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Heft 171: Politik des Erinnerns - Zukunft gestalten, Praxis prüfen

2024 | Inhalt | Editorial | Abstracts | Leseprobe

Titelseite Heft 171
  • März 2024
  • 150 Seiten
  • EUR 15,00 / SFr
  • ISBN 3-98634-011-4
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Urs Lindner
Begründung und Konsequenz
Was heißt Singularität der Shoah?

Der öffentliche Diskurs über die "Singularität der Shoah" ist Gegenstand des Beitrags von Urs Lindner. Er interveniert damit in die aktuelle Erinnerungskultur mit ihren wissenschaftlichen Verkürzungen und politischen Verzerrungen. Die "Einzigartigkeit, Präzedenzlosigkeit, Beispiellosigkeit etc." nationalsozialistisch-rassistischer Ausrottungspolitik wird vom Autor in den Mittelpunkt des Artikels gestellt und mit der Frage verbunden, ob die vielbemühte Singularitätsthese möglicherweise die Praxis einer "inklusiven Erinnerungskultur" verbaut und zudem niemals in Frage gestellt werden dürfe. Ein komplexes Thema im unübersichtlichen wissenschaftlichen Diskurs wird damit angegangen, zugleich ein Beitrag zur politischen Horizonterweiterung vorgelegt. Die These von der Singularität der Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden im Namen des 'deutschen Volkes' zielt somit im Horizont des Kolonialismus-Diskurses (u.a. deutscher Verbrechen im heutigen Namibia) und "postmigrantischer Gesellschaft" auf die diskursive Differenz von "Begründung und Konsequenz" und dessen spezifischen Sichtweisen. Wer sich der Auseinandersetzung widersetze, sich der Kritik verweigere, so der Autor, versiegele die Erinnerungskultur gegen den wissenschaftlich notwendigen Diskurs. Deshalb differenziert Lindner im Lichte der aktuellen Holocaustforschung und "Imperiengeschichte", in drei Etappen, den 'Gegensatz zwischen universalistischem und partikularistischen Shoah-Gedenken'. In den Blick genommen werden somit die "Urteilsstruktur" der "Singularitätsthese", diverse Versionen dieser These sowie das universalistisch argumentierende Narrativ "Nie wieder!". Normative Konsequenzen lassen sich damit ebenso diskutieren wie eine Öffnung des Diskurses im Kontext bundesdeutscher Erinnerungskultur und der Verantwortung des Gemeinwesens für die gesamte 'deutsche' Geschichte einschließlich des historischen Vergleichs mit anderen Katastrophen in der Historie der Menschheit. Leseprobe

Jördis Spengler
Gedenken an queere Opfer des Holocausts

Im weiten Horizont des Opferdiskurs der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 widmet sich Jördis Spengler einer sozialen Gruppe von ausgeblendeten Opfern des Nationalsozialismus. Mit dem "Gedenken an die queeren Opfer des Holocaust" adressiert sie zum einen die Praxis des Verschweigens, des kollektiven Ausblendens nationalsozialistischer Verfolgung und staatlichen Terrors gegen 'Asoziale', 'Minderwertige', 'Lesben' und 'Schwule' in Konzentrationslagern und anderen Gewalträumen des Regimes, zum anderen ein immer noch vernachlässigtes Thema Politischer Bildung. Den "Kreislauf des Schweigens" thematisieren heißt für Spengler sowohl eine rechtspolitische Verbindung zwischen Sexualität und Holocaust herzustellen als auch das "Etikett queer" im Lichte von "Praktiken und Geschlechtsidentitäten" exemplarisch zu diskutieren. Unter Rückgriff auf drei Biografien ("Einzelschicksalen") wird eine "multiperspektivische Erinnerungspolitik" eingeklagt, die Tabus überwindet und Gesellschaft und Sexualität zum Objektbereich einer anspruchsvollen Erinnerungskultur erklärt.

Manfred Kappeler
Organisiertes Vergessen
Wohlfahrtsverbände nach dem Ende der NS-Herrschaft

Die politische Geschichte der Wohlfahrtsverbände nach 1945 sowie deren Verstrickungen in den Nationalsozialismus stehen im Zentrum des Beitrags von Manfred Kappler. In einem quellengesättigten Rückblick, namentlich auf den Deutschen Caritasverband und die Innere Mission/Diakonie wird deren politische Strategie sowohl vor als auch nach 1945 auf Basis einer Sekundäranalyse unter Rückgriff auf zeitgenössische Quellen beleuchtet. In den Fokus der Rekonstruktion geraten somit die strategischen Manöver von Anpassung und Mitläufertum bzw. willfährige Zuarbeit für das NS-Regime unter dem Dach der "Reichsgemeinschaft der freien Wohlfahrtpflege Deutschlands" an der Seite der "Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt" - die jüdischen Verbände wurden 1933 sofort rausgeschmissen - einerseits, die fadenscheinigen Distanzierungen vom 'Dritten Reich' und ihre "Komplizenschaft" andererseits. Der von Kappler vorgelegte Erinnerungsdiskurs zielt in kritischer Absicht zunächst auf die "Auslöschung der Erinnerung", mithin an die systemische Involviertheit ("Maßnahmen") der Verbände in die "sozialrassistische Bevölkerungspolitik" des Regimes auf Grundlage erbbiologischer und rassehygienischer "Klassifizierung der Bevölkerung". Zugleich rückt der Beitrag die Nachkriegs-Rhetorik der nunmehr westdeutschen Wohlfahrtsverbände in den Mittelpunkt. Mit dem Slogan "Not und Hilfe" sollte sowohl dem Vergessen der eigenen Geschichte während des 'Tausendjährigen Reiches' zugearbeitet als auch die sozialpolitischen Ambitionen der Verbände für das NS-gebeutelte "deutsche Volk" unter Ausschluss von "Ausländern" und anderen unliebsamen Person unterstrichen werden.

Thomas Wagner
"Alle Bürger sollen eine Dusche bekommen, nicht nur die, die ihre Miete bezahlen!"

Der Beitrag von Thomas Wagner, "Alle Bürger sollen eine Dusche bekommen", schließt zwar nicht unmittelbar, jedoch zeitversetzt an wohlfahrtsstaatliche Aktivitäten der Bundesrepublik seit den 1970er Jahren an, im dem er 'Asoziale', 'Flüchtlinge' und im weitesten Sinne Displaced Person in den forschenden Blick am Beispiel der Kommune Ludwigshafen am Rhein nimmt. Wagners Perspektive ist eine doppelte. Zum einen geht es darum im Anschluss an Maurice Halbwachs - Schüler der französischen Annales-Schule - ein "kollektives Gedächtnis" methodisch zu bemühen und insofern das historische Vergessen einer Stadtgesellschaft unter Rückgriff auf eine feministische Konflikttheorie zu rekonstruieren, zum anderen den historischen Diskurs der "Ausschließung" von 'asozial' klassifizierter Klientel in drei Etappen einzuholen. Stadtbekannte "Elendsquartiere" u.a. ehemaliger "Fremdarbeiter" prägen somit den Objektbereich des Beitrags zwischen 1970 und der ersten Dekade nach der Jahrhundertwende. Das "Programm Soziale Stadt" wird hierbei ebenso diskutiert wie sozialpolitische Konzepte "im Modus der Kooperation und Dialogbereitschaft" aus den 1990er Jahren, hinterlegt in "Obdachlosenberichte". Der Wandel des kommunalen Diskurses korrespondiert, so die Analyse, mit der Krise des Sozialstaats, zugleich offenbart er die Relevanz des Vergessens und die Vernachlässigung des sozialen Erinnerns im Umgang mit wohnungslosen Menschen. Wagners Beitrag will zwei Aspekte theoretisch und systematisch miteinander verbinden: Spurensuche betreiben, zugleich "Rekuperation" befördern, mithin geistige wie physische Orte dem Vergessen entreißen, um diese für eine belastbare städtische Erinnerungskultur im Sinne Politischer Bildung fruchtbar zu machen.

Friedemann Affolderbach
Erinnern an unsichere Orte
Bruchstücke meiner Erinnerungen an die DDR

Die Konfrontation von eigenen "Erinnerungen an die DDR" mit Redebeiträgen prominenter Politikerinnen und Politiker in einer ARD-Talkrunde, die ebenfalls auf lebensgeschichtliche Wurzeln in der DDR verweisen können, nimmt Friedemann Affolderbach zum Anlass, in kritischer und selbstreflexiver Absicht "Patriotismus und Heimatliebe", "Anspruch auf Nörgelei" sowie "autoritäre Einstellungen" ins Zentrum seines Beitrags zu stellen. Erfahrungen mit der Wende und dessen Bearbeitung werden somit ebenso thematisiert wie beispielsweise "Vorurteile West und Dauerfrust Ost" einer Überprüfung und politischen Würdigung unterzogen. Ausgewählte Sentenzen von Katrin Göhring-Eckardt und Tino Chrupalla liefern den literarischen Ausgangspunkt, die Politik des Erinnerns mit Ideologien, Nebenschauplätzen und Realitätsausblendungen - im vorliegenden Fall reduziert auf Kindheitserinnerungen - zu durchleuchten resp. in Frage zu stellen. Die eigenen Erfahrungen werden derart von Affolderbach mit neuen und alten Realitäten konfrontiert. Die Diskrepanz zwischen "sozialen Zusammenhängen" auf der einen Seite und "Siegererzählungen" auf der anderen verweisen sowohl auf eine "hegemoniale Erinnerungspolitik" als auch auf "Konflikte und [individuelle] Schicksale".

Friedel Schütte
Widerstand als Haltung
Biografische Fährten des Politischen

Friedhelm Schütte gibt mit seinem Beitrag einen nachdenklichen Einblick in seinen politischen Sozialisationsprozess. Die individuelle Erinnerung an und die Auseinandersetzung mit drei Autor:innen, allesamt Opfer von Faschismus, Nationalsozialismus, Franquismus (Falange) und Stalinismus, gerät zum Anlass, "biografische Fährten des Politischen" aufzuspüren und "Widerstand als Haltung" (Praxis) zum Thema eines intergenerativen Erfahrungsaustausch resp. Erinnerungsdiskurs zu erklären. Die Rezeption von literarisch aufbereiteter Primärerfahrung, durchlebt in den Gewalträumen des 20. Jahrhunderts (Gefängnisse, Konzentrationslager, Gulag), spiegelt ein persönliches Szenario politischer Bildung, das Formen "individuellen Widerstandes in lebensgeschichtlichen Grenzsituationen" der so genannten Zwischenkriegszeit nachgeht. Todeserfahrung, der Wille zur Freiheit und politische Irrationalität liefern der Poltischen Bildung nicht nur einen Objektbereich zur historischen Einordnung bzw. zum Verständnis der "europäischen Katastrophe", sondern auch einen tiefen Einblick in die subjektive Be- und Verarbeitung von erfahrener Demütigung, organisierter Willkür und individuellem Widerstand. Das zentrale Anliegen des Beitrags besteht insoweit darin, "Erinnerung [als] Rohstoff der Geschichte" (Jacques Le Goff) zu begreifen und diesen fortwährend, immer aufs Neue sozialer und kollektiver Bearbeitung zu unterziehen.

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