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Heft 166: Partizipative Forschung als Vergesellschaftung von Forschung?

2022 | Inhalt | Editorial | Abstracts | Leseprobe

Titelseite Heft 166
  • Dezember 2022
  • 129 Seiten
  • EUR 15,00 / SFr
  • ISBN 3-98634-006-3
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Partizipative Forschung scheint in vielen Feldern von Sozialforschung geradezu Mode geworden zu sein (vgl. kritisch dazu die Beiträge in Standpunkt Sozial 2022/1). Daneben entwickeln sich Ansätze von Citizen Scienzes. Ebenso neudeutsch ist von Makerspaces, FabLabs, Hack(er)spaces die Rede. Nicht nur soll damit die klassische Trennung zwischen Forschenden und Beforschten aufgehoben werden. Forschung soll sich darüber auch stärker an den Lebensinteressen der Menschen orientieren.

Diese Ideen sind nicht neu. Historisch zurück gehen sie wohl auf den von Kurt Lewin während des 2. Weltkrieges entwickelten Ansatz von Action-Research, der zunächst als "Tat-Forschung" (Lewin 1968) ins Deutsche übersetzt wurde. Im Bestreben, die antifaschistische Allianz durch Minderung der Binnenspannungen in den demokratischen Ländern zu stärken, schlug er die Bildung von produktiv durchgreifenden Projektgruppen von Praktiker*innen und Forschenden vor, um in einer Spiralbewegung von Planung, Handlung und Tatsachenfindung sozialwissenschaftliche Aufklärung direkt mit der Lösung sozialer Probleme zu verbinden.

In der Nachkriegszeit haben Lewin und seine sozialpsychologische Schule solche Projekte vor allem zur Entwicklung eines demokratischen bzw. sozial-integrativen Erziehungsstils und einer damit verknüpften Verbesserung und Demokratisierung des sozialen Klimas in Schulen und anderen pädagogischen Institutionen durchgeführt. Dabei ging es ihnen durchaus auch darum, allgemeine Erkenntnisse über Gesetze der Intra- und Intergruppenbeziehung zu gewinnen, um so über die konkrete Projektebene hinaus eine Verbesserung und Demokratisierung sozialen Handelns zu befördern.

Eingang gefunden in die bundesrepublikanische Diskussion hat dieser Ansatz vor allem durch den von Richard und Hephzibah Hauser entwickelten Ansatz einer Soziatrie als einer "Soziologie für Handlungsträger" (1971: 453). Ausgehend von der Maxime, dass "es doch jedermanns Geschäft sein sollte, alle Formen des gesellschaftlichen Lebens zu verstehen" (ebd.: 453), erhofften sich die beiden Hausers mit ihrer Soziatrie und den in sie eingelassenen Aktionsuntersuchungen eine "Partnerschaft zwischen den Experten und der Mehrheit der Bevölkerung" (ebd.: 455) begründen zu können. Dies kann durchaus auch als ein Ansatz zur Vergesellschaftung von Forschung verstanden werden. Dass die beiden Hausers den entscheidenden Beitrag zur Emanzipation von allen gesellschaftlichen Zwängen im Aufbrechen des Paternalismus sahen, der ihrer Ansicht nach eine ausgeprägte Form "sozialer Unwissenheit" (ebd.: 420) darstelle, die den Menschen und die Gesellschaft am lähmendsten belaste (vgl. ebd.: 219 ff.; 420), zeigt welche Intention sie mit einer solchen Vergesellschaftung von Forschung verbanden.

Klafki hat jedoch darauf hingewiesen, dass Action Research "keineswegs grundsätzlich mit kritischer, etwa gesellschaftskritischer Reflexion über die Ziele, denen sie dienstbar gemacht wird, verbunden" (1978: 268) sein müsse. Zwar bezieht er sich in diesem Zusammenhang auf bis in die 1940er Jahre zurückreichende Ansätze zur Verbesserung von "Betriebsklima und [...] Kooperation in einem Industriewerk zum Zwecke höherer Produktionsleistungen" (ebd.). Seippel hat jedoch zu Recht davor gewarnt, dass selbst Hausers soziatrische Methoden "offen" seien "für ein breites Spektrum politischer und ideologischer Ausrichtungen" (1976: 126). Sie stellten "zwar keine technokratischen, politisch neutralen Handlungsanweisungen dar" (ebd.), könnten aber, "als Rezepte mißverstanden" (ebd.) werden, wie expertokratischer Paternalismus aufgebrochen werden kann. Zu wenig würden von den Hausers die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse in den Blick genommen, mit denen dieser vermittelt sei. Knapp zwanzig Jahre später, nach dem Abflauen der Euphorie bezüglich Aktionsforschung, ja dem drohenden gänzlichen Verschwinden des Begriffes aus der Debatte um Sozialforschung, haben Altrichter/Gstettner in der mangelnden Reflexion solcher "sozialtechnologische[n] Element[e]" (1993: 70) einen maßgeblichen Grund dafür gesehen, dass "Aktionsforscher [...] nicht in genügendem Maße Vorsichtsmaßregeln gegen die 'geheimen Widersprüche' in der Beziehung mit den Betroffen" (ebd.) getroffen hätten.

Schon zuvor hatte Seippel betont, dass die "Herstellung eines Subjekt-Subjekt-Verhältnisses" (1976: 115) als "Bemühen um die Herstellung nicht-entfremdeter menschlicher Beziehungen (Verhältnisse) [...] unter derzeitigen Bedingungen durch institutionelle Grenzen, auch durch Vorsprünge im Wissen und durch andere Vorteile berufsmäßiger Akteure (Intellektuelle als Forscher) generell nicht verwirklichbar, aber durchaus beeinflußbar" (ebd.: 120) sei, indem z.B. "allen Beteiligten [...] prinzipiell ein Stellenwert im Erkenntnisprozeß (Forschung)" (1976: 120) zuerkannt wird: "also eine potentielle Einwirkung auf Fragestellung, Methoden usw." (ebd.). Wenn Hella von Unger vor diesem Hintergrund in ihrem Standardwerk zu Partizipativer Forschung vermerkt, dass "Ende der 1970er-Jahre [...] die Debatte unter den Aktionsforscher/innen von kritischer (Selbst-)Reflexivität geprägt" (2014: 17) gewesen sei, scheint eine vergleichbare kritische Selbstreflexion ein Desiderat nicht nur ihres Buches zur Einführung in deren Forschungspraxis, sondern des gesamten Diskurses um partizipative Forschungsanasätze zu sein.

Dies bezieht sich auch darauf, dass im aktuellen Diskurs gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse und die neoliberale Funktionalisierbarkeit partizipativer Ansätze von Forschung kaum thematisiert wird. Zudem scheint die Kritik von Expertokratie ja ein verbindendes Element gegenwärtiger Strömungen rechten Populismus zu sein. Dass in deren Rahmen querdenkerisch "alternative Fakten" propagiert werden, könnte auch zu einer Herausforderung naiver Konzepte partizipativen Forschens werden.

Dies gilt auch für den Diskurs um Citizen Science (Finke 2014). Zwar ähneln viele dieser Ansätze, welche den Betroffenen selbst die Rolle von Forschenden zumessen, eher klassischen Ansätzen eines Community Self Survey, die stärker noch als Lewins Konzept von Action Research die Methodiken von Aktionsuntersuchungen der Hausers beeinflusst haben. Auch sie jedoch sind nicht gefeit, als Plattform für solchen querdenkerischen, rechten Populismus funktionalisiert zu werden, selbst wenn sie sich als Methode, um soziale Spannungen in einer Gemeinde zu mildern, in der Vergangenheit bewährt haben.

In diesem Zusammenhang ist des Weiteren an den Hinweis von René König zu erinnern, dass das Ziel solcher Ansätze eines Community Self Survey im "Gegensatz zur wissenschaftlichen Gemeindeforschung [...] vorwiegend praktisch orientiert" (1958: 144) sei. Das gilt auch für viele Ansätze und Projekte partizipativen Forschens, in denen es eher um Formen auf praktische Veränderungen zielenden, forschenden Lernens als um die Beteiligung der sogenannten Co-Forschenden an komplexen Formen der Datengewinnung und -auswertung geht.

Interessant an Königs Argumentation ist jedoch nicht diese Unterscheidung zwischen einer vorwiegend wissenschaftlichen oder praktischen Orientierung, sondern die von ihm gezogene Parallele zwischen solchen Ansätzen eines Community Self Survey und "anderen praktisch-therapeutisch ausgerichteten Behandlungstechniken, wie etwa der Psychoanalyse. Während die rein wissenschaftliche Untersuchung in dem Augenblick aufhört, wo ein bestimmter Zusammenhang adäquat erkannt worden ist, läuft eine solche Art der Analyse noch weiter, selbst nachdem schon lange keine Unklarheiten in Bezug auf das untersuchte Problem mehr bestehen" (König 1958: 144).

Im Hinblick auf das Beispiel der Psychoanalyse wäre im Hinblick auf die in Ansätzen partizipativer Forschung ebenfalls angestrebte "Herstellung eines Subjekt-Subjekt-Verhältnisses" (Seippel 1976: 115) zu vermerken, dass Alfred Lorenzer (1974) selbst das psychoanalytische Setting als ein dialogisch-exploratives konzipiert hat. Aber auch jenseits der von König herangezogenen Parallele zu "praktisch...therapeutische ausgerichteten Behandlungstechniken" (1958: 144) haben sich dialogisch-forscherische Ansätze entwickelt, die in ihrer Vermittlung von theoretischer und praktischer Dialektik explizit auch wissenschaftlich orientiert sind, aber anders als von König postuliert, sich als infinit verstehen.

Beispielhaft hierfür steht Paulo Freires (1975) Konzept einer "Thematischen Untersuchung". Dieses vermag darüber hinaus das von Spivak (2008) überzeugend dargelegte Dilemma aufzulösen, dass es im Hinblick auf subalterne Gruppen, deren Interessen in der Gesellschaft nicht angemessen repräsentiert sind und die mit all den bisher benannten, partizipativ ausgerichteten Forschungsansätzen zumeist ebenfalls nicht zu erreichen sind, zynisch ist zu sagen, sie könnten für sich selbst sprechen - eben, weil sie nicht gehört werden. Wie Spivak gezeigt hat, trägt aber auf der anderen Seite ihre advokatorische Verdolmetschung implizit dazu bei, ihnen ihre eigene Stimme zu nehmen - auch im Rahmen vieler Forschungsprojekte mit partizipatorischem Anspruch. Demgegenüber zielt Freire mit seinem iterativen Konzept von Kodierung/Dekodierung darauf, im Dialog zwischen Forschenden und Co-Forschenden - um in der Sprache der partizipativen Forschung zu bleiben - die "geheimen Widersprüche" (Altrichter/Gstettner 1993: 70) zwischen diesen durch die emanzipatorische Nutzung der Spezifik ihrer jeweiligen Wissensform aufzuheben, um subalterne Gruppen darin zu unterstützen, als nicht einfach bloß Co-Forschende ihre eigene Form der Repräsentation zu entwickeln.

So dekodieren zunächst die wissenschaftlich gebildeten Forschenden in einem ethnographischen Zugang den Lebenszusammenhang der jeweiligen subalternen Gruppe unter Einbezug ihres gesellschafts- und herrschaftstheoretischen Wissens als ein Blockierungszusammenhang menschlicher Vermögen. Ziel ist es Grenzsituationen zu eruieren, in denen dieser Blockierungszusammenhang auch für die Betroffenen zumindest ansatzweise zu Bewusstsein drängt, um diese dann z.B. in Form von Bildern oder dramatisierten Szenen ikonografisch zu kodieren. Die Betroffenen dekodieren dann als Co-Forschende diese kodierten Grenzsituationen vor dem Hintergrund ihrer lebensweltlichen Expertise und werden durch problemformulierende Fragen seitens der Forschenden in ihrer Exploration befördert. Damit ist diese Form ko-produktiven Forschens jedoch nicht beendet. Denn indem die Betroffenen die herrschaftlichen Begrenzungen der Vermögen ihrer menschlichen Subjektivität in solchen Situationen durch entsprechende Grenzakte zu überwinden und sich auf ihre Weise in die gesellschaftliche Repräsentation einzubringen suchen, wird neues erfahrungsbezogenes Wissen über die entsprechenden Grenzsituationen und die herrschaftlichen Mechanismen des sie verbindenden Blockierungszusammenhangs gewonnen - bzw. es entstehen neue Grenzsituationen, deren Dekodierung seitens der wissenschaftlich gebildeten akademischen Forschenden dann zu entsprechenden ikonografischen Kodierungen führt, die von den Betroffenen als Co-Forschende dann mit ihrer lebensweltlichen Expertise dekodiert werden und so fort....

Ähnlich gelagert (vgl. May 2017: 158ff.) ist Lefebvres (1977 Bd. II: 125ff.) Konzept Strategischer Hypothesen. Reicht bei einer klassischen Forschungshypothese als Beweis die Übereinstimmung ihrer logisch konsistenten Aussagen und Annahmen mit einem Ensemble beobachtbarer Phänomene, liegt bei einer Strategischen Hypothese "der wahre Beweis [...] auf der Ebene der praktischen Verifizierung" (ebd.: 131). Spricht Freire von den "unerprobte[n] Möglichkeit[en] [...] jenseits der Grenzsituation" (1975: 97) und der mit ihr verbundenen "grundlegende[n] Widersprüche" (ebd.), geht auch Lefebvre davon aus, dass Probleme "mit Widersprüchen in der Wirklichkeit" (1988 Bd. II: 129) hervortreten, die - indem sie Lösungen fordern - zugleich auf Möglichkeiten verweisen, die von einer Gruppe bisher in ihrer Potentialität noch nicht voll ausgeschöpft wurden und die es vermittels Strategischer Hypothesen zu explorieren gelte. Und auch er konstatiert bezüglich des gesellschaftstheoretischen Wissens der akademisch Forschenden, dass die (praktische) "Prüfung der Lösungsvorschläge und ihrer Varianten [...] uns in vielen Fällen [zwingt], das ganze Problem neu zu überdenken, mitsamt den Termini und Begriffen, durch die wir es überhaupt erst formulieren konnten" (ebd.: 127).

Wie das Konzept Strategischer Hypothesen, zielen auch die im Kontext Kritischer Psychologie entwickelten Ansätze Subjektwissenschaftlicher Forschung danach, über "theoretische zu praktischen Verallgemeinerungen" (Bader/Ludewig 2006: 111) zu gelangen. Und von daher hat sie nicht einfach bloß "ein Höchstmaß an Gegenstandsangemessenheit" (ebd.) zum Ziel, sowie "die angewandten und ggf. neu entwickelten Methoden in den Dienst der Validität zu stellen" (ebd.). Immer geht es ihr zugleich auch um eine "Erweiterung subjektiver Handlungsfähigkeiten" (ebd.). Damit sind Maßstäbe gesetzt, die im aktuellen Diskurs um partizipative Forschung erst einmal einzuholen sind, der sich gegenüber diesen Traditionen und den in ihrem Kontext gewonnenen Erfahrungen weitgehend ignorant zeigt.

"Wie beforschen Dich mit": Nicht nur vom Titel her gesehen schließt dieses Heft an die Nr. 159 der Widersprüche an "Wir bestimmen Dich mit: Partizipation als Konflikt". Es geht um die im Diskurs um partizipative Forschungsansätze in ihrer Programmatik und ihren Erfolgsberichten häufig verdeckten Konfliktdimensionen, wie sie jeweils mit diesen und der darin anvisierten Vergesellschaftung von Forschung verbunden ist. So wird in der Tradition der Wissenschaftsläden Forschung in der Weise vergesellschaftet, dass Frage- und Problemstellungen von Bürger*innen aufgegriffen, dann aber mit vergleichsweise traditionellen Methoden von akademisch gebildeten Wissenschaftler*innen beforscht werden. Auf der anderen Seite des Spektrums stehen Formen der Vergesellschaftung, in denen über Drittmittel finanzierte akademische Wissenschaftler*innen, welche, um zu diesen zu gelangen, oft die Forschungsfragen entsprechend der Ausschreibungen von Förderungslinien formulieren und in ihren Anträgen auch ein entsprechendes Design vorlegen mussten, nun dafür Co-Forschende akquirieren, die dafür bestenfalls ein kleines Honorar bzw. eine Aufwandsentschädigung erhalten, wenn sie sich nicht gänzlich ehrenamtlich in diesen Projekten engagieren. Manche eher handlungsorientierten Projekte der partizipativen Gesundheitsforschung, aber auch community-orientierte Ansätze in der Tradition eines Community Self Surveys oder Hausers Soziatrie (zumeist freilich ohne sich dabei explizit auf diese zu beziehen), ließen sich sogar einer neoliberalen Aktivierungsprogrammatik zuordnen.

Zu den Beiträgen im Einzelnen

Grundlage des Beitrags von Kathrin Aghamiri ist ein ethnografisch ausgerichtetes Praxisforschungsprojekt im Sozialraum Schalke-Nord mit dem Titel "Unsichtbarsein und Sichtbarwerden im Stadtteil". Ziel der Forschung war es mögliche Partizipationsthemen der Bewohner*innen zu rekonstruieren und konzeptionell zugänglich zu machen. Der Beitrag geht der nach, ob so ein Projekt nun partizipative Forschung oder "einfach gute Sozialarbeit" sei. Dabei erscheinen Parallelen zwischen einem partizipativen Forschungsprozess und Sozialer Arbeit mit Blick auf gemeinsame Herstellungspraxen und der Aushandlung von Wissen zwischen Professionellen und Adressat*innen unübersehbar. In diesem Sinn entwickelt der Beitrag Überlegungen dazu, ob Partizipation als Handlungsprinzip der Sozialen Arbeit als Profession und Disziplin ein genuines Merkmal empirischer Forschung in der Sozialen Arbeit sein könnte.

Der Beitrag der vier Autor*innen, Andrea Nagy, Abram J. Lyons, Ines Arendt und Sarah Gzesh erörtert selbstreflexiv und im Austausch miteinander drei entscheidende Elemente partizipativer Forschungsdesigns: Praxisbezug und Relevanz für die Praxis, Fokus auf Veränderung und Einbeziehung verschiedener Interessensgruppen in den Forschungsprozess. Der Artikel geht so der Frage nach an welchen Stellen und in welchem Ausmaß partizipative Forschungsmethoden Veränderungen anregen können, die sowohl zu einem Empowerment beitragen als auch die Option bieten traditionelle Forschungsparadigmen zu durchbrechen. Mit Bezug auf ihre differenzierte Forschungssozialisation(en) verständigen sich die Autor*innen im Hinblick auf subjektive Erfahrungen, Praxisbeispiele und theoretische Bezugspunkte und schließen mit einem Ausblick auf die Frage der Vergesellschaftung partizipativer Forschung in Europa und den USA.

Im Mittelpunkt des Beitrags von Robert Rempel steht die Reflexion des Prozesses zu einem Handlungsforschungsprojekt mit Selbstvertreter*innen im Rahmen der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes. Die Mitwirkenden entlarven in eindrucksvoller Weise Prozesse der Scheinpartizipation und überraschen mit besonderen Aneignungsformen im Forschungsverlauf. Das wirft für den Autor eine ganz zentrale Reflexionsfrage auf: Wie lässt sich der Anspruch der Mitforschung für die Zukunft noch besser verwirklichen?

Eine oft gegenüber der partizipativen Forschung geäußerte Kritik ist, dass diese Projekte in der Regel nicht "von [den] alltäglichen Akteur*innen angestoßen wurden" (Flick, in diesem Band), deren Interessen eigentlich im Vordergrund stehen sollten. Genau dies ist aber die Ursprungsidee der Wissenschaftsläden in Deutschland und auch international. Christof Beckmann interviewt dazu Norbert Steinhaus vom Wissenschaftsladen Bonn um Fragen der Initiierung, der Durchführung und der Verwertung von Forschungsprojekten im Rahmen der Citizen Science zu diskutieren.

Sabine Flick fokussiert in ihrem Beitrag vor dem Hintergrund normativer und erkenntnistheoretischer Grundannahmen von Participatory Action Research Blindstellen dieses Ansatzes. Dazu rekonstruiert sie zunächst Einwände aus der Perspektive von Ideologiekritik und Biopolitik sowie den Vorwurf der Pseudopartizipation. Sie selbst kritisiert den "epistemischen Paternalismus" dieses Forschungsstils und problematisiert die "transformative Reflexivität", welche partizipativen Projekten als Anspruch oft innewohnt. Unter welchen Prämissen kann partizipative Forschung sich gesellschaftskritisch und emanzipatorisch ausrichten? Zu dieser Frage positionieren sich zum Abschluss des Schwerpunktteils Ariane Brenssell aus der Perspektive Kritischer Psychologie, Johannes Stehr aus einer Perspektive nicht-verdinglichender Kritischer Sozialforschung im Anschluss an Heinz Steinert und Michael May in der Tradition materialistischer Dialektik und Praxisphilosophie.

Literatur

Altrichter, Herbert/Gstettner, Peter 1993: Aktionsforschung - ein abgeschlossenes Kapitel in der Geschichte der deutschen Sozialwissenschaft? In: Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau (SLR) 16, 26: 67-75

Bader, Kurt/Ludewig, Birte 2006: "Es gibt kein richtiges Leben im falschen". Zu einigen Problemen subjektwissenschaftlicher Forschung. In: Forum Kritische Psychologie, 50: 110-125

Finke, Peter (2014): Citizen Science. Das unterschätzte Wissen der Laien. München

Freire, Paulo 1975: Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit. 2. Aufl. Reinbek

Hauser, Richard/Hauser, Hephzibah 1971: Die kommende Gesellschaft. Handbuch für soziale Gruppenarbeit und Gemeinwesenarbeit. München, Wuppertal

Klafki, Wolfgang 1978: Handlungsforschung. In: Christoph Wulf (Hg.): Wörterbuch der Erziehung. 4. Aufl. München [u.a.]: 266-272

König, René 1958: Grundformen der Gesellschaft: Die Gemeinde. Hamburg

Lefebvre, Henri 1977: Kritik des Alltagslebens. Kronberg/Ts.

Lewin, Kurt 1968: Tat-Forschung und Minoritätenprobleme. In: Kurt Lewin: Die Lösung sozialer Konflikte. Ausgewählte Abhandlungen über Gruppendynamik. 3. Aufl. Bad Nauheim: 278-304

Lorenzer, Alfred 1974: Wittgensteins Sprachspiel-Konzept in der Psychoanalyse. In: Psyche 28, 9/10: 833-852

May, Michael 2017: Soziale Arbeit als Arbeit am Gemeinwesen. Ein theoretischer Begründungsrahmen. Beiträge zur Sozialraumforschung, Band 14. Leverkusen

Standpunkt Sozial 2022: Partizipative Forschung. Der Forschungsstil mit Konsequenz. Jg. 33, 2022/1, HAW Hamubrg, Fakultät W & S

Seippel, Alf 1976: Handbuch aktivierende Gemeinwesenarbeit. Bd. 1 Konzepte - Bedingungen -Strategien - Methoden. Gelnhausen, Berlin

Spivak, Gayatri Chakravorty 2008: Can the subaltern speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Mit einer Einleitung von Hito Steyerl. Es kommt darauf an. Wien

Unger, Hella von 2014: Partizipative Forschung. Einführung in die Forschungspraxis. Lehrbuch. Wiesbaden

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