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Heft 50: Zur Zukunft des Sozialismus und zum Ende des realen

1994 | Inhalt | Editorial | Leseprobe

Titelseite Heft 50
  • März 1994
  • 128 Seiten
  • EUR 7,00 / SFr 13,10
  • ISBN 3-88534-096-8

Niko Diemer

Zur Zukunft des Sozialismus, nach dem Verschwinden des realen
Moderne, Modernisierung und Sozialismus

24. Mai 1992: Heute will ich beginnen, Gedanken auf Tonband zu sprechen. Ich habe das Gefühl, nicht mehr genug Zeit zu haben, diese Gedanken aufzuschreiben. Normalerweise hätte ich vorgehabt, in einem halben oder vielleicht sogar schon in einem viertel Jahr die Gedanken soweit zu haben, daß ich einen Aufsatz hätte schreiben können - überschrieben: "Die Zukunft des Sozialismus nach dem Verschwinden des realen Sozialismus" - vielleicht auch nur des "realen".

Ich habe das Gefühl, keine Zeit mehr zu haben oder zu wenig Zeit zu haben, diese Gedanken so zu fassen, daß ich sie aufschreiben kann, deshalb fange ich an, Gedanken zu sprechen, wohlwissend wie ungeübt ich bin, daß ich nur geübt bin, eigentlich schon fertig vorbereitete Redeversuche zu sprechen. Trotzdem - ich versuche es (1).

Worüber? - Überschreiben würde ich es: "Gedanken zur Zukunft des Sozialismus - oder vielleicht zur Aktualität des Sozialismus", und im Untertitel würde ich versuchen, eine Interpretation zu den Begriffen Moderne, Modernisierung und Sozialismus zustande zu bringen. Es sind Gedanken, die in Zusammenhang stehen mit vielen Diskussionen, in erster Linie mit den Diskussionen des "Politischen Nach(t)gesprächs": "Zum Ende der Epoche" im ESG-Rahmen (2). Dann sind es Gedanken, die aus den Debatten zu unserem Seminar "Linke Irritationen angesichts real existierender Deutscher" im November '90 stammen, das wir im "Schlachthof" (3) abgehalten haben, und es sind Weiterführungen von Gedanken aus meinem Aufsatz "Was ist Links?" (4).

Mit welchem Recht rede ich?

Ich bin mir der Schwierigkeit sehr bewußt, solche Gedanken zu sprechen, auch der Anmaßung. Natürlich gehe ich größenwahnsinnig davon aus, etwas zu sagen zu haben, etwas hinterlassen zu wollen, zu können, zu sollen. Trotzdem: jeder Versuch, etwas aufzuschreiben, etwas öffentlich zu machen, zehrt letztlich von solchem Größenwahn. Jeder Text, jede Notiz, jede Intervention, jeder Aufsatz tut so, als würde er etwas hinterlassen an eine imaginäre Gemeinschaft derer, die etwas erfahren wollen. Und insofern sind diese Gedanken nur innerhalb der üblichen Bahnen von Größenwahn eines jeden Intellektuellen zu denken.

Ich bin mir klar, sollten diese Gedanken auf Interesse stoßen, daß sie besondere Mühe machen: das Transkribieren, das Mitumgehen, möglicherweise das Veröffentlichen. Trotzdem denke ich: in meiner Situation habe ich vielleicht das Recht, solche Anstrengungen von anderen abzufordern.

Ich bin mir einerseits bewußt, daß in meiner Situation ein solcher Versuch immer behaftet sein wird mit der größenwahnsinnigen Vorstellung, so etwas wie eine Summa zustandezubringen - eine Summa aller intellektuellen Anstrengungen, eine Summa eines intellektuellen Lebenslaufes. Es geht nicht, ich werde keine Summa mehr sprechen. Eine Summa kann man wahrscheinlich nicht sprechen, sondern muß sie wirklich schreiben. Zum zweiten bin ich nicht der Mensch, der überhaupt eine Summa zustandebringen kann. Und zum dritten, ich glaube, es ist keine Zeit für Summen. Wir sind, denke ich, in einer rabiaten Zeit des Übergangs, in der es schon schwer genug fällt, nicht alle Gedanken à la tabula rasa nur wegzuwerfen und in modischem Schnickschnack sich zu ergehen, sondern Neues aufzunehmen, trotzdem noch soviel sich zuzutrauen, seine Kategorien zuzutrauen, daß es so etwas gibt wie eine Denkanstrengung und nicht nur ein modisches Sich-Verabschieden oder Bückling-machen gegenüber den Zeitläufen der Zeitgeister.

Ein letztes Problem: Meine intellektuelle Biographie, meine Arbeit, gehen nur sehr en passant in die Richtung, es mir geleistet zu haben, besser: mich getraut zu haben auf der Ebene der allgemeinen Theoriebildung etwas zu sagen. Ich habe mehrere Ausflüge gemacht, aber so richtig hinein - sozusagen in das Tagesgeschäft des Streits - habe ich mich nie getraut. Gut - ich habe mich stilisiert, diese Art Intellektueller zu sein - Intellektueller mit sozialpolitischem Schwerpunkt - und mit der Anmaßung, immer mal wieder darüber hinaus zu gucken in Richtung von Fragen des Geschlechterverhältnisses, von Fragen von philosophischen Belangen, von Fragen nach Ganzheitlichkeit und eben von allgemeinpolitischen Sozialismus-Fragestellungen. Meine Stilisierung ging ganz stark in die Richtung, mich nicht spezialisieren zu wollen. Das grenzt an den Größenwahn, zu allem und jedem etwas zu sagen zu haben.

Ich habe manchmal so etwas wie einen ironischen Gedanken gehabt, jemand würde eine Laudatio auf mich halten und die würde etwa so überschrieben sein: "Niko Diemer oder die Kunst, sich nicht zu spezialisieren", oder vielleicht auch: "die Weigerung, sich nicht zu spezialisieren". Natürlich war mir dieser Gestus immer sehr lieb, die Weigerung, mich der Disziplin zu unterwerfen, mich dem Schubladendenken zu unterwerfen. Im letzten Jahr, in der letzten Zeit habe ich gelernt, wieviel an Angst, wieviel an Konkurrenzangst, wieviel An-mich-Drücken vor dem intellektuellen Kräftemessen in diesen Stilisierungen des Nicht-sich-Spezialisierens, des Sich-abseits-Haltens vom reglementierten - wie ich gedacht habe, ich denke mittlerweile eher - auch vom konkurrenzbezogenen Denken darin lag. Ich habe dazu einen kleinen Anlauf genommen zu Jahresanfang mit meiner Stelle (5). Gut - die Situation ist die tragische, daß ich wahrscheinlich, wahrscheinlich nicht Gelegenheit dazu bekommen werde, mich dort zu versuchen.

Ein Weiteres: Bin ich der, der irgend etwas zu hinterlassen hat? Vergleiche ich mich nicht mit den großen Köpfen, mit denen, die ein Leben lang intensiv mit Arbeit, mit Hingabe auch mit Mut, mit Mut zum Streit, sich hineingetraut haben in das Gelände der Gedanken, die auch sorgfältig abgesichert mit Mühsal gearbeitet haben? Ich denke, der war ich nie, und ich schlittere natürlich immer wieder an dieser Idee entlang, vielleicht doch einer zu sein, der etwas zu sagen hat, der in seinen Gedanken irgendwie wichtig sein könnte.

Das Einzige, was ich wirklich in Anspruch nehmen kann, ist, daß ich als Vertreter einer bestimmten Generation, der Nach-68er-Generation, vielleicht befugt sein könnte (ah, der Weltgeist befugt), Gedanken zu hinterlassen. Ich glaube, daß meine Generation eine besonders interessante Zwischenstellung hat. Sie hat schon mit einem Teil der 68er-Illusion gebrochen oder sie nicht mehr so in sich gehabt. Sie ist freier vom ganzen Traditionalismus der 68er, auch von der Schwere, die darin lag, ihre eigentlich traditions-marxistischen Vorstellungen an sich selber - am eigenen Leibe sozusagen - zu revolutionieren, mit verschiedenen Ausgängen, wie wir wissen: mit suizidalen Ausgängen à la Vesper (6), mit terroristischen Ausgängen bei der RAF, mit bürokratischen Ausgängen in den diversen Parteien und mit schwierigen, sich selbst beladenen, übermoralischen Ausgängen, die doch ein Teil der Generation im Universitätsbetrieb oder in verschiedenen Professionen auf sich geladen hat.

Meine Generation ist nicht unbelastet, ganz sicher nicht. Vielleicht sind wir sogar die wirkliche, die erste nach-faschistische Generation, die aus der puren Opposition, aus der puren Gegenübersetzung konfrontiert ist mit dem eigenen Problem in sich: die Eltern, den Idealismus der BdM-Mütter und der "siegreichen" Stalingrad-Väter fortsetzen zu wollen, im Volkskrieg weit weg oder im Parteienkampf ganz hier siegen und damit die Kränkung, die narzißtische Kränkung der deutschen Niederlage wettmachen zu wollen. Insofern waren wir mit uns selbst, mit der Komplizenschaft, mit dem Idealismus, mit dem Fortsetzen, mit der Ähnlichkeit in uns - denke ich - immer ganz anders konfrontiert als die Generation, die ganz nah dran war an den Tätern.

Wir sind von daher sicher nicht unbelastet, aber vielleicht fällt es uns als Generation doch leichter, über den schweren Schatten geschichtsphilosophischer Pflichten und moralischer Gebundenheit zu springen. Vielleicht sind uns doch Wilhelm Reich, der Impetus der kritischen Theorie und auch anarchische, anarchistische Gefühle und Gesten ein Stück näher als der ganz schweren, tragischen 68er-Generation.

Alles wird noch einmal durch die je besondere Lebensgeschichte reflektiert, speziell in meinem Fall durch eine bildungsbürgerliche Herkunft, durch eine spezielle Verwickeltheit in die Vergangenheit durch eine BdM-Mutter, durch einen Vater, von dem ich immer glaubte, er sei zu zerbrechlich, zu zerbrochen, um auf der Seite der Täter gestanden zu haben.

Mit dem Recht eines Vertreters dieser Generation versuche ich nun, Gedanken zu formulieren, aber auch vielleicht mit dem kleinen Vorrecht dessen, der den gewundenen Lebenslauf eines Teiles dieser Generation gemacht hat, der sich geweigert hat, der sich weigern mußte, der sich falsch stilisiert hat, der aber vielleicht deshalb herumgekommen ist, herumgekommen ist in sozialarbeiterischen Erfahrungen, herumgekommen ist in verschiedenen Gedanken, vielleicht ein Stück offener war für die Veränderung, auch für Neues. Wenn ich an mich selbst denke: meine Versuche, neue Gedanken zu fassen - in Zeiten des Übergangs mich neu anzunähern, postmodernen strukturalistischen Gedanken, Gedanken der Psychoanalyse in Lacanscher und anderer Form. Vielleicht konnte ich ein Stück unbefangener sein als Menschen z.B. der 68er-Generation, auf denen doch der Alp der Geschlechter anders lastet als auf mir. Auch mit diesem Recht versuche ich, die Gedanken zu formulieren.

Ich bleibe vorläufig bei dem Titel: "Zur Zukunft des Sozialismus nach dem Verschwinden des realen."

Die Zukunft des Sozialismus klingt natürlich ungeheuer provokativ in Zeiten, in denen seit 80 Jahren das erste Mal wieder eine Welt existiert, eine Welt, die auf dem Kapitalismus in seinen verschiedenen Entwicklungsstadien, in seinen Konfigurationen aus Zentren und Peripherien, aus Zitadellen und Vorhöfen bis hin zu den Schlachthäusern besteht.

Der Sozialismus? - Der Westen hat gesiegt! - Das ist eine Tatsache und der "reale Sozialismus" ist kläglich vom Erdboden, von der Weltoberfläche verschwunden. Von denen, die ihn 70 Jahre lang oder auch kürzer aushalten mußten, war er nichts seliger als hinweggewünscht. Gut - was danach kommt, ist schwerer als gedacht. Trotzdem: Der Sozialismus ist verschwunden und die sozialistische Idee scheint für ganz lange Zeit ein für alle mal blamiert.

Der "reale Sozialismus" als Apotheose der Moderne

Natürlich muß es in der ersten Anstrengung darum gehen, sich klarzumachen: Was war der reale Sozialismus, was hat er wirklich mit den Gedanken der Sozialismen und mit den Traditionen aus dem Stamm des Sozialismus zu tun? Meine erste Antwort ist: ganz, ganz wenig. Ich glaube, es läßt sich nachverfolgen, daß das, was zum "realen Sozialismus" als Staat geworden ist, was Gesellschaft geworden ist, daß das eigentlich sehr viel näher an den evolutionistischen Gedanken des 19. Jahrhunderts, an der Technikfetischisierung, an Ideen des Machens von Gesellschaft liegt, als es im Sozialismus, sei es in der marxschen Tradition, sei es z.B. in der frühsozialistischen, fourieristischen oder in einer anderen Tradition je gedacht war. Ich glaube, was wir als "realen Sozialismus" vor uns hatten, war vielmehr ein illegitimes Geschwister (ob Bruder oder Schwester, weiß ich nicht) von bestimmten terroristischen Modernisierungsströmungen oder Modernisierungsformen, die Staats- und gesellschaftsgeworden sind im Westen. Die Modernisierung war von der Idee getragen, daß in der kapitalistischen Entwicklung so etwas wie die Potenz der Zukunft, also im Weitertreiben der sachlichen Logik, der technischen Rationalität, der technischen Optimierung, die Befreiung der Menschheit von Naturzustand von Abhängigkeiten liegt. Die Idee war, die kapitalistische Logik der Naturaneignung nur noch ein Stück weiter zu treiben und ansonsten eben die Synthesis, die Verbindung, sprich: die Planung der Vergesellschaftung von Technik zu versachlichen. Also an Stelle von Konkurrenz, Markt, Zufall, Katastrophe, Krisenbereinigung eben eine planende Bürokratie im Auftrag der Partei, des Weltgeistes, des "Proletariats für sich" zu setzen und Gesellschaft darüber rational zu machen. Soviel zur technischen Seite.

Zur politischen Seite hin, denke ich, ist es eine Zuspitzung der Tradition, die das Politische eigentlich abschaffen wollte. Einer Tradition, die sich der Idee der bürgerlichen Demokratie entgegengestellt hat, die verstanden worden war als Palaver der Bourgoisie, von mir aus auch der Citoyens. Diese Tradition wollte radikal das Palaver der Bourgoisie insofern beenden, als anstelle von halblebigen Interessenausgleichen, faulen Kompromissen, Doppelmoral und permanentem Konflikt, so etwas wie die endgültige Lösung des Politischen gesetzt werden sollte. Und an diesem Punkt koindiziert natürlich die technische Utopie, die Idee einer über Sachen vermittelten gesellschaftlichen Synthesis mit der Idee der rationalen Planung.

Wenn es so ist, daß es in der Gesellschaft eigentlich nur noch rudimentäre Konflikte gibt, in der ein siegreiches Schaffen des Proletariats die Gesellschaft erobert hat, die Gesellschaft - sprich die politische Macht - beherrscht, dann gibt es im Prinzip ja kein Politisches mehr und auch keine Agenten des Politischen, zumindest nicht verschiedene, sondern nur noch einen, dessen Wille in irgendeiner Form vollstreckt werden muß. Es gibt kein Politisches im emphatischen Sinne mehr, sondern nur noch eine optimierte Gesellschaftsmaschinerie und so etwas wie geordnete, fast kasernierte Subjekte und Bedürfnisse, die offen daliegen, so daß im Grunde nur noch nach Zahl, Plan, Output, Ausstoß und der Gerechtigkeit der Statistik verteilt werden muß. Insofern ist eigentlich die Gesellschaft im emphatischen Sinne abgeschafft. Es gibt nur noch eine Maschinerie der Erzeugung und es gibt eine Maschinerie des Verbrauchens. Insofern ist der "reale Sozialismus" im Leninschen Gewände, im Trotzkischen Gewände, im maoistischen Gewände eigentlich eine Steigerung und Fortsetzung der Tradition der Moderne, der Tradition der Aufklärung - eine Steigerung der Idee, die Gesellschaft verfügbar zu machen. Dieser Gedanke führt natürlich dazu, sehr genau hinzuhören und auch sehr skeptisch zu sein, wenn heutzutage gegenübergestellt wird: hie westliche Aufklärung, westliche Vernunft - da barbarischer, antiaufklärerischer Sozialismus.

Ich denke, es ist anders: Ähnlich wie Auschwitz eine Apotheose der Moderne ist, ist der reale Sozialismus eine Apotheose von Strömungen der Aufklärung, der Moderne, die die Tendenzen nach Optimierung, Versachlichung und Verfügbarmachung nur gesteigert hat.

Kriterien eines "authentischen" Sozialismus

Wenn es also so ist, daß der "reale Sozialismus" und die Aufklärung Geschwister sind, dann stellt sich natürlich die Frage eines authentischen Sozialismus ganz anders. Dann kann nicht polar gedacht werden, sondern es muß radikal gesucht werden nach den anderen Strömungen, nach den anderen Tendenzen gegenüber der Idee der Abschaffung des Politischen, gegenüber der Idee, den neuen Menschen zum Beispiel durch Erziehung und auch Repression schaffen zu wollen. Dann muß gesucht werden im Blochschen Sinne nach dem Unabgegoltenen, nicht ganz so früh, wie er meinte, sondern durchaus später, in den verschiedenen Traditionslinien, die die Differenz betonen, daß z.B. Naturaneignung, was ästhetisch lebbar ist, was ökologisch für die Natur selbst zuträglich ist.

Es muß gefragt und gesucht werden nach Gedanken, die eher so etwas betonen wie eine Einigung zwischen menschlichen Zwecken der Verfügung und natürlichen oder besser ästhetischen, ökologischen Eigensinnigkeiten der Natur. Es muß gefragt werden nach den Kompromißbildungen, die eben nicht gleich vorschnell von der Identität ausgehen, die selbst Bloch in seinem Konstrukt der Allianztechnik unterstellt.

Zum zweiten muß gesucht werden nach Gedanken in der Ideengeschichte der Aufklärung, des Sozialismus, die die Differenz betonen: die Geschlechterdifferenz, die Differenz der Generationen, die Differenz der verschiedenen Kulturen, die Differenz der verschiedenen Individuen. Dies ist ein breites Feld, und wir finden solche Ideen eher im anarchistischen und auch im liberalistischen Bereich. Wir finden sie auf der großbürgerlichen Seite, bei de Sade und bei anderen. Auf den ersten Blick behaftet mit dem Muttermal des Feudalen, des irgendwie Abgehobenen, der Gedanken derer, die es sich leisten konnten.

Zum dritten müssen wir viel stärker Gedanken beerben, die das Politische als politisches zum Thema machen, die also davon ausgehen, daß es nicht so ist, daß irgendwelche Endzustände gesellschaftlich erreicht werden können, daß harmonische Identitäten von Gesellschaft sinnvoll denkbar sind, sondern davon ausgehen, daß es immer in der Gesellschaft verschiedene Akteure geben wird, die bestimmte Interessen haben, die kurzfristige Interessen haben, die Interessen am Allgemeinen haben und daß Politik im emphatischen Sinne darin besteht, diese verschiedenen längerfristigen und kurzfristigen und allgemeinen Interessen zusammenzubringen. Das zielt darauf, sie nicht in ein harmonisch stimmiges Konstrukt oder evolutionäres Schema zu pressen, sondern eigentlich Modelle, Verlaufsformen, in denen Einigung eine Zeitlang gelebt werden kann, zu entwerfen, die auch erträglich für die kleinste und radikalste Minderheit, auch erträglich für die Dinge, die wir noch gar nicht wissen, z.B. auch für die Natur sind.

Der doppelte Marx

Wir kommen dann zu bestimmten, durchaus bekannten Kriterien, eben der Reversibilität, der Moratorien, auch des Nicht-Entscheidens von Entscheidungen und Begriffen des Politischen, die solche Verlaufsformen, solche vorläufige Einigungsformen und Konfliktumgangsformen theoretisieren. Solche Begriffe des politischen Denkens sind wichtig.

Natürlich ist mit solchen Gedanken noch lange nicht ausgeräumt, welchen Anteil Marx, der Marxismus am Zustandekommen der autoritären realsozialistischen Regime hatte. Ich denke, daß die Gedanken von Castoriadis nach wie vor richtig sind, die die Doppeldeutigkeit schon bei Marx ansiedeln. Bei Marx existiert eine Idee der Befreiung, der Befreiung der Individuen von überflüssiger Herrschaft, auch der Befreiung der Menschen von sich sach-logisch entwickelnden technischen Evolutionsprozessen. Hier kommt der Spät- und der Links-Hegelianische-Humanismus durchaus zusammen mit dem von Hegel und anderen her induzierten theoretischen Entwurf, die Gesellschaft als falsch zu verstehen, falsch in dem Sinne, daß die losgelassenen Sachen über die Menschen herrschen, daß die Produkte in verkehrter Form losgelassen sind und über die menschlichen Beziehungen herrschen, daß menschliche Beziehungen zur Ware geworden sind und von den Menschen nicht mehr durchschaut werden können.

Das ist die eine Seite, das ist der Marx der Befreiung. Daneben gibt es den "Dampfmaschinen-Marx", den Denker des 19. Jahrhunderts, der - durchaus in der evolutionistischen Denkrichtung - sich vorstellte, daß Technik, technische Entwicklung und Verfügung über Technik als harmonisch sachlicher Prozeß zu denken ist, der durchaus im hegelianischen Sinne den Weltgeist als Dampfmaschine sich vorstellte, einfach als marschierende Dampflok in Form von Klassenkampf, Proletariat, zu-sich-kommender Klasse. Am Ende gibt es dann so etwas wie ein zu-sich-gekommenes Proletariat, das legitim die Erbfolge des Hegeischen Weltgeistes antritt und über die Gesellschaft ohne Konflikte verfügt. Insofern gibt es durchaus bei Marx die Tendenz, das Politische abzuschaffen, wenn auch wieder gebrochen durch seine real-historische Analyse à la Pariser Commune oder in der Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie. Marx ist sicher zwiespältig an diesem Punkt, trotzdem denke ich, daß erst mal die Analyse im großen und ganzen wichtig ist, Marx in diese beiden Marxe zu zerlegen.

Was heißt Sozialismus heute?

Ich halte meine Gedanken aus dem Aufsatz "Was ist Links?" durchaus noch für aktuell: daß Sozialismus erstens bedeutet, diese verkehrte, verrückte Gesellschaft - ver-rückt: die Dinge sind anstelle der Menschen gerückt -, zu kritisieren, zu durchschauen und emphatisch daran festzuhalten, daß die Menschen ihre eigenen Dinge bestimmen sollten. Das ist eigentlich eine ethische, moralische, vom Moralischen her bestimmte Kritik; die Idee, die Gesellschaft doch umzudrehen, die Menschen an die erste Stelle zu setzen.

Was offen ist, ist natürlich: Wer sind die Menschen? Wer spricht? Wessen Wort, wessen Sprache muß gehört werden? Wie kommen die verschiedenen Stimmen zusammen? Das ist durchaus nicht gelöst im emphatischen und kritischen materialistischen Gestus, die Gesellschaft humanisieren zu wollen.

Zweitens: Sozialismus ist neben der Kritik ein Projekt der Differenz. Diese Behauptung scheint auf den ersten Blick widersinnig, da Sozialismus doch richtigerweise verbunden wird mit der Idee der Egalität. Ich denke auch, daß es soweit richtig ist, im Unterschied zu liberalen und anderen Konstitutionen, die Egalität beim Sozialismus anzusiedeln. Insofern die Idee des Sozialismus immer der Idee benachbart war, daß Menschen gleiche Chancen haben sollen. Aber da fängt das Problem an.

Die Idee der Egalität ist ganz oft dahin degeneriert, daß Menschen gleich sein sollen. Das ist durchaus zu verstehen aus den antifeudalen Kämpfen und auch aus den Klassenkämpfen, daß die Idee der Gleichheit, im Sinne des Gleich-sein-Wollens, sich so in Vordergrund gedrängt hat. Es ist überhaupt aus den Herausbildungen von Klassen und Klassenkampf zu verstehen, wie das Thompson theoretisiert hat. Dort wird anhand von Kategorien wie "moralische Ökonomie" klar, daß es um das Thema der Gleichheit geht. Der Gleichheit insofern, als die Gesellschaft, oder, besser gesagt, die Herrschenden so etwas wie ein gleiches Recht für alle verletzen, das im Kern ein feudaler Topos und Teil der mittelalterlichen kosmologischen Ideen war. Die bestehende moralische Ökonomie der Gerechtigkeit wird also verletzt und von daher entsteht der Impetus, die Gleichheit, das Gleiche einzuklagen.

Daß unter solchen Bedingungen Gleichheit zur Idee des Gleichseins geworden ist, ist zu verstehen. Zum zweiten ist zu verstehen, daß sich die Idee der Gleichheit gebunden hat an die real erfahrenen Traditionen und auch Qualitäten der Arbeiterkultur. Man war durch das Kapital in gleiche Lebensweisen gedrängt, man war geschleudert auf das gleiche Äußere, auf das gleiche Konsumniveau. Daß diese Lage erst mal als Produktivkraft aufgeladen wurde und Ideen des Gleich-Sein-Wollens daraus entstanden sind, ist eigentlich klar.

Sozialismus heißt für mich, den Menschen Möglichkeiten zu geben. Vielleicht wissen wir gar nicht, ob es wirklich die gleichen sein sollen, die gleichen sein müssen. Ich denke, daß die Idee der Differenz eine zentrale ist. Differenz heißt anzuerkennen, daß Menschen verschieden sind, nach Geschlecht, nach Generation, nach ihrer Individualität, nach ihrer Lebensgeschichte. Die Kunst des Sozialismus, auch der sozialistischen Politik wäre, Menschen Chancen zu geben, auch gemeinsame Chancen. Dabei wäre immer die Verschiedenheit zu berücksichtigen und auch Projekte wären politisch so zu definieren, so in Gang zu setzen, daß neben den gesellschaftlichen Klammern, die Solidaritäten, die neu hervorgebracht werden müßten, da auf sie nicht mehr zurückgegriffen werden kann nach dem Verschwinden der Arbeiterkultur, verbunden sind mit dem Recht auf Moratorien, mit dem Konfliktrecht auch der Abweichenden und der "Anormalen".

Drittens: Sozialismus ist Erinnerung an das Unabgegoltene. Das Unabgegoltene sind verschiedene Ideen - auch schwärmerisch verrückte, sektiererische Utopien und Gesellungsformen auch real gelebter Utopien -, in denen soziale Formen gedacht und erfunden worden sind. Sozialismus kann nicht leben ohne das Beerben solcher versuchter Modelle anderen Lebens. Nur ist damit überhaupt noch nichts ausgemacht. Es gibt kein "Prinzip Hoffnung", wie sich Bloch eigentlich falsch überschrieben hat, sondern es gibt Hoffnungen in bestimmten historischen Etappen, die unterlegen sind. Es gibt Hoffnungen in bestimmten sozialen Experimenten, die scheitern mußten im anderen Umfeld, und es gibt schließlich Hoffnungen in vielen menschlichen Gedanken, in denen soziale Formen überlegt worden sind, die das Recht des Einzelnen mit Gesellschaftlichem versucht haben zu verbinden.

Ich merke, wie kraus die Gedanken sind, wie ich tastend von bestimmten, schon klarer gedachten Gedanken weg bin. Ich denke, es hat mit der Situation zu tun, vielleicht übe ich mich ja noch besser ein in diese Art von Ideenproduktion. Soviel für heute.

Zum Problem der Einheit bzw. Vielheit oder die Frage nach der gesellschaftlichen Synthesis

25. Mai 1992: Ich denke, daß das Problem der Einheitlichkeit bzw. der Möglichkeit einer Einheit in der Gesellschaft ein ganz wesentliches ist für die Frage des Sozialismus. Natürlich ist hier ganz viel Aufräumungsarbeit zu leisten. Arbeit, die mit den Ideen der Einheitsstiftung via technischer Rationalität oder auch mit der Idee aufräumt, daß sich das Problem der gesellschaftlichen Einheit gar nicht stellt, weil sie per se dadurch gegeben ist, daß die zu sich selbst gekommene Klasse, das Proletariat kulturell, materiell, interessenmäßig eh vereinheitlicht ist durch den Klassenkampf und den politischen Kampf.

Ich denke beide Versionen, sowohl die ideologische klassenmäßige Version, als auch die technisch evolutionäre Version haben sich historisch überlebt. Sie haben vor allem ihre Fatalität gezeigt in der politischen Praxis der Parteien, die jeweils ihre Legitimation darauf bezogen haben. Angefangen hat das bei der Leninschen Partei, für die einfach das Interesse des Proletariats gegeben war, ganz unabhängig davon, was empirisch existiert hat. Das dauerte an bis zu einer ausgefeilten Konzeption bei Lukács, die im Endeffekt, wie dann sichtbar geworden ist, während des Stalinismus durchgängig den Stalinschen Terror verteidigt hat. Beide Versionen haben dazu geführt, daß das Problem der Einheit theoretisch gar nicht mehr gestellt wurde.

Um die Frage weiter zu präzisieren, ist es wichtig, zu sehen, was ihr Hintergrund ist. Dies ist natürlich die Kritik der kapitalistischen Synthesis, also die Kritik an der Gesellschaft, in der sich Warenbesitzer naturwüchsig auf dem Markt gegenübertreten unabhängig davon, ob sie Besitzer der Arbeitskraft sind, der Potenzen des eigenen Leibes, oder ob sie Besitzer von Kapital sind, die Produktionsprozesse veranstalten können.

Die Frage ist, welche Alternativen es geben kann zu so einem wildwüchsigen, losgelassenen, gesellschaftlichen Naturprozeß, in der sich das Kapital als Organum der Synthesis immer wieder reproduziert und produziert, in dem das Kapital sich durchsetzt als quasi automatisches Subjekt, als nicht gewußtes, nicht bewußtes und vor allem als nicht von den Produzenten und den Unterworfenen bestimmtes Subjekt.

Gibt es überhaupt eine sinnvolle Idee davon, daß das, was Kapitalismus ausmacht, nämlich das jeweilige sich wildwüchsige Herstellen von profitablen Beziehungen, von sich durchsetzenden Ware-Geld-Beziehungen, von konkurrenzfähigen Produktionen im Unterschied zu anderen, die immer wieder zerstört und in Krisenprozessen entwertet werden, ersetzt werden kann durch so etwas wie eine planvollere Möglichkeit der Allokation von Ressourcen, ohne daß eine normierende Planung von Bedürfnissen, eine normierende Planung von Produktion, eine normierende Planung von Konsum und moralischen Bewertungen erfolgt?

Pluralität der Synthesisweisen

Sinnvoll scheint es mir, die seit einigen Jahren vor allem von Gorz verfolgte Richtung, weiter zu denken. Das heißt, sich Vorstellungen zu machen von verschiedenen Synthesisweisen nebeneinander: daß es so etwas geben könnte, wie eine relativ planbare Produktion von Nicht-Fertigprodukten oder auch von Investitionsprodukten, für die wohl eine gesellschaftliche Bedarfsermittlung, Bedarfsdiskussion stattfinden müßte. Es stellt sich hierzu die ganze Frage des Politischen, der entsprechenden politischen Organe, das heißt, daß es neben dieser relativ geplanten Grundstoff- und Investitionsgüter oder Nicht-Fertigprodukt-Produktionverschiedene andere Sphären gibt. Meine Idee in meinem Artikel "Was ist links?" war ja, sich vorzustellen, daß es so etwas wie einen "intermediären Bereich" geben könnte, in dem regionale Produzentengruppen, regionale Akteure definieren, was in bestimmten Zeiträumen in bestimmten Bereichen für bestimmte Sphären sinnvoll ist, natürlich mit den entsprechenden Korrekturmöglichkeiten und den entsprechenden Auflagen.

Eine weitere Frage ist, ob in einer dritten Sphäre die klassisch kapitalistische Ware-Geld-Beziehung beibehalten werden müßte, um die Wertschätzung von Produkten, von Arbeit aufrechtzuerhalten. Es scheint ja eine historische Erfahrung des Realsozialismus zu sein, daß Dinge wie z.B. subventionierte Lebensmittel, billigerer öffentlicher Nahverkehr, also de facto kollektiver Konsum in den Augen der Produzentinnen nichts wert sind.

Vielleicht muß doch für eine lange Übergangsphase damit gerechnet werden, daß die - sagen wir mal - fetischmäßige Bewertung von Arbeit, von Geld, von Wert insofern beibehalten werden muß, daß kein öffentlicher Vandalismus oder keine Geringschätzung stattfinden. Wahrscheinlich ist es wichtig, daß hier entsprechende Zugangsmöglichkeiten für bestimmte gesellschaftlich benachteiligte Gruppen geschaffen werden, für die diese Ware-Geld-Beziehungen durch Subventionen oder ähnliches entproblematisiert werden.

Natürlich wird es einen vierten Sektor geben, den des kollektiven Konsums, der öffentlichen Zurverfügungstellung von Gütern zu eher symbolischen Preisen. Langfristig muß dazu vor allem das Gut Wohnen zählen.

Der wichtigste Gedanke in solchen Überlegungen ist der, Abschied zu nehmen von der Idee einer monozentrischen Gesellschaft, einer Gesellschaft, in der es möglich wäre durch einen Planungsprozeß, in dem sich letztlich ein harmonisches Subjekt herausbildet, Gesellschaft und gesellschaftlichen Konsum und Produktion zu steuern. Das, denke ich, ist einfach eine wahnwitzige Idee, die immer wieder zu erziehungsdiktatorischen - oder noch schlimmer - diktatorischen Konsequenzen führen wird oder in absolute technokratische Telekommunikationsutopien einmündet.

Es ist eben kein Problem von Information, des nur Zusammenbringens von abrufbaren Bedürfnissen, sondern es besteht die Gefahr, daß in solchen Prozessen minderheitliche Meinungen, andere normative kulturelle Einschätzungen, gesellschaftliche Differenzen wie die Geschlechterdifferenz, die Differenz der Generationen überfahren werden und sich letztlich Bedürfnisse durchsetzen, die nach der klassischen Logik definierte Bedürfnisse sind, gemäß von vorhandenen technischen Mitteln unproblematische, unproblematisch realisierbare Bedürfnisse. Es ist höchst wahrscheinlich, daß sie sich durchsetzen zu Lasten der unausgegorenen, nicht ganz formulierbaren und auch erst experimentelleren, vorsichtigeren Bedürfnisse.

Zum Diskursproblem

Natürlich ist damit die Frage noch nicht beantwortet, wie die Diskursformen, Konsensusbildungsformen eigentlich genau aussehen sollen, in denen jetzt, reduziert auf einen von verschiedenen Sektoren, so etwas wie Planung, Abstufung von Bedürfnissen stattfinden soll. In dem Zusammenhang stellt sich das bei Habermas aufgeworfene Problem, wie Diskurse funktionieren. Ich denke mittlerweile, daß die Position von Habermas insofern an diesem Punkt richtig ist, daß man in Diskursen, schon aufgrund der Eigenschaft der Sprache, unterstellen muß, daß so etwas wie Geltung und Gültigkeit, so etwas wie die Möglichkeit bzw. die Ermöglichung von Einigung, na ich würde nicht sagen, garantiert ist, aber doch enthalten ist in den Grundstrukturen von sprachlichen Übereinkünften.

Habermas blendet allerdings zwei kritische Fragen aus. Erstens: Wer ist kompetenter Sprecher? Da denke ich, daß Habermas' Beschreibungen der kompetenten Sprecher letztlich doch eine Menge ausgrenzender Kriterien beinhalten. Wenn Habermas die Vernünftigkeit reklamiert, befindet er sich damit in der Tradition der aufklärerischen Vernünftigkeit, also der Vernünftigkeit bei Kant in der Gegenübersetzung zweier Kategorien: des geordneten Denkvermögens und der chaotischen Welt. Es ist die Vernünftigkeit des Odysseus, der sich an den Mast fesseln läßt, um die Lockerungen der Sirenen ertragen zu können. Es ist damit der Wahnsinn ausgeklammert, dessen lange Geschichte der gesellschaftlichen Abdrängung Foucault ja beschrieben hat. Das muß sicher noch eingeholt werden in die Idee vom Diskurs. Die unvernünftigen Sprecher - und ich denke, kollektive Sprecher neigen dazu, unvernünftig zu sein -, müssen sicher noch hereingeholt werden in die Idee vom Diskurs. Eine andere Geltung käme dann dem zu, was z.B. der Frauenbewegung immer vorgeworfen worden ist: sie würde nur kurzfristig ihre separatistischen Interessen sehen, sie würde die Männer hassen, ihr wäre der Bauchnabel näher als sonst etwas.

Was in kollektiven Verständigungsprozessen an Unvernunft auftritt, Unvernunft im Sinne einer Separation, eines Zurückstellens von universalistischen Gesichtspunkten, das muß als Teil des Diskurses Anerkennung finden. Diese "Unvernunft" von kollektiven Prozessen muß sich darin repräsentieren, selbst wenn sie sich nur im Sinn des Einhaltgebietens, des Moratorien-Forderns und Moratorien-Mitbestimmens repräsentiert. Die große Frage, denke ich, ist, wie eine Position geltend gemacht werden kann, die nicht sagen kann, das und das ist wichtig, das andere ist unwichtig, sondern die erst mal sagen kann, es gibt einen Verdacht, es gibt ein Mißtrauen gegenüber ganz vielen scheinbar vernünftig logischen Möglichkeiten, und es ist wichtig, einfach Freiräume zu schaffen für andere Möglichkeiten. Es ist wichtig, bestimmte Prozesse der Schließung zu stoppen und Optionen offenzuhalten für Prozesse, die im Zick-Zack verlaufen. Das ist das eine Problem.

Das andere Problem ist das der Natur. Habermas problematisiert ja die Frage des Naturverhältnisses grundsätzlich in seinen Theorien, indem er schon im Text "Arbeit und Interaktion" zurückgreift auf die an Gehlen gewonnene Kategorie von Arbeit, die das Naturverhältnis sehr stark aufteilt in instrumenteil entproblematisierte Zugriffe und in das Problem der Herrschaft, der Interaktion, der Kooperationsbeziehungen. Er trennt beides systematisch und kann es eigentlich nur noch sehr lose systemtheoretisch oder diskurstheoretisch zusammenbringen.

Diese Frage, wie Natur präsent sein kann im Diskurs, ist ja diskutiert worden. Es gibt die Idee von advokatorischen Stellvertretungen. Es gibt Ideen, prinzipiell bestimmte Reglements zu erlassen. Es gibt die Idee, Moratorien für nicht kalkulierbare, nicht prognostizierbare Eingriffe in die Naturzusammenhänge zu erlassen oder sich darauf zu einigen. Und auf der anderen Seiten gibt es ja die Ideen, für technische Prozesse bestimmte Maßgaben im Sinne von sanfter Technologie sich vorzustellen, und in Kategorien wie z.B. "verminderte Eingriffstiefe", wie sie Armin von Gleich in diversen Aufsätzen und Arbeiten (8) entwickelt hat, zu denken.

Ein drittes Problem des Diskurses ist das des Universalismus. Damit ist gemeint, daß wir uns im Gefolge der Aufklärung bewegen, in Ideen von Gesellschaft, in Ideen von Individualität und Vergesellschaftung, die höchst spezifische Ideen sind. Sie gehen von einem in sich entzweiten, bürgerlichen Individuum aus. Aus der feministischen Kritik ist ja klar geworden, was es z.B. innergesellschaftlich bedeutet, welche Unterstellungen damit verbunden sind, (wenn das bürgerliche Subjekt stets aus der männlichen Perspektive gedacht wird). (9)

Besonders brisant wird diese Frage der universalistischen Voraussetzungen im Zusammenhang mit anderen Kulturen und anderen normativen Voraussetzungen. Was gegenwärtig in der ganzen Frage der Fremdenfeindlichkeit, der Angst vor dem Fremden, der Gegenüberstellung von Fremdem und Eigenem grassiert und explodiert, ist ja die ganz prinzipielle Frage, die die Postmoderne aufgeworfen hat: Wie verhalten sich bestimmte Ideen von Einigung und bestimmte Ideen von Übereinkunft von Individuen, die ja höchst voraussetzungsvoll sind, gegenüber dem, was Individualität heißt, und dem, was in der Gesellschaft die spezifische Balance zwischen Nähe und Distanz, zwischen aushaltbarer Vergesellschaftung und individueller Abgrenzung bedeutet?

Diese Frage ist unbeantwortet unter der Voraussetzung, daß verschiedene Kulturen miteinander egalitär in Berührung kommen, so daß nicht eine Kultur kolonialistisch die andere Kultur beherrscht. Ich kann mir nur vorstellen, daß in diesem Diskurs ähnlich vorgegangen werden müßte wie bei der Frage der Unabsehbarkeit von Eingriffen oder bei der Frage von im Habermasschen Sinne Nicht-kompetenten-Sprechern. Der stumme Sprecher, z.B. die stumme Sprecherin, in Form einer verschleierten Frau, müßte so im Diskurs präsent sein, daß es nicht nur darum geht, zu überlegen, wie es ertragbar ist, daß diese Frau ihren Schleier trägt, sondern auch darum, wie eine Gesellschaft beschaffen sein muß, die den Schleier nicht zum Konflikt machen muß. Dieses Ertragen-Können muß möglich sein, das heißt, daß der Schleier seinen signifikanten Platz in der Gesellschaft haben kann, ohne daß es zu permanenten Macht- und Eroberungskämpfen an solchen Signifikanten kommen muß.

Zur Frage der gesellschaftlichen Teilhabe

Natürlich ist die ganze Frage von Diskurs, Konsens und gesellschaftlicher Synthesis damit noch lange nicht beantwortet. Mir schwebt vor, Antworten radikal in Richtung der Fragen der Teilhabe weiterzudenken. Wenn es so ist, daß langfristig eine befreite Gesellschaft auch aus der Koexistenz von verschiedenen Sphären bestehen wird - und es wird Unterschiede in Dominanz und Gewichtigkeit geben -, dann stellt sich die Frage, wie Individuen und Akteure in weniger dominanten Sphären auf jeden Fall so etwas wie Teilhaberechte und Chancen haben können, in die dominanteren konzentrischen Kreise vorzudringen.

Ich denke, daß es hier ganz wichtig ist, die Debatte um die Frage des garantierten Mindesteinkommens weiter zu denken, als aktuelles politisches Projekt, gerade in Zeiten eines siegreichen Weltkapitalismus, der innergesellschaftlich vermehrt so etwas wie Vorhöfe, Vorhöllen und ausgegrenzte Randbereiche produzieren wird. Dies ist politisch aktuell wichtig, aber auch langfristig wird die Frage von Teilhabe, von Garantien, von Rechten, von sozialen Garantien, eine ganz relevante sein. Ich denke damit nicht nur an ein garantiertes Mindesteinkommen im Sinne von einem garantierten Existenzminimum gegen die Erpreßbarkeit von Subjekten für nicht-aushaltbare Arbeitsprozesse. Ich denke auch an Teilhaberechte in Bereichen von Gesundheit, Kultur, Verkehr und Wohnen.

Die Gorz'sche Idee, Lebensarbeitszeiten in gesellschaftlicher Übereinkunft zu definieren, ist nach wie vor diejenige, die am weitesten trägt. Es ist mittelfristig nicht vorstellbar, daß sich die Frage der Teilnahme an der Gesellschaft, der Erarbeitung von Teilhabe und des Erwerbs des Bürgerrechts im Sinne von Selbststeuerung und Selbstregulierung lösen wird. Die kulturelle Prägung von zweitausend Jahren Abendland, die einen bestimmten Pflicht- und Leistungscharakter hervorgebracht hat, wird sich so schnell nicht erledigen. Von daher geht es darum, möglichst disponible, möglichst verfügbare gesellschaftliche Teilnahme- oder Bürgerpflichten zu konstruieren. (10)

Es stellt sich hier zunehmend das gleiche Problem, das sich jetzt schon im Zusammenhang mit der Flexibilisierungs- und Deregulierungsdebatte stellt: Wie ist es möglich, daß Individuen für sich, gemäß ihren eigenen Lebensentwürfen und Lebenszyklen definieren, wie weit sie sich vergesellschaften wollen, in welchen persönlichen und lebensgeschichtlichen Phasen sie an gesellschaftlich organisierten Produktions- und Reproduktionsprozessen teilhaben, teilnehmen wollen, und in welchen Phasen sie am Rande oder außerhalb der Gesellschaft mehr ein ästhetisches, nicht-gesellschaftliches oder eben nur über andere gesellschaftliche Zusammenhänge gestiftetes Leben führen wollen?

Wie ist es möglich, daß sich eine hohe Individualität, Optionalität wie man soziologisch modisch sagt, verbinden läßt mit sozialen, gesellschaftlich lebbaren Formen? Es gibt in jeder Gesellschaft ein Minimum an gesellschaftlichem Gleichtakt, kollektive Zeiten, kollektive Bedeutungsmuster und unbefragtes Zurückgreifen-Können auf bestimmte Anfänge und Abschlüsse. Dabei geht es um den Tageslauf, um die Frage von Feiertagen, um die Rhythmisierung von Leben, also um den Wechsel zwischen Pflicht und Fest. Ich denke, da wird es für jede Gesellschaft wichtig sein, ein Minimum an Kollektivität und an selbstverständlichen kulturellen Mustern, also an gleichen Bedeutungen zu produzieren und zu reproduzieren.

Der Sozialismus und das Projekt der Aufhebung der Entfremdung

Die Idee der Aufhebung der Entfremdung ist eine Idee, die in der deutschen Philosophie - ich kenne darauf bezogen nur diese -, seit sicher dreihundert, vierhundert Jahren entstanden und diskutiert ist. Ich denke, man kann die Entfremdungskategorie bis lange vor Hegel zurückverfolgen. Sowohl in der Hegelschen Version, als auch in den Nach-Hegelschen Versionen spielt dann der Entfremdungsbegriff als eine erste Kategorie der Kritik an der Moderne eine große Rolle.

Vor allem in der Frühromantik ist klar, daß Entfremdung, die Beschreibung von Individuen als entfremdete, das Medium ist, in dem sich die Kritik an der entzweiten modernen Gesellschaft reflektiert, daß die Gesellschaft zerbrochen ist gegenüber der kosmologischen, feudalen, harmonischen Ordnung. Je nachdem ist Herrschaft betont worden oder nicht, ist Herrschaft romantisch verklärt worden und ist Gesellschaft beschrieben worden unter dem Zielpunkt des Verlustes dieser Einheit. Die Individuen sind sozusagen auf sich selbst zurückgeworfen im Heideggerschen Sinn, in die Kälte geworfen; und daraus entstehen dann die ganzen Dualismen der Gegenüberstellung von kalter sachlicher Gesellschaft und warmer Gemeinschaft, warmer Familie. Es entstehen die historisch periodisierten Gegenüberstellungen: Da war früher einmal die gute alte Zeit der Fürsorge, der Ordnung, des Herrn im Hause, des guten feudalen Systems und heute ist nur noch die kalte, eigensüchtige Konkurrenzgesellschaft übrig.

Schon aus diesen Gegenüberstellungen ist klar, wie sehr der Entfremdungsbegriff zumindest die Neigung hat im Projekt der Aufhebung von Entfremdung so etwas wie eine Wiederherstellung des guten Alten einzugehen.

Ich denke, es gibt diesen konservativen Grundzug, selbst wenn er, so wie es bei Hegel und erst recht bei Marx theoretisiert ist, nicht immer gewollt ist. Es gibt ihn schon deshalb, weil, wie Thompson in seinen wichtigen Werken herausgearbeitet hat, in der Empirie von Klassenkämpfen der Gestus oder die Intention der Wiederherstellung des guten Alten, also der moralischen Ökonomie ein ganz wichtiges Movens war, um überhaupt gesellschaftliche Kräfte und die Komposition des Proletariats voranzubringen.

Die kritische Frage ist nun die, ob eigentlich dieses Projekt der Aufhebung der Entfremdung bei Hegel über die Frühromantik, über Marx prinzipiell, wie es in Marxschen und Nach-Marxschen Theorien den Anschein hat, dazu führen muß, daß bestimmte Ideen von Planbarkeit und letztlich doch repressiver Vereinheitlichung nahegelegt werden. Ob also der Entfremdungsbegriff letztlich dazu tendiert, sich unentfremdete, nichtentfremdete gesellschaftliche und individuelle Verhältnisse doch entweder technokratisch oder erziehungsdiktatorisch vorzustellen. Die Frage einmal anders gewendet: Liefert der Entfremdungsbegriff so etwas wie eine Immunisierungsstrategie gegenüber repressiven Wiedervereinheitlichungen und ihrer Legitimation gegenüber der kapitalistischen Entfremdung?

Hier muß natürlich Marx genauer angeguckt werden. Wie sehr ist der Marxsche Entfremdungsbegriff wirklich gebunden an, sagen wir mal, den Feuerbachschen - an die Feuerbachsche Anthropologie des tätigen, allseits entfalteten, na ja so ein bißchen pausbäckigen, naturapostelmäßigen Menschen - oder inwieweit ist die Marxsche Kategorie doch nur eine sehr relative Kategorie! Ist sie, ähnlich wie Marcuse es versucht hat zu sagen, eine Kategorie, die nur die Relation herstellt zwischen dem, was auf einem bestimmten historischen Stand - eben man muß es erweitern: nicht nur technischem Stand, sondern kulturell gesellschaftlichem Stand - möglich ist an Entfaltung, Reichtum, Toleranz, Vielheit und herrschaftlicher Realität.

Ich bin mir nicht sicher, ob der Marxsche Begriff der Entfremdung sich wirklich auflösen läßt, in relationale Konstruktionen oder ob nicht im Marxschen Entfremdungsbegriff, wie er dann weiter tradiert worden ist, eben doch eine Idee von gesellschaftlicher Einheitlichkeit und Allzuständigkeit von Menschen drinsteckt, die letztlich doch entweder konservative oder repressive politische Aussagen zuläßt.

Zu den Leistungen der Moderne

Schließlich ist die Frage, ob die Entfremdungskategorie nicht doch die Tendenz hat, das Differente, was Moderne ausmacht, auch produktiv ausmacht, trotz aller Herrschaftlichkeit und falschen Hervorbringungen des männlichen Sozialcharakters à la Odysseus, wieder zwanghaft zusammenzubringen. Es ist eine produktive Leistung der Moderne, daß es verschiedene gesellschaftliche Orte gibt und verschiedene gesellschaftliche kulturelle Räume: Arbeit und NichtArbeit, materielles Interesse und interesseloses Wohlgefallen. Es ist eine Leistung der Moderne, daß es hier bei aller Schwierigkeit und Ideologiehaftigkeit in dieser Gesellschaft zumindest eine Differenz gibt. Wobei ich hier nicht an die Webersche Idee von gegeneinander selbständigen gesellschaftlichen Sphären denke oder an die systemtheoretischen Vorstellungen von Subsystemen, die "irgendwie" miteinander in Beziehung kommen.

Ist es nicht doch eine unhintergehbare Leistung der Moderne, in den Individuen, zuerst bei den Privilegierten, die Sinnfrage erzeugt zu haben, das Bewußtsein dafür, daß es verschiedene gesellschaftliche Bedeutungen und verschiedene Signifikantenfelder gibt, die ihr Eigenrecht und ihre Selbständigkeit gegeneinander haben? Am Begriff des Eigensinns kann gezeigt werden, daß die Moderne es erstmals ermöglicht hat, wahrscheinlich im Unterschied zu fundamentalistischen Wahrnehmungen gesellschaftlicher Kulturen, daß Eigensinnigkeit, Eigenlogiken eben nicht nur im horizontalen Sinn, also von verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren gegeneinander, sondern auch im vertikalen Sinn, innerhalb des Lebenszyklus, innerhalb der Subjekte selbst gegeneinander ein bestimmtes Eigenrecht haben und nicht immer wieder subsumiert werden müssen entweder einer absolut siegreichen Zweckmäßigkeit oder einer tendenziell religiös-fanatischen Synthesis im Sinne des Opfers oder des gottgefälligen Werks.

Was als Pathologie der Moderne beschrieben werden kann, ist auf der anderen Seite der Erfolg oder die Errungenschaft der Moderne, nämlich daß unterschieden werden kann zwischen verschiedenen Tätigkeiten und verschiedenen Qualitäten. Von daher ist es wahrscheinlich sinnvoll, mit dem Begriff der Entfremdung vorsichtiger umzugehen, also nicht zu suggerieren, es gäbe so etwas wie eine unentfremdete, wiederversöhnte Gesellschaft. Ich denke, daß tendenziell die christliche Idee der Versöhnung und der Harmonie in diesem Entfremdungsbegriff enthalten ist. Meines Erachtens ist der Entfremdungsbegriff in Marcuses Fassung wichtig zu nehmen, da er die auf bestimmten historischen Leveln mögliche Befreiung, den möglichen Reichtum und auch die mögliche Freigesetztheit von Natur und Herrschaftszwängen einklagt, ohne gleichzeitig die Idee der Wiederversöhnung, der Wiedervereinigung des Entzweiten zu stiften.

Eine andere Frage ist, inwieweit die Entfremdungskategorie auf ökologische Zusammenhänge angewandt werden kann und sollte. Ich denke schon, daß es einen Sinn macht, Entfremdung bezogen auf Naturverhältnisse, auch im Sinne eines ästhetischen Naturverhältnisses anzuwenden. Menschen, die nur noch in künstlichen und durch technische Artefakte gestifteten Welten leben, sind mir nach wie vor und zunehmend eine Greuelvorstellung. Ich denke, es bedarf eines Mindestmaßes an Verbindung zu den Zyklen von Körpern und Natur. Es bedarf eines Mindestmaßes an Berührungsfähigkeit des Leibes mit den natürlichen Elementen und Hervorbringungen der Natur. Insofern ist die Entfremdungskategorie unter ökologischen Gesichtspunkten durchaus aktuell. Aber sie muß vorsichtig gehandhabt werden, wenn mit ihr eine gesellschaftliche Utopie entworfen wird, die gegen die manchmal ja schwer aushaltbaren Entzweiungen der Moderne gesetzt werden kann.

Vereinfachung und Vermittlung

Ich denke, es ist eine unhintergehbare Position des Sozialismus in der Aufklärung, daß die herrschaftlich verknüpfte Einheit der frühen Kosmologien oder feudalen Ordines unwiederbringlich zerstört ist, daß Individuen freigesetzt sind von ihren biologischen, ihren verwandschaftlichen Pflichten und Beziehungen, daß Individuen über ihren eigenen Lebenszyklus verfügen können. Zugleich wird dies von den Individuen immer wieder als Last empfunden und bringt regressive Bedürfnisse hervor, diese entzweiende Moderne abgenommen zu bekommen durch technische Gestelle, soziale Bewegungen oder autoritäre Mobilisierungen. Das ist wahrscheinlich der zu zahlende Preis der Moderne, daß solche regressiven Bewegungen immer wieder naheliegen, also auch die modernen ganzheitlichen religiösen Strömungen. Aber es muß eben darauf vertraut werden, daß die Gesellschaft soviel an Durchmischung und Korrektur bietet, daß diese Regressionstendenzen nicht überhandnehmen.

Das Menetekel Auschwitz in unserer Geschichte kann einen skeptisch machen, ob nicht gesellschaftliche Katastrophen wie Auschwitz eben doch fast verschwistert sind mit dieser Entzweiung der Moderne. Trotzdem ist für mich umgekehrt nicht daraus abzuleiten, daß so etwas wie Gemeinschaft aus anthropologischer Zwangsläufigkeit entstehen muß und letztlich autoritäre Kategorien wie z.B. die Gehlensche Institutionenlehre und überhaupt autoritäre gesellschaftliche Antworten legitimiert werden.

Theoretisch ist es wahrscheinlich doch wichtig, gegen die Theoriegeschichte der Entfremdung den Begriff der Verdinglichung, der Verkehrung ernst zu nehmen. Ich denke durchaus, daß hier nach wie vor die Lukácsschen Leistungen in "Geschichte und Klassenbewußtsein" ein unhintergehbarer Horizont des Denkens sind. Der Begriff der Verdinglichung, also des Setzens von Warenbeziehungen anstelle von sozialen Beziehungen, der Begriff des Warenfetischs, ganz orthodox nach Marx, die Herrschaft der losgelassenen Dinge über menschliche Beziehungen, diese Folie der Kritik wird ihre Produktivität erhalten, solange der Kapitalismus herrscht.

Trotzdem wird jede sozialistische Bewegung oder jede reale gesellschaftliche Bewegung nicht umhin kommen, anzuerkennen, daß sie als Triebkraft die Sehnsucht nach der Vereinfachung, nach elementaren und einfachen menschlichen Beziehungen, die weniger versachlicht und entfremdet sind und weniger vermittelt sind, in sich trägt. Es ist vielleicht sogar ein Hauptproblem, daß über die Hegeische Kategorie der Vermittlung nachgedacht werden muß.

Welche Gesellschaft, welche Komplexität der verschiedenen Vermittlungen ertragen Menschen eigentlich langfristig? Ist es für Menschen wirklich aushaltbar, daß Gesellschaft - auch wenn es eine demokratische Gesellschaft ist -, dermaßen hoch vermittelt ist? Sehr komplexe, komplizierte, zeitlich strukturierte Diskursprozesse, über einen Prozeß von Vermittlungen, in dem so etwas wie unmittelbare gesellschaftliche Kommunikation und die klare Einheit von Entscheidungen und Handlungen zerstört und nicht möglich ist?

Wahrscheinlich wird sich ein Sozialismus so etwas wie eine Regel geben müssen, neben den verschiedenen, nebeneinander existierenden hoch vermittelten Sphären, Sphären der möglichst wenig vermittelten Vermitteltheit zuzulassen.

Ich denke wieder vor allem an die ästhetischen und im Gorzschen Sinne Entproduktions-Sphären, in denen es möglich sein kann, Spontanität und unreglementierte Kollektivität zuzulassen.

Es ist die Frage, ob eine solche Regelung ausreicht oder ob nicht doch in der Gesellschaft so etwas wie halbregressive Tendenzen, also kleine Kulturrevolutionen, Märsche auf die Hauptquartiere, destruktive Prozesse des Zerschlagens und Neuschaffens von egalitär-kollektiven kulturellen oder auch materiellen Produktionen unumgänglich sind. Es ist die Frage, ob es nicht einfach selbstverständlich ist, daß eine Gesellschaft es ertragen muß, daß immer wieder Durchbrüche der Nichtvermittlung, des Nichtvermittelten erfolgen. Es käme dann darauf an, daß sich dem gegenüber so etwas wie eine gesamtgesellschaftliche Vernunft und ein Moratoriumsdenken behaupten können müssen, die solche Bewegungen des Nichtvermittelten beschränken, damit sie nicht wie ein Sturmwind über die Gesellschaft wehen und ihrerseits Rechte, Balancen und Eigenlogiken destruieren und neue hervorbringen.

Zum Schluß ein zusammenfassender Ausblick auf zwei Gedanken, über die es sich lohnen würde, intensiver zu arbeiten

1. Der Sozialismus als Projekt der Überbietung der Aufklärung:

5. Juni 1992: Wie schon in ein paar Bemerkungen ausgeführt, finde ich im Augenblick den interessantesten Gedanken, den Zusammenhang zwischen den Gedanken der Aufklärung und den sozialistischen Ideen in ihrer ganzen Vielheit genauer zu betrachten. Das bedeutet, die doch sehr gekünstelte und sehr mechanische Aufspaltung aus der Geschichte des Sozialismus, der sozialistischen Philosophie, zu revidieren, die gemeint hat, man könnte immer schön zwischen einer Strömung des Idealismus und einer Strömung des Materialismus unterscheiden, die, also Hegel gegen Feuerbach gestellt hat, wobei die verschiedenen idealistischen Traditionen letztlich doch als verkehrte Bilder von Realität klassifiziert wurden. Das geht bis hin zu Bloch, der diese Scheidung zurückverfolgt bis in die griechische Philosophie.

Ich halte es für wichtig, zu sehen, daß die Aufklärung die Position der Moderne definiert: Die Einheit ist zerbrochen. Die Individuen sind herausgeschleudert aus den kosmologischen, verwandschaftlichen und feudalen Zusammenhängen. Die Gesellschaft ist entzweit. Der moderne Mensch ist ein entzweiter Mensch, einer, der auf sich selbst gestellt ist im metaphysischen wie im sozialen, gesellschaftlichen Sinn und der an dieser Entzweiung leidet. Die ganze Geschichte des bürgerlichen Denkens kann verstanden werden als Geschichte des Leidens unter der Entzweiung.

Der Sozialismus muß sehr viel stärker gedacht werden in der Tradition der Versuche, die Entzweiung zu überwinden. Es ist aufzunehmen, was bei Hölderlin als Leiden, als Versagen an den revolutionären Projekten ausgesprochen ist: daß die Individuen ihr Ganzes, so etwas wie Gemeinschaft verloren haben; Hölderlin sehnt sich in Bildern der griechischen Gemeinschaft zurück, nach einer Wiederherstellung von Gemeinschaftlichkeit, die jedoch durchaus riskante, nationalistische; heute würden wir vielleicht sagen, männerbündisch-faschistische Untertöne enthält.

Die Positionen der Aufklärung werden am deutlichsten dargestellt z.B. bei Büchner in der Rede des Christus vom toten Weltgebäude, daß kein Gott sei. Die Welt ist tot, sie stiftet keinen lebendigen Zusammenhang mehr zwischen den Individuen. Das Projekt des Sozialismus ist nun eines, das einerseits Aufklärung überbietet in der Beschreibung der Zerrissenheit der modernen Gesellschaft. Sie wird gesteigert beschrieben mit den Begriffen der Entfremdung, mit den ökonomischen Mechanismen der Herrschaft des Wertes, also der Dinge über den Menschen, mit der Entzweiung der Menschen durch den Wert, durch die Ware, die zwischen sie tritt. Was andererseits der Sozialismus dann bedeutet, wäre eine Wiederherstellung von Gemeinschaft gegen die Zerreißung in der bürgerlichen Welt.

Insofern kommen wir zu Positionen, die die sozialistischen Gedanken der Wiederherstellung oder der Herstellung von Gemeinschaft und Gesellschaft in eine sehr viel größere Nähe zu ganz verschiedenen kulturellen Strömungen bringen. Ich denke z.B. an den Surrealismus, der in der Beschreibung des Anderen letztlich versucht, Gesellschaftlichkeit wiederherzustellen; indem verwiesen wird auf ein gemeinsames Unbewußtes, das sich in Bildern, Schriften, im automatischen Schreiben äußert,gibt es wieder so etwas wie einen Zusammenhang, vor dem die Menschen gleich sein können.

Das Problem des Sozialismus ist, daß sich sein Projekt der Überbietung der Aufklärung und der Rücknahme oder der Aufhebung der Entfremdung und Aufhebung der Zerrissenheit mit zwei speziellen Projekten verschwistert: Es ist einmal das Projekt der technischen Rationalität, also die Idee, Gesellschaft könne gestiftet werden über die Logik von Sachen, die Logik der technischen Entwicklung. Damit ist in der Geschichte verbunden, daß die Produktivkräfte den Weg weisen und es eigentlich überhaupt keine gesellschaftliche Konfliktoder Einigungsnotwendigkeit geben muß, weil die technische Optimierung die technische Rationalität für sich schon dieser Weg ist.

Damit ist ebenfalls verbunden die Umwandlung der Gesellschaft in ein Arbeitsgrab, also in eine arbeitsteilige Maschinerie zur Vollstreckung der Logik der Produktivkräfte, die das Problem der Entzweiung, der Individualität, der Entfremdung lösen, einfach abschaffen soll, indem Menschen zu funktionalen Ausführungen einer für sich harmonisch gedachten Fortschrittslogik werden. Es gibt dann kein Problem der Vermittlung des Allgemeinen und Besonderen mehr, wenn über eine technische Rationalität von vornherein Sinn und Harmonie gestiftet wird.

Das zweite problematische Projekt, mit dem sich der Sozialismus verschwistert hat, ist das der Abschaffung des Politischen. Wenn Gesellschaft als entzweite gedacht ist oder wie bei Hegel eben die Gesellschaft als das Reich der niedrigen Interessen einer Sphäre der Sittlichkeit entgegengestellt wird, die über den Staat gestiftet wird, dann stellt sich die Frage, wie in der politischen Sphäre Versöhnung stattfinden kann. Das Problem ist, daß Versöhnung in dieser Tradition gedacht wird letztlich als Vollstreckung eines ideologisch geschichtsphilosophisch abgesicherten Willens, der sich durchsetzt über die Partei, über die Einsichten der marxistischen Intelligenz bis hin zur terroristischen Politik in der Stalinschen Zeit. Im Prinzip ist es so, daß Gesellschaft gedacht wird als ein Raum von geordneten Individuen, die im Sinn der ideologisch abgesicherten Zukunft nur noch sich unterordnen müssen. Es gibt überhaupt kein Problem der Einigung und der Differenzen oder gar der unlösbaren Konflikte, sondern wenn der verheißene harmonische Endzustand Kommunismus erreicht ist, in dem technischer Sachzwang und gesellschaftliche Egalität zusammenkommen, gibt es überhaupt kein Problem der Gesellschaft im strengen Sinne mehr, geschweige denn eines der Politik.

Politik im Sinn von Konkurrenzen, Kompromissen, begrenzten Lösungen, auch Moratorien zur Verschiebung von Lösungen ist dann eigentlich nicht mehr zu denken, wenn es so ist, daß über Gesetze und über Ideologien klar ist, wie eine Gesellschaft, wie ihre Reproduktion und Produktion aussehen soll, und die Individuen sich eigentlich verwandeln einerseits in Objekte der Arbeitsmaschinerie, andererseits in Bedürfnissubjekte, bei denen das Allgemeine und das Besondere in jedem Individuum zusammenfällt. Das heißt, daß sowohl die Grundbedürfnisse als auch der Altruismus in einem festen Gleichgewicht herrschen und damit prinzipiell keine Konflikte mehr in den Individuen und in der Gesellschaft vorhanden sein sollen.

Es wäre dann so etwas wie neue Gleichheit und neue Gemeinschaftlichkeit gestiftet, in der nur noch ein harmonischer Zustand eigentlich nicht mehr des gesellschaftlichen Lebens, sondern nur noch des sich versteigenden, fast tierhaften Reproduzierens gedacht werden kann.

2. Die Frage der Einheit eines gesellschaftlichen Projekts Sozialismus

Mir wird immer klarer, wie stabil und wie sehr internalisiert der Gedanke der Ordnung in der sozialistischen und kommunistischen Utopie war. Der Gedanke, daß eine künftige Gesellschaft, die die Entfremdung und die Ausbeutung und die Herrschaft von Sachen über die Menschen abgeschafft hat, bestimmt sein soll durch Prinzipien, die eine metaphysisch verbürgte Ordnung ausdrücken.

Ich denke, jeder nachrealsozialistische Sozialismus wird beherzigen müssen, daß dieser Gedanke der Ordnung abgelegt werden muß. Es ist nachzuweisen, daß in allen Sozialutopien von Thomas Morus bis hin zu Fourier, also von ökonomisch moralischen bis hin zu sexuellen Ideen des Geordnet-Habens der Gesellschaft, dieser Gedanke der geordneten Struktur sich immer wieder durchgesetzt hat. Ich denke, das ist die eigentliche Crux der falschen Utopie, daß von irgendwelchen anthropologischen oder auch ökonomischen Gesetzen, die die Subjekte festschreiben auf irgendwelche Bedürfnisse, ausgegangen wird. Sozialismus bzw. sozialistische Utopie, Sozialutopie scheint darin als ein Gedanke mehr oder weniger sinnreichen Versöhnung dieser verschiedenen Bedürfnisse oder - ökonomisch gesehen - Bedarfe auf.

Ich halte es für den Grundsündenfall des sozialistischen Gedankens, Subjekte festzuschreiben und auf der Basis dieser Festschreibungen eine Idee zu haben, wie sich Bedürfnisse in Einklang bringen und harmonisch miteinander vertragen sollen. Von daher ist es auch kein Wunder, daß Sozialismus immer wieder sich berührt hat mit sehr traditionellen, autoritären Ideen, mit einer sicher historisch mächtigen Ordo in dem Sinn, ähnlich wie Thompson es beschreibt, daß soziale Bewegungen immer davon leben, auf eine verletzte Ordnung zurückzugreifen. Bloß hat sich damit der Sozialismus, der 'reale Sozialismus', immer wieder selbst eingefangen in eine Idee von letztlich terroristisch befriedeter, egalisierter und zugerichteter Gesellschaft, die an militärischen, an arbeitstechnisch-rationalen Ordnungsideen ausgerichtet ist, d.h. also an Ideen des neuen Menschen, der sich selbst als Subjekt geordnet hat.

Sozialismus jenseits der Idee von Ordnung wäre, sich Gesellschaft vorzustellen als offenen Prozeß, in dem es Übereinkünfte gibt über die Chancen der Subjekte, überhaupt gesellschaftliche Subjekte zu sein: über Teilhaben materieller, moralischer, kultureller Art, über Existenzminima, über Recht auf Wohnung, Recht auf die Unverletzlichkeit der Person. Ansonsten bestünde Gesellschaft daraus, Regularien definiert zu haben, in denen sich Gesellschaft bewegt: also entscheidet über Prioritäten, Entscheidungen zurückstellt, die sich nicht entscheiden lassen, verschiedene Entwicklungsmodelle parallel sich vollziehen läßt, um sie immer wieder zu vergleichen, um zu bewerten, um die Rechte von Besonderem gegen die Rechte des Allgemeinen immer wieder und tagtäglich abzuwägen, um möglichst eine Pluralität an Möglichkeiten zuzulassen.

Es wäre eben kein Gedanke mehr der Ordnung, in der alles zusammenstimmt und zur Ruhe kommt, sondern es wäre ein Gedanke von Bewegung, es wäre ein Gedanke von offenem Raum und offener Zeit, in denen sich bestimmte Knoten ereignen, also bestimmte Einigungen, aber auch nur wieder bestimmte Gabelungen, wo sich bestimmte Moratorien ereignen. Bestimmte Fragen werden nicht entschieden, sondern zurückgestellt, Geschichte wird nicht stillgestellt, im Sinn von Vorgriffen und Schließungen, sondern ein hohes Maß an Öffnung der Geschichte, an Öffnung der Möglichkeiten für Individuen wird beibehalten.

Das wäre Sozialismus als ein Projekt der Differenz, anders als eine liberale Idee von endloser Konkurrenz basierend auf einer Idee, daß Individuen instandgesetzt werden müssen, Gesellschaft zu bilden, im empathischen Sinn gesellschaftliche Subjekte zu sein, um überhaupt erst einmal eintreten zu können in den Prozeß der Gesellschaftsbildung jenseits der regressiven Muster des Rückkehrens zu der Ordnung, des Rückkehrens zur Unentfremdetheit und zur Ganzheit. Diese Gesellschaft wird immer wieder unwiderruflich die Position der Aufklärung beinhalten, die Position der Zerissenheit, der freigesetzten Individuen, die aus freien Stücken, in Beachtung der Differenz von Geschlechtern und Generationen, sich in Gesellschaft begeben, Vergesellschaftung verschiedener Reichweiten entwickeln, immer wieder offen sind für Korrekturen und von daher zur Dieseitigkeit vorstoßen, das heißt, sich befreit haben von den Mythen der Erlösung und von den Mythen, Gesellschaft können im Sinn eines Ornamentes gedacht werden.

Niko Diemer war bis zu seinem Tod im September 1992 Mitglied der "Widersprüche"-Redaktion

Anmerkungen

1. Transkript eines Tonbandprotokolls von Niko Diemer vom 24.5.92, 25.5.92 und vom 5.6.92. Zum Zeitpunkt dieser Aufnahme war Niko Diemer an Krebs erkrankt. Er starb am 21.9.1992. Die Überarbeitung des Transkripts wurde von Gerd Klatt, Detlef Marzi, Brigitte Scherer und Wolfgang Völker vorgenommen. Dabei waren wir bestrebt, möglichst wenig Veränderungen des gesprochenen Textes vorzunehmen. Hierzu gehört auch die Entscheidung, die persönlichen Mitteilungen am Anfang beizubehalten, da wir diese für das Verstehen der Gedanken und der theoretischen Ausführungen von Niko Diemer für bedeutsam halten. Die Zwischenüberschriften und sämtliche Fußnoten wurden von uns hinzugefügt.

2. Evangelische Studentengemeinde Bremen

3. Hierbei handelt es sich um ein Seminar des Bildungswerks Umwelt und Kultur, das im Kulturzentrum "Schlachthof" in Bremen stattfand.

4. Erschienen in: Widersprüche. Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich, Heft 37, Dezember 1990, Offenbach/M.

5. Hierbei handelte es sich um eine Forschungsstelle am "Zentrum für Sozialpolitik" der Universität Bremen.

6. Vgl. Bernward VESPER: Die Reise. Berlin und Schlechtenwegen 1977

7. Vgl. Edward P. THOMPSON: The Making of the English Working Class. London 1963

8. Vgl. hierzu Armin von GLEICH: Der wissenschaftliche Umgang mit der Natur. Über die Vielfalt harter und sanfter Naturwissenschaften. Frankfurt/M. 1989

9. Hinzufügung in runder Klammer von uns.

10. Vgl. André GORZ: Zur Kritik der ökonomischen Vernunft. Berlin 1989

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