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Heft 76: Zivilgesellschaft von oben – Regulation der Kooperation

2000 | Inhalt | Editorial | Leseprobe

Titelseite Heft 76
  • Juni 2000
  • 120 Seiten
  • EUR 11,00 / SFr 19,80
  • ISBN 3-89370-338-1

Zu diesem Heft

Zivilgesellschaft von oben - Regulation der Kooperation: Mit diesem Heft greift die WIDERSPRÜCHE-Redaktion einen alten Diskussionsstrang auf, den sie seit dem ersten Tage ihres Bestehens verfolgt. Es geht um das Kräfteverhältnis, in dem sich eine Politik der Umgestaltung des Sozialen bewegt, die Politik als einen auf Lebensinteressen bezogenen Produktionsprozess zu begreifen versucht. Im Rahmen unserer weit ausholenden Zielperspektive von "alternativer Hegenomie" maßen wir damals einer - wie wir sie nannten " Produzentensozalpolitik" eine besonders hohe Bedeutung zu (vgl. Heft 11/1984: 121:ff.). Das hing auch damit zusammen, dass es uns nicht um eine rein akademische Analyse dieses Kräfteverhältnisses ging. Vielmehr verstanden wir unseren Begriff einer Sozialpoliktik der Produzierenden zugleich als ein praktisches Programm, das wir durch unsere Analysen der Praxis seiner Verwirklichung entgegenzuführen trachteten. So sollte sie als emphatische Kategorie es erlauben, im überschaubaren Umkreis der eigenen Erfahrung zu überprüfen, worin der Befreiungsgehalt politischen Handelns und demokratischer Selbstorganisation besteht und was demgegenüber Ausdruck modernisierter Herrschaftspraktiken ist.

Obwohl es sich in dieser Weise bei unserem Begriff einer Sozialpolitik der Produzierenden sehr wohl um eine emphatische Kategorie handelt, ist sie in dem Maße, wie interessierte Menschen damit beginnen, ihre sozialen Praktiken selbsttätig und bewusst hervorzubringen, immer zugleich eine der Realität: Einer Realität freilich, die häufig auf Grund der "Zähigkeit des institutionellen Blicks" übersehen wird, auch wenn dieser " den Subjekten Gutes tun will, präventiv und partizipatiorisch, versteht sich" (vgl. WIDERSPRÜCHE 32/1989: 13). Unser Bemühen, mit diesem Doppelcharakter unserer Kategorie einer Sozialpolitik der Produzierenden als emphatische und zugleich empirische sehr sorgfältig umzugehen, markiert einen grundlegenden Unterschied gegenüber jenen naiven Romantisierungen, die sich heute zuhauf im Rahmen des Diskurses um Zivilgesellschaft und "Dritten Sektor" wiederfinden, wenn Werte für eine "intakte Gemeinschaft" (Honneth 1993) unter Berufung auf eine Vergangenheit beschworen werden, in der Menschen das Interesse am Ergehen des anderen und an der Gesellschaft noch nicht verlernt hätten. Deshalb haben wir auch nicht aus dem Blick verloren, wie Ansätze von Selbsthilfe und Selbstorganisation oft eingeklemmt sind "zwischen beschäftigungspolitischem Drücken und verehrenamtlichendem Ziehen von oben". Und immer wieder haben wir betont, dass die interessierten Menschen mit ihrer Politik "von unten" soziale Praktiken "nicht im luftleeren Raum" selbst herstellen, "sondern in Auseinandersetzung mit sozialstaatlichen Definitionen und Regulationsweisen"(vgl. WIDERSPRÜCHE 32/1989: 7ff.).

Weil deshalb unter den gegebenen Verhältnissen eine "Politik des Sozialen" nicht gänzlich in einer Produzierendensozialpolitik aufgehen kann, haben wir in Heft 65/1997 der WIDERSPRÜCHE die "Politische Produktivität von Gemeinwesenarbeit" als das komplementäre professionelle Gegenstück zu einer Sozialpolitik der Produzierenden thematisiert. Zentraler Bezugspunkt, so unsere damalige Argumentation, muss auch hier die Selbstregulierung von Subjekten sein, welche ihre Lebenszusammenhänge, Krisen und Probleme kollektiv und öffentlich bearbeiten und ändern wollen. Diese Selbstproduktion sozialer Praktiken durch die Betroffenen bedarf als sozusagen professionelle Seite der Medaille des Kampfes für bessere Lebensbedingungen und für Selbstbestimmung der AdressatInnen bis auf weiteres der Unterstützung durch Strategien wie die sozialpolitische "Einmischung" (vgl. Mielenz 1981) und die "Skandalisierung sozialer Not" (vgl. Preußer 1984), ebenso wie solchen des Empowerments und des Aufbaus politischer Netzwerke, ja sogar der auch professionellen Organisation von Interessen und Erfahrungen.

Ausgehend von der Krise des fordistischen Modells eines politischen Keynesianismus, konzentrierten sich die damaligen Analysen auf Chancen und Grenzen, die sich für eine so geartete professionelle GWA aus dem sich ankündigenden neuen postfordistischen Akkumulations- und Gesellschaftsmodell ergeben. Ein besonderes Augenmerk richteten wir schon damals auf die mit den neuen sozialstaatlichen Regulationsweisen verbundene Rekommunalisierung und Renaturalisierung sozialer Leistungen, die heute im Zuge des Diskurses um Zivilgesellschaft und Dritten Sektor mit etwas anders gearteter politischer Akzentsetzung erneut stark diskutiert werden. So versuchten wir einerseits, Ansatzpunkte für eine breitere Etablierung partizipativer Verfahren jenseits der klassischen repräsentativen Mechanismen herauszuarbeiten, wie sie sich daraus ergeben, dass "Normalität" nun nicht mehr gesamtstaatlich zu sichern ist. Unser Argument war, dass in dem Maße, wie kommunale Sozialpolitik zunehmend mehr auf Eigenaktivitäten und Selbsthilfe der BürgerInnen angewiesen ist, Beteiligung und Konsensbildung immer weniger durch die Vorgabe von allgemein akzeptierten Normen und Werten ersetzt werden kann. Ohne diese Chancen aus den Augen zu verlieren, haben wir uns aber zugleich bemüht, nicht die Grenzen der sich neu herausbildenden Regulationsweisen zu verkennen. Diese wurden von uns im Bestreben verortet, die Steuerungskapazität der Sozialadministration dadurch zu stärken, dass solche aktiven Lebenszusammenhänge in Form von Nachbarschaftsinitiativen, Tauschringen etc. gemeinwesenarbeiterisch in den Verbund eines - wie es heute gerne genannt wird - "selbststeuernden Systems" zu überführen versucht werden.

Wir sind damit zumindest implizit auch der damals sehr verbreiteten Tendenz entgegengetreten, im Anschluss an die sozialphilosophisch fundierten Überzeugungen des Kommunitarismus (bspw. Taylor; Walzer) diesen Perspektivenwechsel von kollektiven Sicherungssystemen im Sinne (national)staatlicher Integrationsstrukturen hin zu solchen regionalen bzw. lokalen Lebenszusammenhängen als notwendige Gegenbewegung zu Globalisierungsprozessen zu betrachten. Während aber der damit verbundene Diskurs um Zivilgesellschaft auf der sozialwissenschaftlichen Ebene in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre an Attraktivität zu verlieren schien, wurde er auf der politisch-administrativen Ebene umso wortgewaltiger weitergeführt (vgl. z.B. Frankfurter Rundschau vom 29. März 2000; Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 4/2000). Neben dem Versuch, mechanische Solidarität ideologisch zu beschwören, d.h. kleinräumige Sozialstrukturen zu befördern, scheint so die Funktion der Fokussierung lokaler Einheiten auch darin zu bestehen, der Absicherung (Regulation) der lokalen 'Standorte' im globalen Wettbewerb zu dienen. "Damit also die Akteure auf globalen Märkten erfolgreich operieren können, müssen sie 'am Ort' staatlich und zivilgesellschaftlich gestützt werden" (Altvater/Mahnkopf 1997: 29).

In dieser Weise wird heute politisch vielfach die Mobilisierung 'zivilgesellschaftlicher Gruppierungen' als Gegenkraft zum Verdampfen (national)staatlicher Integrationspotentiale im Globalisierungsprozess beschworen. Der 'Krise der Arbeitsgesellschaft', die an Lehrstellenmangel, internationaler Konkurrenz zwischen Arbeitskräften und vor allem einer hohen Arbeitslosigkeit festgemacht wird, gelte es wirksam mit Gemeinschaftsarbeit, Bürgerarbeit, Tätigkeiten im Sinne des Gemeinwohls entgegenzusteuern; der 'Krise des Sozialstaats', die unter anderem an steigenden Pensionskosten und der kontinuierlichen Forderung nach der Absenkung der Lohnnebenkosten festgemacht wird, mit freiwilligem Engagement, neuen Formen des Ehrenamts, bürgerschaftlichem Engagement zur Substitution zunehmender Desintegrationspotentiale.

Mit Heft 75 hat die WIDERSPRÜCHE-Redaktion unter dem Stichwort "Dritter Sektor" Inhalt und Konsistenz dieser Substitutionsthese vor allem in Bezug auf die beschworene 'Krise der Arbeitsgesellschaft' kritisch beleuchtet. Im vorliegenden Heft 76 wird nun die Frage möglicher, bisher unbeachteter sozialintegrativer Energien (Ehrenamt, bürgerschaftliches Engagement u.ä.) zur Substitution der scheinbar schwindenden sozialintegrativen Kräfte ('Krise des Sozialstaats') in den Blick genommen.

Zu den Beiträgen im Einzelnen

Der einleitende Beitrag von Winfried Thaa erinnert daran, dass die neuere politische und demokratietheoretische Konjunktur des Begriffes der Zivilgesellschaft ihren Ursprung in den Dissidentengruppen Ostmitteleuropas und den neuen sozialen Bewegungen im Westen hatte, also mit dem Anspruch verbunden war, politische Handlungsmöglichkeiten zu erweitern. Thaa argumentiert, dass eine in dieser Tradition stehende republikanische Version des Begriffes, welche zivilgesellschaftliche Strukturen auf die Institutionen politischer Willensbildung bezieht, zu einer Weiterentwicklung der Demokratie beitragen kann. Demgegenüber drohe die Annäherung des Begriffs an den neoliberalen Diskurs der Entstaatlichung die Anpassung an vermeintliche Zwänge der ökonomischen Globalisierung lediglich emanzipatorisch zu verbrämen.

In seiner diskursanalytischen Untersuchung zur Aktivierung neuer Gemeinschaftlichkeit innerhalb sozialpolitischer, wohlfahrtsstaatstheoretischer, allgemein soziologischer und sozialpädagogischer Debatten fokussiert Fabian Kessl in seinem Beitrag drei kategoriale Begriffe, die sich als Kristallisationspunkte innerhalb dieses Diskurses um die Aktivierung neuer Gemeinschaftlichkeit erwiesen haben: Soziale Bewegungen, Arbeit und Raum. Anhand ausgewählter politisch-programmatischer Papiere, die auf kommunaler, Landes- und Bundesebene in jüngster Zeit verfasst wurden, konzentriert er sich dabei zunächst auf die politisch-administrative Ebene, um anschließend zumindest erste Hinweise auf die Verschränkung dieses Diskurses mit dem wissenschaftlichen Diskurs um Soziale Arbeit anzudeuten.

Mit einer Erörterung des Gemeinschaftsbegriffs beginnt auch Michael Lindenberg seinen Beitrag über Kommunale Hilfsdienste als Geburtshelfer für verdichtete städtische Gemeinschaften. Zwischen sicher sein und sich sicher fühlen - dieser Titel deutet schon die kritische Sichtweise des Autors gegenüber dem häufig postulierten Zusammenhang zwischen dem Funktionieren von Gemeinschaften und einer erhöhten Gewährleistung von Sicherheit an, die er in exemplarischer Weise an der "broken windows"-These entfaltet. Dass der so eingängig erscheinende Zusammenhang in der praktischen Geburtshelferarbeit in eine Sackgasse führt, erörtert er anhand von sechs Fallstricken für die Arbeit der Kommunalen Hilfsdienste, die er zugleich in den von ihm abgesteckten theoretischen und begrifflichen Rahmen kritisch einordnet. Dieser kritischen Betrachtung stellt er abschließend Überlegungen gegenüber, die darauf abzielen, die zweifellos auch vorhandenen positiven Möglichkeiten Kommunaler Hilfsdienste auszuschöpfen, wobei er nachdrücklich dafür plädiert, Maßnahmen der Sicherheit und Ordnung deutlich von den Hilfen zur Verbesserung des Zusammenlebens im verdichteten städtischen Wohnraum zu trennen.

Die beiden abschließenden Beiträge des Schwerpunkts beschäftigen sich mit neuen Formen, in denen Wirtschaftsunternehmen zivilgesellschaftliches Engagement sowie den Dritten Sektor gemeinnütziger Einrichtungen anders als nur mit Geld- und Sachspenden unterstützen. Diethelm Damm stellt in seinem Beitrag die Bundesinitiative Unternehmen : Partner der Jugend (UPJ) sowie die gesellschafts- und sozialpolitischen Begründungszusammenhänge vor, auf denen diese gründet. Seit drei Jahren werden im Rahmen des Projekts Möglichkeiten langfristiger Zusammenarbeit zwischen Initiativen der Kinder- und Jugendarbeit sowie Unternehmen erprobt. Als wissenschaftlicher Begleiter versucht Damm eine Zwischenbilanz zu ziehen sowie projektbezogene Zukunftsperspektiven zu entwickeln. Von zentraler Bedeutung für diese Projektperspektiven ist die Grundüberlegung, dass freiwilliges soziales Engagement auch innerhalb der Erwerbsarbeitszeit stattfinden und in dieser Weise sogar von Unternehmen bewusst angestrebt und unterstützt werden könne.

Diese für bundesrepublikanische Verhältnisse noch äußerst ungewöhnliche Idee der Unternehmen als gute Bürger des Gemeinwesens ist ebenfalls Gegenstand des Beitrages von Heinz Bartjes und Michael May. Der Aufsatz gibt eine Einführung in Denkweisen und Praxisformen von corporate citizenship als Strategie einer Einbettung von Unternehmen in das Gemeinwesen. In exemplarischer Weise werden entsprechende Ansätze aus den USA, der Schweiz und den Niederlanden vorgestellt, in denen die Förderung ehrenamtlicher Tätigkeit und freiwilligen sozialen Engagements von Unternehmen auch innerhalb der Erwerbsarbeitszeit ermöglicht, ja sogar bewusst unterstützt wird. Der Beitrag beschränkt sich jedoch nicht auf eine bloß affirmative Darstellung der Philosophie von corporate citizenship samt ihrer Umsetzung in diesen unterschiedlichen Formen eines langfristigen Engagements von Unternehmen zur Lösung gesellschaftlicher Probleme, die über deren eigentliche Geschäftstätigkeit hinausgehen. Er versucht zugleich eine erste kritische Einschätzung dieser Modelle vor dem Hintergrund einer "konservativen Modernisierung" des Sozialstaats sowie der unterschiedlichen Interessen (z.B. an einer geschlechtshierarchischen Teilung von "ehrenamtlicher" und bezahlter Arbeit), die sich im Dualismus zwischen der formellen Ökonomie der Erwerbswirtschaft und der informellen "Selbsthilfeökonomie" ehrenamtlicher Tätigkeiten ausdrückt. Zentraler Kritikpunkt an den Modellen ist, dass sie diesen Dualismus letztlich nicht aufzulösen vermögen, sondern bestenfalls die Grenze von bezahlter und ehrenamtlicher Arbeit im Dritten Sektor etwas flexibler zu gestalten erlauben. Keinesfalls diente ihr allerhöchstens kompensatorisch einzuschätzender Beitrag für das Gemeinwesen der Förderung von "Eigenarbeit" im Sinne gebrauchswertorientierter Tätigkeiten, die in gemeinschaftlich selbstbestimmter Form für das "Eigene" erbracht werden.

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