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Heft 69: Soziale Politiken International

1998 | Inhalt | Editorial | Leseprobe

Titelseite Heft 69
  • September 1998
  • 116 Seiten
  • EUR 11,00 / SFr 19,80
  • ISBN 3-89370-288-1

Zu diesem Heft

Unter den Bedingungen neoliberaler Regulierungsstrategien werden im Spätkapitalismus Homogenisierungsprozesse durchzusetzen gesucht, die der offiziellen Deregulierungspolitik Hohn sprechen. Denn was unter dem offiziellen Namen einer Deregulierungspolitik in der Gestalt unterschiedlicher Sozialer Politiken im Weltmaßstab daherkommt, ist in Wirklichkeit nichts anderes als der Versuch, global gesellschaftliche Verhältnisse durchzusetzen, die einer ungehemmten Marktlogik, also Profitorientierung, und der Verkehrung von Bürgern zu Kunden folgen.

Es geht mithin, wie George Steinmetz in seiner Untersuchung zu "The Welfare State and Local Politics in Imperial Germany" getitelt hat, um eine Regulierung des Sozialen - im Interesse von Herrschaftssicherung im Kontext hegemonialer Auseinandersetzungen. Den Freunden des Marktes geht es dabei bekannterweise heute darum, nach dem Niedergang der totalitären Diktaturen in Mittel- und Osteuropa den Siegeszug des Kapitalismus durch eine Strukturierung gesellschaftlicher Beziehungen zu unterstützen, die den Mitgliedern real existierender kapitalistischer Gesellschaften gar keine gesellschaftliche Entwicklungsperspektive mehr vor Augen zu führen gestattet.

Auf die Tagesordnung treten damit erneut Fragen nach dem Verhältnis zwischen Wohlfahrtsstaat, hegemonial verfaßten gesellschaftlichen Klassenstrukturen und deren Bedeutung bzw. Grenzen für die Reproduktion gesellschaftlicher Ungleichheit wie auch der Bezug auf die Frage nach der politischen, ökonomischen und kulturellen Bedeutung des Wohlfahrtsstaates als "Gesellschaftsersatz", wie André Gorz es genannt hat. Er hat ausgeführt: "Der Wohlfahrtsstaat (...) muß als Gesellschaftsersatz begriffen werden. In Abwesenheit einer zur Selbststeuerung fähigen Gesellschaft hat er während der fünfundzwanzig Jahre des fordistischen Kompromisses das ökonomische Wachstum und das Funktionieren des Marktes gesteuert, die kollektive Aushandlung des (zur 'Sozialpartnerschaft' umgetauften) Klassenkompromisses institutionalisiert und die Entfaltung der ökonomischen Rationalität über die Schranken, die er ihr (gleichzeitig) auferlegte, sozial tolerierbar und materiell tragfähig gemacht. Er war jedoch niemals Produzent von Gesellschaft und konnte dies auch gar nicht sein. Die steuerliche Umverteilung der 'Früchte des Wachstums', die sozialen Vorsorgesysteme gesetzlicher Versicherungspflicht, des Gesundheitsschutzes (usw.) traten recht oder schlecht an die Stelle der aufgelösten sozialen Bindungen, aber sie schufen keine neue gesellschaftliche Solidarität: Die so indirekt und unsichtbar wie möglich vorgenommene Umverteilung oder Umwidmung eines Teils des produzierten Reichtums war Sache des Staates, ohne daß irgendein Band erlebter Solidarität zwischen den Individuen, Schichten oder Klassen geknüpft wurde. Die Bürger waren nicht die handelnden Subjekte des Sozial-Etatismus; sie waren als Anspruchsberechtigte, Beitragspflichtige und Steuerzahler seine Verwaltungsobjekte. Diese Trennung zwischen Wohlfahrtsstaat und Bürgern war unausweichlich, da die Wurzeln des für den marktwirtschaftlichen Kapitalismus charakteristischen Gesellschaftsdefizits intakt geblieben waren. Der Sozial-Etatismus wollte nämlich ausdrücklich ein Modell politischer Steuerung der kapitalistischen Marktwirtschaft sein, deren Substanz er genau so wenig angreifen wie er deren Hegemonie über die gesellschaftlichen Beziehungen beschneiden wollte".

Daraus ergibt sich die Aufgabe, im Rahmen der Analyse wohlfahrtsstaatlicher Regulierungen die Frage nach Genesis und Geltung Sozialer Arbeit zu stellen, um sich darin eingeschlossenen - historisch-gesellschaftlichen wechselnden - Problemstellungen, Problembearbeitungsstrategien und Selbstvergewisserungen zu widmen; dies vor allem dadurch, daß Prozesse der Vergesellschaftung, damit Formen und Gehalte der Gesellschaftlichkeit der Existenz der einzelnen Mitglieder einer bestimmten Gesellschaft entschlüsselt werden. Zu überprüfen ist somit, wie sich Soziale Arbeit in dem hierin mitgesetzten Widerstreit von Gesellschaft und Individuum lokalisiert bzw. inwiefern Soziale Arbeit seit ihren Anfängen - und zumindest über weite Strecken bis heute - in ihrem Bezug auf gesellschaftliche Normalität sich als gesellschafts- bzw. sozialpolitisch instrumentalisiert und funktional erweist. Dieser Bezug auf Normalität ist der Perspektive gesellschaftlicher Existenz von Beginn der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft an inhärent, vermag er doch den Schein von Allgemeinheit zu erwecken, von dem aus Abweichung - auch in der Gestalt problematischer Lebenssituationen - als individuelles Problem definiert werden kann.

Historisch betrachtet lassen sich also Keime der Zugriffsbewegungen auf Individualität, die für die Gegenwart häufig als neu konstatiert werden, bereits in der frühbürgerlichen Gesellschaft auffinden; sie nehmen mit den neoliberalen Strategien 'nur' eine neue Gestalt an. Dementsprechend erhebt sich die Frage, wie Soziale Arbeit auf diese Herausforderungen professionstheoretisch, professionspolitisch und praktisch antworten kann.

In ihrem Beitrag zu der Kontroverse um die Frage "Should all social work students be educated for social change?" vertritt M. Abramovitz eine Position, die nicht nur für die USA, sondern auch für bundesdeutsche Auseinandersetzungen zentral ist, wenn sie schreibt: "Educating social workers for individual, institutional, and structural change is necessary (a) to prevent social work from becoming a handmaiden of the increasingly conservative status quo, (b) to assure the quality of life needed for healthy individual development, (c) to properly prepare social workers who choose to practice 'politically', and (d) to assist workers who may be moved or called upon to promote social change, even when this is not their primary professional role."

Zu den Beiträgen im einzelnen

Vor diesem Hintergrund argumentieren auch die US-amerikanischen Kollegen Michael Fabricant und Steve Burghardt in ihrem Beitrag, wenn sie die Rhetorik des "freien Marktes" aufnehmen, um die Frage nach Alternativen und Perspektiven für eine substantiell demokratische Gesellschaft und die Lebensbedingungen der in einer solchen Gesellschaft existierenden Menschen zu diskutieren. Ihr Beitrag ist dabei sowohl gesellschaftspolitisch als auch professionstheoretisch orientiert, da es ihnen darum zu tun ist, dem, was sie als "decline of communities" konstatieren, dem Zusammenbruch von Gemeinwesen, konkrete Alternativen entgegenzusetzen. So diskutieren sie denn auch in einer sehr konkreten Weise die Bedingungen der Strukturen und Handlungspraxen sozialer Organisationen, die für Professionelle wie für diejenigen, die neuerdings als "Nutzer" bezeichnet werden, zu einer wahrhaft partzipatorischen Perspektive führen.

Auch der australische Beitrag von Cindy Davis und Linda Hancock geht aus von den neuerdings immer breiteren Raum einnehmenden gesellschaftspolitischen Strategien, mit denen unter der Überschrift "Ökonomische Rationalität" eine Umstrukturierung des öffentlichen Raums mit entscheidenden Konsequenzen für die Bürgerinnen und Bürger, die zu Konsumenten umdefiniert werden, betrieben wird. Dabei richten sie ihr Augenmerk insbesondere auf die Voraussetzungen und Folgen von Privatisierungsprozessen, die den Bereich der Polizeiarbeit betreffen. Die Zerstörung von Öffentlichkeit, die den Konzepten von Managementorientierung und ökonomischem Rationalismus unterlegt ist, läßt sich dabei als Strategie zur Sicherstellung von Herrschaft interpretieren, ohne daß dies den Betroffenen bewußt wird.

Vermittlungsfragen von Gesellschaftstheorie und Gesellschaftspolitik auf einem abstrakteren Niveau widmet sich der Beitrag von Klaus Ronneberger, der in einer großformatigen Rekonstruktion zu den Diskursen über Sozialstaat und soziale Frage, staatliche Sicherheits- und Ordnungspolitik deutlich macht, inwiefern die neuen Diskurse, die den Übergang von einer Disziplinar- zu einer Kontrollgesellschaft anzeigen, zu einer Neubestimmung der Topographie des Sozialen in der Gegenwart führen. Verbunden ist mit dieser Neustrukturierung des Verhältnisses von Sozialität und Subjektivität eine neuer Machttypus, dem es in seiner Orientierung um die Überwindung des alten "Gerechtigkeitsdiskurses" durch eine neubestimmte Leistungsideologie - und damit um 'Altes' - geht.

Auch Maria Bitzan ist es um die Frage nach den möglichen Alternativen zu gegenwärtigen Mehrheitsdiskursen in den gesellschaftspolitischen Strategien zu tun. Sie beschäftigt sich mit der Frage nach den politischen Gehalten von Frauenforschung angesichts deren eigener Geschichte. Ihre Perspektive, Emanzipationsmaßstäbe im Geschlechterverhältnis zum Ausgangspunkt aller analytischen Bestrebungen zu machen, betrifft dabei sowohl methodologische Optionen von Forschung als auch damit einhergehende politische Inhalte. Im Rahmen eines Politikbegriffs, der die Analyse von Konfliktarenen zur primären Aufgabe macht, geht es ihr dabei um die (Re )Politisierung der Lebenssituationen von Frauen in ihren konkreten Konsequenzen für Bewußtsein und Handlungsfähigkeit.

Die Redaktion

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