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Heft 71: Biologisierung des Sozialen

1999 | Inhalt | Editorial | Leseprobe

Titelseite Heft 71
  • März 1999
  • 112 Seiten
  • EUR 11,00 / SFr 19,80
  • ISBN 3-89370-302-0

Michael Wunder

Bio-Medizin und Bio-Ethik
Der Mensch als Optimierungsprojekt

"Wenn wir durch das Hinzufügen von Genen bessere Menschen herstellen könnten, warum sollten wir das nicht tun?" fragte James Watson, der berühmte Mitentdecker der DNA auf dem Symposium Engineering the Human Germline an der Universität von Los Angeles im März 1998. Die Diskussion über die genetische Manipulation des Menschen ist in den USA viel weiter eskaliert als in Deutschland, und die Reduktion des Menschen auf seine biologische Ausstattung in Form seiner Gene ist viel stärker in die Alltagsdiskussion getreten. Das Leitbild der neuen Bio-Medizin, das "genetic enhancement engineering", was am besten mit "genetischer Verbesserungstechnik" am Genom des Menschen übersetzt werden kann, wird dort nicht, wie hier, schamhaft verschwiegen, sondern offen benannt. Nicht das Ob der genetischen Manipulation wird diskutiert, sondern das Wie und Wann.

Der Bio-Ethik kommt dabei die Rolle der Abwägung der jeweiligen Chancen und Risiken zu. Nicht die Kontrolle und der mögliche Stopp der ungebremsten Anwendung der Biowissenschaften auf den Menschen ist die Leitidee dieser Ethik, sondern die moderierende Begleitung einer in den Bereich der Realisierung gerückten vernunftgeleiteten Auto-Evolution des Menschen. Auf dem Symposium in Los Angeles wurde gefordert, allen Versuchen entgegenzutreten, die Entwicklung der Bio-Medizin zu hemmen. Dieses Ziel, die damit verbundene genetische Fixierung der Medizin und die Zurückdrängung aller anderen Aspekte des Menschseins in der Medizin werden die Debatte in den nächsten Jahren gerade auch in Deutschland bestimmen - dies insbesondere, weil hier der Widerstand besonders groß ist, wie die über 2 Millionen Unterschriften gegen die Bio-Ethik-Konvention des Europarates (vgl. weiter unten) zeigen.

Ein Blick in die Zukunft der Bio-Medizin und Bio-Ethik

Interessant ist in diesem Zusammenhang die kleine Schrift einer interdisziplinären Arbeitsgruppe von Genetikern, Biochemikern, Theologen und Ärzten an der Münchner Universität, die ein "ethisches Eskalationsmodell" vorgelegt hat, in dem die absehbaren biotechnischen Entwicklungen und die damit jeweils verbundenen ethischen Probleme Stufe für Stufe aufgerollt werden (Winnacker et al. 1997).

Die Mitglieder der Arbeitsgruppe distanzieren sich ausdrücklich davon, "aus Anlaß einer bestimmten neuen Entwicklung von Forschung und Anwendung einer generellen Wissenschaftskritik das Wort zu reden und zu einer generellen Umkehr der Wissenschaftskultur aufzurufen." Im Gegenteil: Die "Negierung der wissenschaftlich-technischen Bedingungen und Möglichkeiten der Lebensführung" sei verantwortungslos und es gäbe für sie keine "guten Gründe" (Winnacker et al. 1997: 13). Die Frage, ob Eingriffe der Gentechnik in die Natur mit Eingriffen in die Schöpfung gleichzusetzen seien, beantwortet die Arbeitsgruppe mit dem Verweis darauf, daß gerade die Erkenntnisse der sich in der belebten Natur vollziehenden Evolution die wesentliche Voraussetzung der Gentechnik seien. "Diese Erkenntnisse für die Gestaltung und Praxis der menschlichen Kultur in Anspruch zu nehmen," so schreiben sie, "ist deswegen mit der besonderen Stellung des Menschen in der Natur als Schöpfung keineswegs unvereinbar. Allerdings kann das nicht ohne Reflexion auf die besondere Verantwortung des Menschen geschehen, die zu keinem Zeitpunkt an eine wie immer vorgestellte Naturnotwendigkeit oder gar Zwangsläufigkeit evolutionärer Prozesse abgetreten werden kann" (Winnacker et al.1997: 14).

Die Schrift erfüllt damit den Anspruch der Bio-Medizin als moderner Naturwissenschaft, den Blick in die eigene Zukunft so zu richten, daß die in den wissenschaftlichen Utopien umrissenen Entwicklungen planbar und durch die Abwägung möglicher gesellschaftlicher und institutioneller Widerstände kalkulierbar werden. Die Gefahr solcher in die Zukunft gerichteter bio-technischer Abwägungsdiskurse könnte in der langsamen Desensibilisierung durch die ständige Wiederholung des zur Attitüde erstarrten Tabubruchs liegen. Was abgewogen wird, wird auch ein Stück Normalität. Weil das "ethische Eskalationsmodell" aber gleichzeitig einen umfassenden und realistischen Entwurf der zukünftigen Entwicklung der Bio-Medizin wiedergibt und auch die wichtigsten Ethik-Fragen der Zukunft aufwirft, wird es hier in kurzer Zusammenfassung vorgestellt und von mir mit rechtlichen Einordnungen und Querverweisen auf die Bio-Ethik-Konvention komplettiert.

Stufe 1: Gentechnische Herstellung von Medikamenten im Sinne einer Substitutionstherapie

  • Methode: Fehlende Proteine werden aus Tieren oder Blutkonserven gentechnisch gewonnen und als Medikament verabreicht.
  • Beispiele: Diabetes, Bluter-Krankheit.
  • Ethisch: wie bisherige Medikamenten-Entwicklung und -Einnahme.
  • Rechtlich: durch das Arzneimittelgesetz (AMG) abgedeckt.

Stufe 2: Somatische Gentherapie zur Behandlung genetischer Erkrankungen

  • Methode: Ein defektes Gen wird durch ein intaktes Gen ersetzt, das nur in die Körperzellen, nicht in die Keimzellen des Patienten eingebracht wird.
  • Problem: Der Übergang in die Keimzellen läßt sich nicht ausschließen, da die Transportmittel (Vieren, Fettkügelchen) dies noch nicht zulassen.
  • Beispiele: Zystische Fibrose/Mukoviszidose, Immunstimulanz bei Krebs.
  • Ethisch: vergleichbar einem chirurgischen Eingriff, allerdings mit unklarer Eingriffstiefe, da die Auswirkung auf die Keimzellen nicht auszuschließen ist.
  • Rechtlich: Die Anwendung ist durch die Behandlungseinwilligung des Patienten und durch die Rechtspraxis abgedeckt; die Entwicklung der Methoden ist durch das Verbot der hierfür notwendigen Embryonenforschung in vitro im Embryonenschutzgesetz (EmbSchG) erschwert.
  • Bio-Ethik-Konvention: Zulassung der Gentherapie (Artikel 13) und Zulassung der Embryonenforschung in vitro (Artikel 18).

Stufe 3: Somatische Gentherapie zur Behandlung genetischer Erkrankungen bei Ungeborenen

Die Präimplantationsdiagnostik (PID, die Gendiagnostik an Embryonen in vitro) soll zur Präimplantationstherapie führen.

  • Problem: Wegen der Omnipotenz der embryonalen Zellen ist mit hoher Wahrscheinlichkeit regelhaft auch die Keimbahn betroffen.
  • Ethisch: Die Eingriffstiefe geht über die Einwilligungsberechtigung der Eltern hinaus, aber, so die Autoren des "Eskalationsmodells": "Eine gesicherte Therapie könnte hier eine die Richtung der Entscheidung entscheidende Rolle spielen" (Winnacker et al. 1997: 34). Sprich: Wenn die Präimplantationstherapie erfolgreich durchgeführt werden kann, wird sie auch Akzeptanz finden.
  • Rechtlich:nicht abgedeckt, da die Entwicklung und der Einsatz der PID durch das EmbSchG verboten ist.
  • Bio-Ethik-Konvention: Zulassung prädiktiver Gentests (Artikel 12) in Kombination mit Zulassung der PID zur Selektion geschlechtsgebundener Krankheiten bei In-vitro-Fertilisation (IVF) (Artikel 14) und Zulassung der Embryonenforschung in vitro (Artikel 18).

Stufe 4: Keimbahntherapie zur Behandlung von krankheitsverursachenden Erbfehlern

  • Methode: Ein defektes Gen in den Keimzellen wird durch ein intaktes Gen ersetzt.
  • Beispiel: BRCA-1-Gen (Brustkrebs).
  • Ethisch: Die Eingriffstiefe geht über die Einwilligungsberechtigung des heute lebenden Individuums hinaus, weil die Nachkommenschaft betroffen ist.
  • Rechtlich: nicht zulässig; allerdings gibt es auch keine explizite Rechtsgrundlage zur Nichtanwendung; die Entwicklung der Verfahren verstößt dagegen eindeutig gegen das EmbSchG.
  • Bio-Ethik-Konvention: schließt die Anwendung derzeit aus (Artikel 13), erlaubt aber die vorbereitende Forschung (Punkt 91 der Erläuterungen zur Konvention); die Anwendung könnte nach Entwicklung der Technik von der Konvention durch die Anpassung in Fünfjahres-Schritten (Artikel 32-4) abgedeckt werden.

Stufe 5: Keimbahntherapie mit Einführung neuer Gene zur Krankheitsprävention

Genetische Impfung.

  • Beispiele: MxA-Gen aus transgenen Mäusen zur Grippeprävention, HIV-Resistenz-Gen des Pavians zur HIV-Prävention.
  • Ethisch: Die Eingrtiffstiefe läßt sich nicht abschätzen, ebensowenig die Gefahr für die Gesamtpopulation, da man nicht weiß, wie sich die Einfügung eines von einer anderen Art stammenden Gens auf das Genom, z.B. auf die vorhandenen Schutzfunktionen, auswirkt; es besteht die Gefahr einer Kettenreaktion.
  • Rechtlich: wie Stufe 4.
  • Bio-Ethik-Konvention: wie Stufe 4.

Stufe 6: Keimbahntherapie als Prävention gegen Risikofaktoren oder Normabweichung

  • Beispiele: Fettleibigkeit, Körpergröße.
  • Ethisch: wie bei Stufen 4 und 5; zusätzlich beginnt spätestens ab dieser Stufe der Krankheitsbegriff zu verschwimmen, so daß die Gefahr der Produktion des "Menschen nach Maß" sehr konkret wird.
  • Rechtlich: wie Stufe 4.
  • Bio-Ethik-Konvention: wie Stufe 4.

Stufe 7: Keimbahntherapie zur Veränderung der menschlichen Gattung

  • Beispiele: Intelligenz, Aggression.
  • Ethisch: wie bei den vorhergehenden Stufen; zusätzlich: Wer bestimmt, über welche evolutionsbedingten Entwicklungszustände der Mensch sich hinwegsetzen darf?
  • Rechtlich: wie Stufe 4.
  • Bio-Ethik-Konvention: wie Stufe 4.

Das vorliegende Eskalationsmodell müßte aus meiner Sicht um eine Stufe 0, die heute bereits in unseren Alltag integriert ist, ergänzt werden.

Stufe 0: Genetische Erfassung

  • Anwendung: Selektion von Keimzellen und Embryonen, selektive Zumessung von Ressourcen.
  • Beispiele: Pränataldiagnostik, betriebliche Eignungsdiagnostik, Aufnahmediagnostik für Versicherungen.
  • Ethisch: an die Einwilligung der Eltern oder Betroffenen gebunden, aber: Ist die Freiwilligkeit noch gewährleistet, wenn der Gentest zur gesellschaftlichen Norm oder zur Voraussetzung der Ressourcenzumessung geworden ist?
  • Rechtlich: durch Gesetzeslage (u.a. EmbSchG) und Rechtspraxis abgesichert.

Die Eskalation ist vorprogrammiert

Das Modell macht die Eskalationsgefahren der Bio-Medizin in mehrfacher Hinsicht deutlich. Auf der Ebene der Eingriffstiefe zeigt es die drohende Entwicklung von der Individualbehandlung zur Beeinflussung des Gen-Pools auf; auf der Ebene des medizinischen Handelns den Weg vom Heilen von Krankheiten über das Vermeiden von Behinderungen hin zum Züchten des "Menschen nach Maß". Auf der Ebene des Krankheitsbegriffs zeigt das Modell deutlich die Ausweitung von somatisch eindeutigen Erkrankungen über Behinderungen bis hin zu Verhaltensabweichungen und Persönlichkeitsmerkmalen und damit die drohende Biologisierung des Sozialen durch eine genetisch fixierte Medizin der Zukunft auf. Vor historischem Hintergrund könnte die damit vorgezeichnete Entwicklung als eine von der "negativen Eugenik" (genetische Sichtung und Selektion) zur "positiven Eugenik" (Heilung der Gesellschaft, früher: des "Volkskörpers", heute: der "Spezies Mensch") bezeichnet werden.

Die Gefahr einer diese Eskalation begleitenden Ethik besteht im schrittweisen Übergang von der individualethischen Bindung der Medizin zur kollektivethischen. Dieser grundlegenden Änderung der Sichtweise unterliegen die Autoren des Eskalationsmodells tendenziell schon selbst. Der in Europa weitgehend noch geltende Konsens, die Keimbahntherapie abzulehnen, wird von ihnen mit dem oben zitierten pragmatischen Hinweis auf den möglichen Erfolg, der dann den Einsatz rechtfertigen würde, bereits gedanklich verlassen. Gegen die Keimbahntherapie spräche, so die Autoren weiter, nicht, daß sie eine undefinierbare Anzahl potentieller Nachkommen betrifft, sondern nur, daß dies nicht durch den "Konsens über das Mandat des ärztlichen Berufs" abgedeckt sei (Winnacker et al.1997: 41). Dieser Konsens, so kann man gedanklich ergänzen, läßt sich aber verändern. Erst in ihrer Schlußbemerkung stellen die Autoren fest, daß die Wissenschaft die Grenze zwischen Individualbehandlung und Behandlung der "Spezies Mensch" respektieren müsse (Winnacker et al.1997: 49). Ein fundamentales Nein zur Keimbahnbeeinflussung fehlt aber. Diese Ambivalenz an einer so entscheidenden Stelle ist in meinen Augen kennzeichnend für die drohende Zukunftsentwicklung der Medizin und der Medizin-Ethik, in der fundamental verantwortungsethische Positionen immer mehr von bio-ethisch orientierten, zweckrationalen Abwägungen verdrängt werden.

Zur strategischen Bedeutung der internationalen Regulierungsversuche

Die Konvention für Menschenrechte und Bio-Medizin des Europarates und die UNESCO-Deklaration zum menschlichen Genom und Menschenrechten wurden mit dem Argument in die öffentliche Diskussion eingeführt, international ethische Mindeststandards für die Entwicklung der Bio-Medizin einzuführen. Vor dem Hintergrund der referierten absehbaren bio-medizinischen Entwicklungen und der damit verbundenen notwendigen rechtlichen Änderungen können diese internationalen Regulierungsversuche allerdings kaum als Schritte zur Einschränkung und ethischen Kontrolle gewertet werden, sondern als globale Instrumente der Ermöglichung und Erleichterung der Forschung und Anwendung der Bio-Medizin.

Der in Deutschland bekanntere der beiden internationalen Versuche der Regulierung der Bio- Medizin ist die Konvention für Menschenrechte und Bio-Medizin des Europarates, kurz Bio-Ethik-Konvention. Sie hat Völkerrechts-Charakter und für die durch Ratifizierung beigetretenen Länder Rechtsverbindlichkeit, auch wenn einzelne Bestimmungen durch Artikel 36 der Konvention unterlaufen oder durch Artikel 27 übererfüllt werden können.

Für die zukünftige Entwicklung der Bio-Medizin kommt der Embryonenforschung, wie aufgezeigt, eine strategische Bedeutung zu. Sie ist nicht nur entscheidend für die Optimierung der IVF, sondern auch für die Entwicklung der Gendiagnostik und der Gentherapie. Die Bio-Ethik-Konvention ebnet genau an diesen strategisch wichtigen Punkten den Weg mit

  • der Zulassung der Embryonenforschung in vitro ohne Zeitbeschränkung und mit dem völlig vagen Zusatz des "angemessenen Schutzes" des Embryos (Artikel 18),
  • der Teilzulassung der PID zur Selektion geschlechtsgebundener Krankheiten bei der IVF (Artikel 14), womit der generellen Zulassung der PID der Weg geebnet und die Notwendigkeit der Präimplantationstherapie verstärkt wird,
  • der Vorbereitung der Anwendung der Keimbahntherapie, deren Anwendung (noch) verboten ist (Artikel 13), deren Erforschung aber erlaubt wird (Punkt 91 der Erläuterungen zur Konvention), sowie
  • der Anpassung der rechtlichen Rahmenbedingungen an die Forschung in Fünfjahres-Schritten durch Artikel 32-4, womit der Erlaubnis der verschiedenen Formen der Keimbahnintervention prinzipiell keine Einschränkungen gegenüberstehen.

Die fremdnützige Forschung an einwilligungsunfähigen Menschen wird in Artikel 17-2 zugelassen, wenn nur ein "minimales Risiko" und eine "minimale Belastung" besteht, ein Nutzen für Menschen derselben Altersgruppe oder mit derselben Krankheit, Störung oder demselben Zustand zu erwarten ist und der gesetzliche Betreuer zustimmt. Betroffen sind Minderjährige, Altersdemente, Menschen mit geistigen Behinderungen, psychischen Erkrankungen, Menschen nach Schädel-Hirn-Verletzungen und Wachkoma-Patienten. An dieser Bestimmung hat sich in Deutschland der größte Protest entzündet. Forschung ohne Einwilligung ist auch das Kernthema des Nürnberger Kodex von 1947, der die Teilnahme am medizinischen Experiment aufgrund der historischen Erfahrung mit den Medizinverbrechen im Nationalsozialismus strikt an den informed consent bindet, an die freiwillige und informierte Einwilligung nach bestmöglicher Aufklärung. Die deutsche Diskussion über Bio-Medizin und Bio-Ethik bezieht sich heute zu Recht zunehmend auf den Nürnberger Kodex und die geschichtliche Erfahrung. Dies ist die Stärke der Kritik-Bewegung in Deutschland und erklärt auch ihre öffentliche Wirksamkeit. Forschung ohne Einwilligung ist heute geradezu zum Symbol des Widerstandes gegen Bio-Medizin und Bio-Ethik geworden, wenngleich ihre strategische Bedeutung für die Weiterentwicklung der Bio-Medizin zweitrangig ist.

Die UNESCO-Deklaration zum menschlichen Genom und Menschenrechten hat im Gegensatz zur Bio-Ethik-Konvention des Europarates nur empfehlenden Charakter für die Mitgliedstaaten. Trotzdem kommt ihr eine wichtige Bedeutung zu, da sie weltweit als legitimatorische Grundlage für die Absicherung der Bio-Medizin herangezogen werden kann.

Wichtig sind dabei folgende Aussagen:

  • Das menschliche Genom wird zum "Erbe der Menschheit" erklärt - mit dem Zusatz "in einem symbolischen Sinne"; dies kann bedeuten: verwertbar, ausbeutbar, korrigierbar, aber auch: erhaltenswert.
  • Somatische Gentherapie und Keimbahnintervention werden nicht mehr unterschieden; ihre Erforschung und Anwendung wird ermöglicht und nur noch durch allgemeine Hinweise an die "Würde des Menschen" gebunden, ansonsten an die jeweiligen nationalen Gesetzgebungen.
  • Die Freigabe der Forschung an einwilligungsunfähigen Menschen (hier explizit für genetische Forschungen) wird fast wortgleich aus der Bio-Ethik-Konvention des Europarates übernommen.
  • Die Erlaubnis zum Klonen von (lebensfähigen) Menschen wird nur in Form einer Sollvorschrift abgelehnt ("sollte nicht zugelassen werden"); die Klonierung von menschlichen Zellen oder Embryonen, die nicht zur Fortpflanzung, sondern für Forschungs-, Therapie- oder Transplantationszwecke bestimmt sind, wird nicht verboten.

Die Zukunftsvisionen der Bio-Medizin, denen zufolge die menschliche Zeugung mit dem Ziel der genetischen Beeinflussung weitgehend ins Labor verlegt wird, jeder zweite chirurgische Eingriff eine Transplantation sein wird und der Mensch sein Genom zweckdienlich korrigieren kann, werden von den derzeitigen internationalen Regulierungsversuchen keineswegs in ihre Schranken verwiesen, sie rücken vielmehr näher.

Welchen Beitrag leistet die Bio-Ethik beim Siegeszug der Bio-Medizin?

Schützt uns die Bio-Ethik vor dieser Eskalation, oder ist sie selbst ein Teil davon?

Zwei Kerntheorien herrschen in der Bio-Ethik vor (1):

Die Bio-Ethik lehnt letzte Werte ab. So auch die Unantastbarkeit menschlichen Lebens. Menschliches Leben ist für sie prinzipiell ohne Sinn und ohne Wert, kann aber durch Handlungen Sinn und Wert erwerben. Voraussetzungen für diese Handlungen sind Eigenschaften wie Selbstbewußtsein, Selbstkontrolle, Gedächtnis, Sinn für Zukunft und Zeit sowie Kommunikationsfähigkeit. Menschliches Leben wird bei den Bio-Ethikern erst durch diese Qualitätsmerkmale zu personalem Leben mit Würde, Wert und Recht. Darunter oder davor ist menschliches Leben unpersonal, ohne Sinn, ohne Würde, ohne Wert und ohne Recht. Die Bio-Ethik bestreitet damit die Universalität der Menschenrechte. Auf der Grundlage dieser bio-ethischen Wertsetzung werden heute die neuen, aber doch so alten Diskussionen über "lebenswert" und "lebensunwert" geführt. Und hier haben sämtliche Abwertungen von Menschen mit Behinderungen, chronischen Krankheiten oder anderen Gebrechen, kurz: von incapacitated persons, aber auch von Sterbenden als Kostenfaktor und von Embryonen als Sachen ihren philosophischen Ausgangspunkt.

Die Bio-Ethik verläßt noch an einem zweiten wesentlichen Punkt das Fundament der Menschenrechtstradition. Sie bedient sich des Modells der Diskursethik in der naiven und plumpen Weise des Relativismus aller Werte, die in einer moral-cost-benefit-analysis gegeneinander abgewogen werden. Menschenrechtliche Schutzgarantien des Einzelnen werden anderen Rechten, wie dem der Forschungsfreiheit, bei einigen Bio-Ethikern sogar dem gemeinschaftlichen Recht der Mehrheit auf Gesundheit, gleichrangig gegenübergestellt und damit ihres unverbräuchlichen und unverwirkbaren Charakters beraubt. Eine wirkliche Diskursethik beruht aber auf den Prinzipien der Freiwilligkeit der Teilnahme am Diskurs, der Gleichberechtigung aller Diskursteilnehmer und der Achtung der Freiheit des Anderen, d.h. seiner Grundrechte, die unantastbar sind und den Diskurs erst ermöglichen. Gerade diese Prinzipien mißachtet die Bio-Ethik aber und ersetzt sie durch eine gefährliche interessenbestimmte Gebrauchsethik, die mit der Diskursethik nicht vereinbar ist.

"(...) damit der Fortschritt der Wissenschaft und der Technik nicht willkürlich behindert oder zum Stillstand gebracht und dem Menschen kein Schaden zugefügt wird," heißt es in einem Begründungspapier für die Bio-Ethik-Konvention des Europarates, müßten zwei Rechte miteinander in Einklang gebracht werden: "das Recht des Individuums auf Würde (...) und das Recht, am wissenschaftlichen und technischen Fortschritt als Teil des kulturellen Erbes der Menschheit teilzunehmen" (Palacios 1994: 5). Das Bio-Ethik-Komitee der UNESCO postuliert sogar einen "Imperativ der Forschungs-freiheit", den es als gleichberechtigt neben dem "ethischen Imperativ" sieht, den es als Arbeitsgruppe der UNESCO quasi natürlich vertritt. Fremdnützige Forschung, die nicht mehr auf dem Prinzip der Freiwilligkeit aufbaut, kann so bio-ethisch mit kollektivethischen Ersatzwerten legitimiert werden, wie dem Nutzen der zukünftigen Patienten, dem Nutzen zukünftiger Generationen oder dem Nutzen der ganzen Menschheit. Die individualethische Bindung der Medizin wird aufgegeben.

Die Bio-Ethik ist eine Ethik der Ausgrenzung und der Spaltung, sie ist eine Ethik der neuen Apartheid und eine Dienstleistungsethik zur Durchsetzung der bio-medizinischen Forschungsinteressen. Sie schützt nicht vor der Eskalation, sie ist ein Teil derselben. Mit ihr läßt sich letztendlich auch die Auto-Evolution des Menschen rechtfertigen. James Watsons Frage, warum wir nicht durch das Hinzufügen von Genen bessere Menschen herstellen sollten, kann diese Ethik nicht nur nichts entgegensetzen, mit ihr läßt sich die bio-medizinische Optimierung des Menschen geradezu einfordern.

Gigantomane Gesundheitsvorstellungen haben in der Nazi-Ära schon einmal dazu geführt, daß nicht nur die Rechte, sondern auch das Leben des Einzelnen mißachtet wurden. In Anlehnung an den deutsch-amerikanischen Medizinhistoriker Jay Katz läßt sich formulieren: Wäre im professionellen Denken und Handeln der Ärzte im Nationalsozialismus die unumstößliche Notwendigkeit der menschenrechtlichen Schutzgarantien des Einzelnen fest verankert gewesen, hätten sie niemals den Illusionen und verbrecherischen Folgen der "Magna Therapia" auf Kosten des Einzelnen folgen können (Katz 1992: 237). Mit den Visionen der Bio-Medizin, insbesondere mit ihrem Leitbild des "genetic enhancement engineering", droht eine moderne "Magna Therapia" des Menschen. Wahrscheinlich kann nur durch ein absolutes und geschichtsbewußtes Bestehen auf der Unantastbarkeit der Würde des Menschen im Sinne des Nürnberger Kodex und des Lebensrechts aller Menschen eine drohende Wiederholung der Geschichte verhindert werden.

Anmerkung

1. Der Begriff bioethics wird in den englischsprachigen Ländern synonym für den Begriff Medizin-Ethik gebraucht. Die deutsche singulare Übersetzung wird diesem Umstand und der Vielfalt der Ansätze, die beispielsweise in den USA unter diesem Begriff zusammengefaßt werden, nicht gerecht. Der deutsche Begriff "Bio-Ethik" bildet eher den mainstream der bio-ethischen Ansätze in den USA, Australien und England ab, der sich deutlich von den kontinentalen medizin-ethischen Schulen unterscheidet und sich als Ethik der Anwendung der Biowissenschaften auf den Menschen versteht. Auf diesen überwiegenden Teil der "Bio-Ethiken" bezieht sich die hier formulierte Kritik.

Literatur

Council of Europe 1997a: Convention for the Protection of Human Rights and Dignity of the Human Being with Regard to the Application of Biology and Medicine: Convention on Human Rights and Biomedicine. Oviedo, April 4th, European Treaty Series 164

Council of Europe1997b: Explanatory Report to the Convention for the Protection of Human Rights and Dignity of the Human Being with Regard to the Application of Biology and Medicine: Convention on Human Rights and Biomedicine. Strasbourg, January, DIR/JUR 1

Katz, Jay 1992: The Consent Principle of the Nuremberg Code: Its Significance Then and Now. In: Anna, G.J.; Grodin, M.A. (eds.): The Nazi Doctors and the Nuremberg Code - Human Rights in Human Experimentation. Oxfort University Press, New York

Palacios 1994: Rapport Giving an Opinion on the Draft Bioethics Convention. In: Council of Europe, Strasbourg, Doc. 7156, September 19th

Engineering the Human Germline Symposium 1998: Summary Report. http://www.ess.ucla.edu://huge/report.html

United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (UNESCO): Universal Declaration on the Human Genome and Human Rights. http://www.unesco.de/aktuell/Ibc2.htm

Winnacker, Ernst-Ludwig; Rentorff, Trutz; Hepp, Hermann; Hofschneider, Peter Hans; Korff, Wilhelm 1997: Gentechnik: Eingriffe am Menschen. Ein Eskalationsmodell zur ethischen Bewertung. München

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