierungen).

Die vordergründigste Gewalt ist die, die das Kind immobilisiert, um diesen ganzen aufwendigen Apparat, der oft genug nur mit Mühe zu plazieren ist, an seinem Platz zu halten. Auch die Plazierung selbst, die ja z.T. im Wortsinn "Eingriffe" (in die Haut, in die Vene, in die Mundhöhe, in die Luftröhre etc.) darstellt, ist ein sinnfälliger Akt der Gewalt. Weniger direkt ist die Gewalt, die zur Herstellung der benutzten Instrumente und Geräte in den Fabriken angewandt wurde. Manchmal haben wir Eltern, die als Arbeiter/in in solchen chemisch-pharmazeutisch-technischen Fabriken arbeiten, und die vom Akkord und der Arbeitsdressur in solchen Firmen berichten. Aber auch die Art der Konkurrenz, mit der diese Firmen per Anzeigen, Werbegeschenken und durch "Ärztebesucher" und "Pharmareferenten" und "Produktmanager" auf den "Markt" drängen, haftet den Produkten an. Dies ist die Gewalt der kapitalistischen Anwendung, immerhin noch eine relativ äußerliche (soll heißen: es ist vorstellbar, wie dies zu ändern wäre, ohne die Produkte wesentlich zu ändern). Aber auch die ärztliche Anwendung gehorcht noch einer recht eindimensionalen Vernunft, ist noch weitgehend undialektisch zweckrational: So besteht ein großes, immer noch gefürchtetes Problem der maschinellen Dauerbeatmung des Frühgeborenen darin, daß der benötigte Gasaustausch in den Lungen meist nur über unphysiologisch hohe Drucke, die von der Maschine in die Lunge gepreßt werden, zu erzielen ist. Dies hat seinerseits unerwünschte Folgen, "Nebenwirkungen", wie wir uns oft zu unkritisch trösten. Eine dieser gefürchteten Nebenwirkungen besteht darin, daß eine Verbindung zwischen Lungen- und Körperschlagader, die für das Ungeborene lebensnotwendig ist, für das Geborene aber störend und gefährlich, durch die hohen Drucke im Lungenkreislauf geöffnet bleibt, was dann die Anwendung der maschinellen Überdruckbeatmung weiter erzwingt. Eine Lösung wird oft nur noch durch eine Operation, bei der diese Verbindung verschlossen wird, möglich. Eine Gewalt erzwingt die zweite, häufig folgen noch viele weitere. Die Häßlichkeit ist Folge zusammenhängender Gewalten und der Gewalt des Zusammenhangs.

3. Abschließend subjektive Schau: Angst

Was bei Bloch "Angst des Ingenieurs" heißt, Angst vor dem technischen Unfall, spielt sich für den Arzt in einem Beziehungsdreieck zwischen Patient, Technologie und sich selbst ab. Die Angst des Arztes vor dem Patienten hat als Grundlage die allgemeine Angst vor dem Tod, ist in dieser Hinsicht auch noch unspezifische menschliche Beziehung. Eingebettet in die Institution Krankenhaus ist sie aber auch Angst vor Überforderung, Angst vor dem Kunstfehler, Angst vor der Kritik der vorgesetzten Kollegen. Als solche spielt sie eine hervorragende Rolle in der Sozialisation der Ärzte, wird zum wichtigen Bestandteil der "heimlichen Methoden", erscheint auch leicht als natürliche Grundlage der hierarchischen Ordnungen.

Aber der Arzt, besonders der fachlich etwas fortgeschrittenere, hat auch Grund, sich selbst zu fürchten. Wiederholte Erlebnisse gelungener Reanimationen z.B. erzeugen Machtgefühle. In der durchaus kriegerischen Atmosphäre von Intensivstationen, zumal wenn sie durch überlange Nachtdienste verschärft wird, wird der hilflose Patient zum Aggressor, dem das Überleben abzutrotzen ist. Die Gewalt der Methoden kann dann sehr willkommen sein. Mit der Formel "Operation gelungen, Patient tot" hat der Volksmund dieses Phänomen recht treffend charakterisiert.

Schließlich: Die Angst vor dem technischen Unfall. Nicht nur der medizinische Laie hat beim Betreten von Intensivstationen das Gefühl, auf dem Raumschiff Enterprise zu sein. Im Unterschied zum Neuankömmling hat sich das Personal nur meist an das Interieur gewöhnt. Das bedeutet aber bei weitem nicht, daß man diese ganze Elektronik beherrscht. Je nach Kenntnisstand weiß man, welcher Knopf zu drücken ist, kennt die physikalischen Funktionsprinzipien, ist nach Checkliste zum Auffinden der häufigsten Fehlerquellen in der Lage, kann vielleicht sogar wesentliche Reparaturen selbst durchführen (was oft genug erheblich mehr Zeit in Anspruch nimmt als die Arbeit am Patienten). Ob aber die bekannten Funktionen der Maschinen die einzigen sind, ob es nicht weitere, noch unbekannte Nebenwirkungen gibt, welche Spätfolgen noch auftreten könnten - dies bleibt auch für den Erfahrensten Grund zur Angst, um so mehr, als nicht damit zu rechnen ist, daß man von den Herstellerfirmen wirklich seriös unterrichtet wird. In der Geschichte der Intensivmedizin reichen solche traumatischen Erfahrungen von der Erblindung des mit zu viel Sauerstoff versorgten Patienten bis zur Explosion ganzer Intensiveinheiten.

Warum, bei aller Angst und Gewalt, bleiben wir dennoch dabei? Weil die Angst vor dem Nichtstun größer sein muß, als die Angst vor dem ungenügenden Tun. So wissen wir inzwischen aus recht gut belegten Nachuntersuchungen von ehemals intensiv behandelten Frühgeborenen, daß die bleibenden Schädigungen durch Intensivbehandlung erheblich kleiner sind als die Schäden, die beim Überleben ohne Intensivbehandlung auftraten. Sehen wir einmal von den natürlichen Risiken ab, die aus der "Leibeigenschaft dem Leib gegenüber" entspringen, so bleibt allerdings nach der affirmativen Funktion zu fragen, die medizinische Therapie gegenüber dem gesellschaftlich verursachten Teil von Krankheiten einnimmt. In dieser Allgemeinheit ist dies eine nur sehr unbefriedigend moralisch-philosophisch zu beantwortende Frage. (Nur wer seinen Platz auch in politischen Emanzipationsbewegungen findet, hat auch ein Recht auf die Handhabung der Beatmungsmaschine!)

In der Konkretion unseres Themas schien es uns wichtig, die Gewaltzusammenhänge medizinischer Technologie aus ihrer scheinbaren immanenten Unschuld herauszuholen und sie der häßlichen Gewalt des nicht-medizinischen gesellschaftlich-natürlichen Zusammenhangs zuzuordnen. Weil letztere um ein Vielfaches größer ist, machen wir im Bewußtsein des Ungenügenden, Vorläufigen weiter, ängstlich, aber nicht verzagt.

Es ist marxistisch, bewußt Geschichte zu machen und sie nicht mehr passiv zu erleiden. Ja es ist auch marxistisch, bewußt bereits in das Vorbedingende einzugreifen, woraus die Menschen kommen und worin sie körperlich leben, bevor sie überhaupt geschichtlich auftauchen. Das ist ihr Dasein im Mutterleib, weiter der ihnen von daher mitgegebene körperliche Zustand. Sich mit ihm nicht mehr abzufinden, wie er gerade geworden, liegt dem Menschen, der nirgends Geschick hinnimmt, nahe. Die Kühnheit liegt ihm nahe, den Leib vor der Geburt bereits in seinen Anlagen richten zu wollen, gleichsinnig mit der Zeit, wie man eine Uhr richtet. Ihn nach der Geburt bewußt, gegebenenfalls verändernd, vital fortzuformen, von der beherrschten inneren Sekretion her oder aus noch unbekannten Bildekräften. Das alles nicht, um die Menschen gleichzumachen, wozu weder Aussicht noch auch Anlaß ist, wohl aber, damit ihr organischer Start nicht viel ungehinderter sei als ihr sozialer. Damit sie nicht Leibeigene ihrer selbst bleiben, nachdem sie es in der Gesellschaft nicht mehr sind. Sie alle möchten Gutgeratene sein, in dem Maß der Freiheit, das ihnen sozial bevorsteht und kommt. Aber als sichtbarste Hoffnung bleibt bei alldem der zentral steuernde Einfluß des Lebens in einer gesund gewordenen Gesellschaft auf die Krankheiten des Geboren- und Erwachsenseins selber, vorzüglich auf deren Verhütung, und auf die Lebensdauer. Ein weiter Weg bis dahin und einer, der vielleicht, was das heikle Fleisch angeht, noch auf lange nicht sehr zufriedenstellend zurückgelegt werden kann. Innerhalb der Leistungsfähigkeit zum kapitalistischen Betrieb wird er zweifellos nicht zurückgelegt; denn Gesundheit ist etwas, das genossen, nicht verbraucht werden soll. Schmerzloses, langes, bis ins höchste Alter, bis in einen lebenssatten Tod aufsteigendes Leben steht aus, wurde stets geplant. Wie neu geboren: das meinen die Grundrisse einer besseren Welt, was den Leib angeht. Die Menschen haben aber keinen aufrechten Gang, wenn das gesellschaftliche Leben selber noch schief liegt. (29)

Literatur / Anmerkungen

1. Leserbrief in "Widersprüche" Nr. 2, Offenbach 1982

2. Ernst Bloch, Prinzip Hoffnung, Frankfurt 1959, S. 813

3. ebda., S. 546

4. ebda., S. 526

5. ebda., S. 529

6. ebda., S. 527

7. ebda., S. 530

8. ebda., S. 541

9. ebda., S. 533

10. ebda., S. 808

11. ebda., S. 810

12. ebda., S. 809

13. W. Forth et al., Pharmakologie und Toxikologie, Zürich 1975, S. 520: "Bei Unfällen mit dem als Kampfgas entwickelten Stickstoff-Lost (Chlormethin) waren bei den Patienten neben Verbrennungen der Haut sowie Lungenschäden schwere Störungen der stark proliferierenden Gewebe, wie Dünndarmschleimhaut und Knochenmark beobachtet worden. Daran anschließende Versuche führten 1942 zur ersten Chemotherapie eines Tumors (Lymphosarkom)."

14. "Jakutin", ein häufig gebrauchtes Mittel gegen Läuse und Krätze, enthält als Wirkstoff Hexachlorcyclohexan (HCH), das als Insektizid die Nachfolge des DDT angetreten hat. Neben der Giftigkeit des Stoffes selber, fallen bei der profitablen Produktion hochgiftige Substanzen u.a. das sog. "Seveso-Gift" an.

15. Artikel zum Fall Lindemann in "Autonomie" Nr. 7, 1981

16. vgl. Rolf Löther, Medizin in der Entscheidung, in der Reihe "Unser Weltbild", Berlin 1967

17. V. Friedrich u.a., Neunmal teurer als Gold, Reinbek 1977

18. K. Langbein u.a.. Gesunde Geschäfte, Köln 1981

19. Zitat C.G. Jung aus P. Lüth, Ansichten einer künftigen Medizin, München 1971, S. 17

20. ebda., S. 13

21. U. Keuth in "Pädiatrische Praxis" Nr. 7, 1968

22. 1. Könige 17, V. 17-24, Bibelübersetzung: H. Menge

23. O. Negt, A. Kluge, Geschichte und Eigensinn, Frankfurt 1981

24. J. Lee, R. Atkinson, Synopsis der Anästhesie, Stgt./N.Y. 1978, S. 17

25. R. Gross, D. Jahn, Lehrbuch der Inneren Medizin, Stgt./N.Y. 1970

26. vgl. H. Kaupen-Haas in "Jahrbuch für kritische Medizin" Nr. l (Argument), Berlin 1976 (dort auch weitere Literatur)

27. D. Hail u.a., Die Aneignung der Gesundheit, in "Widersprüche" Nr. l, Offenbach 1981

28. Nach Malthus (1789) lag der Grund sozialen Elends im "natürlichen" Widerspruch zwischen dem Vermehrungsstreben der Menschen (da nach geometrischer Progression wachsend 2, 4, 8, 16 usw.) und dem nur arithmetischen Anwachsen der Nahrungsmittelproduktion. Nachdem dieses Modell zunächst als "natürliche" Erklärung des proletarischen Elends gedient hatte, war es im Faschismus als Grundlage der "Volk-ohne-Raum"-Ideologie gut. Unter Umkehrung der Vorzeichen dient das Schreckgespenst "Raum-ohne-Volk" heute noch zur ideologischen Begründung von Familienpolitik einerseits und im ursprünglichen Sinn als Richtschnur für "Entwicklungshilfe" andererseits.

29. E. Bloch, a.a.O., S. 545/546

Abbildungen

1) Maschinell beatmetes Frühgeborenes

2) "Deutsches Ärzteblatt" Nr. 45, 1980, S. 2667

3) Hans Peter Duerr, Traumzeit, Frankfurt 1978, S. 107

4) "Deutsches Ärzteblatt" Nr. 9, 1981, Titelblatt

5) Schlafmittelwerbung, wiederholt in "Deutsches Ärzteblatt", 1981/1982

6) Superman aus 6. Superband, Stuttgart 1978, S. 19

7) Hans Peter Duerr, a.a.O., S. 101

8) Gerechtigkeitsliga, Sonderalbum Nr. 5, Stuttgart 1978, S. 49

9) Neugeborenen-Intensivstation

10) Friedberg, Hirsch, Geburtshilfe, Stuttgart 1975, S. 486

11) Medikamentenwerbung, wiederholt in "Deutsches Ärzteblatt" 1981/1982

12) M.E. Müller u.a., Manual der Osteosynthese, Berlin/Heidelberg/New York 1977, S. 123

13) H. Peters, Der Arzt und die Heilkunst in alten Zeiten, Düsseldorf 1969, S. 83

14) M.E. Müller u.a., a.a.O., S. 25

15) "Deutsches Ärzteblatt" Nr. 46, 1979, S. 3034

16) M.E. Müller u.a., a.a.O., S. 131

17) Pfennigparade e.V., Gemeinnütziges Betreuungswerk für die Opfer der Kinderlähmung des "Conterganunglücks" und für andere Schwerkörperbehinderte) "Wie bewältigen wir unseren Alltag?", München 1979, S. 35

18) A. Dönhardt, Künstliche Dauerbeatmung, Berlin 1955, S. 41

19) ebda., S. 27

20) ebda., S. 29

21) ebda., S. 48

22) ebda., S. 30

23) Fruhmann u.a.. Zur künstlichen Atmung, "Deutsche medizinische Wochenschrift" Nr. 40, 1953, S. 1366

24) A. Dönhardt a.a.O., S. 31

25) ebda., S. 43

26) ebda., S. 44

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