Ein Stück des Wegs zur gemeinsamen dritten Sache
Die Redaktion der WIDERSPRÜCHE hatte mich gebeten, zu diesem Heft mit einem Essay beizutragen, der meine Erfahrungen über den Zusammenhang zwischen Studentenbewegung, neuen sozialen Bewegungen und Neuerungen in der Sozialen Arbeit widerspiegeln sollte. Der Gattungsbegriff Essay verweist auf eine literarische Form der Bearbeitung. Das kommt mir gegenwärtig entgegen. Für eine Atempause in den italienischen Seealpen nahe der französischen Grenze entspannend, bin ich weit weg von jenem notwendigen elektronischen Schnickschnack, der zur Produktion bibliographiefester fachwissenschaftlicher Beiträge gehört. Ich bin deshalb auf das angewiesen, was mir in der Erinnerung als geronnene Erfahrungen bewußtseinsdominant haften geblieben ist. Das hat, wie wir wissen, seine Probleme. Aber bei einem Reizthema wie der zum Code festgefrorenen Jahreszahl 68 sind diese Probleme sowieso nicht vermeidbar. Und zwar auf beiden Seiten nicht. Sowohl die Zeitzeugen wie auch die Zaungäste, die um Erinnerungen und Erfahrungen nachfragen, benutzen das Thema als eine große Projektionsfläche, auf der sie ihre Hoffnungen und Wünsche, ihre Befürchtungen und Vorurteile abbilden. Erinnerungen und Erwartungen laufen für alle Beteiligten durch eine Membrane, die in beide Richtungen selektiv durchlässig ist.
Paradigmawechsel im Studium
Also 68. Dies vorweg: Ich bin kein 68er. In jenem Jahr war ich 40 Jahre alt und seit einiger Zeit Professor für Erziehungswissenschaft/Sozialpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Berlin, die insbesondere durch ihre von Paul Heimann, Wolfgang Schulz und Gunther Otto begründete Berliner Schule der Didaktik über die Grenzen der isolierten Halbstadt hinaus bekannt geworden ist. Meine Sturm-und-Drang-Jahre hatte ich eigentlich hinter mir. Ich hatte auch keine generationstypischen Probleme mit einem Elternhaus, das mit den Nationalsozialisten sympathisiert hätte. Meine Eltern waren lebensreformerisch und sozialdemokratisch orientiert und engagiert und haben mir meinen Weg ins Leben auf vielfältige Weise erleichtert. Ich hatte da keine Rechnungen zu begleichen. Aber ich hatte andererseits auch keine typische Hochschulsozialisation erfahren und erlitten, sondern war während und nach meinem Studium in Berlin und Basel in der Praxis der außerschulischen Jugendarbeit und in anderen, teilweise abenteuerlichen publizistischen Berufsfeldern tätig gewesen. Dann war ich auf Vermittlung durch Ludwig von Friedeburg und Willy Brandt zu einem zweijährigen Forschungsaufenthalt in die USA als Harkness Fellow eingeladen worden. In den Staaten geriet ich in die Nachwehen der Studentenrevolte in Berkeley, nahm an Aktionen der Bürgerrechtsbewegung an der Ostküste teil und profitierte von der kommunikativen Subkultur der folk and protest song-Bewegung um Pete Seeger, Phil Ochs und Joan Baez.
Als ich im Oktober 1965 meine ersten Vorlesungen und Seminare auf dem Lankwitzer Campus abhielt, war ich nicht zuletzt durch die nordamerikanischen Erfahrungen davon überzeugt worden, daß man auch anders lehren, forschen und publizieren könne, als ich es in der redlichen Bürgerlichkeit der Adenauerjahre kennengelernt hatte. Und ich hatte, glaube ich, begriffen, daß man politisch kämpfen könne, ohne zu hassen. Daß Gegner nicht notwendig zu Feinden stilisiert werden müssen, um der Auseinandersetzung die nötige Power zu geben. In Berlin war es damals noch vergleichsweise ruhig. Die Studierenden sagten Sie zueinander und zogen zum Zwecke der Staatsprüfungen für das Lehramt an den Schulen das kleine Schwarze oder den Nadelstreifenanzug an. Erst langsam begann sich das Klima zu ändern. Forderungen nach einer Reform des Studiums wurden laut. Kritisches Studium, alternative Lehrinhalte, Projektstudium und Kleingruppenarbeit waren Kürzel, die über die Vorarbeiten des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes und die Bundesassistentenkonferenz (SDS und BAK) auch auf unserem Campus auf offene Ohren trafen. An der Freien Universität gab es damals eine lose Vereinigung von Studierenden der Soziologie und Philosophie, die sich auf die Vorlesungen und Seminare ihrer Professoren in den vorlaufenden Semesterferien durch eigene Text- und Referatsarbeit in alternativer und kontroverser Absicht präparierten. Die Gruppe um die Zeitschrift Argument machte auch an der PH Berlin Schule. Für meine Wahrnehmung begann das neue Studium mit dem Verkauf eines Raubdrucks des zuerst 1925 erschienenen Buches von Siegfried Bernfeld, Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Der Raubdruck, mit einem handbetriebenen Spiritus-Umdrucker auf umständliche Weise hergestellt, war der Anfang eines alternativen erziehungs- und gesellschaftswissenschaftlichen Studiums, das von studentischen Initiativgruppen ausging. Hochschullehrer schlossen sich diesen Initiativen an oder standen ihnen sympathisierend zur Seite. In anderen Fällen gab es Ablehnung und Widerstand. Einigen Kolleginnen und Kollegen paßte die ganze Richtung nicht. Andere zeigten sich ehrlich besorgt, daß die neue Betonung des gesellschaftswissenschaftlichen Grundlagenstudiums Zeit und Kraft für die Aneignung des umfangreichen Lehrstoffs abziehen werde, der für die Vorbereitung von Lehrern aller Schultypen und Wahlfächer für nötig erachtet wurde.
Für uns Sozialpädagogen war diese Neuorientierung eine deutliche Bereicherung. Wir vertieften uns erstmalig (oder wieder) in die vergessenen, verdrängten und verschwiegenen Texte von Autoren, die eine psychoanalytische oder/und sozialistische Erziehungslehre entwickelt hatten und die eine international gesehen reichhaltige und lehrreiche Praxis vorweisen konnten. Bienenfleißig stellten Lutz von Werder und seine Mitstreiter (darunter der spätere Mitgründer der Kinderladenbewegung und zwischenzeitliche Rektor der Alice-Salomon-Fachhochschule für Sozialarbeit Reinhart Wolff) eine Bibliographie psychoanalytischer, sozialistischer und kommunistischer Autoren zusammen, die von vielen als sinnvolle Anleitung zum gesellschaftswissenschaftlichen Grundlagenstudium verstanden und genutzt wurde. Ich selber hatte aus den USA eine Fülle von neueren sozialwissenschaftlichen Forschungsergebnissen zur Arbeit von und mit Gruppen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen nach Deutschland mitgebracht und teilweise übersetzt. Die berühmten Führungsstil-Experimente von Kurt Lewin und seinen Mitarbeitern Lippitt und White und die Zeltlager-Experimente von Sherif und Sherif, die sich mit dem experimentellen Erzeugen von Zuneigung und Abneigung Jugendlicher durch die Steuerung von Knappheit und Ressourcen-Überfluß befaßten, waren für mich damals von ebenso erhellender Prägekraft wie die Passagen über die erzwungene Familienlosigkeit des Proletariats in der Formierungsphase des europäischen Kapitalismus im Kommunistischen Manifest von 1848.
Eine neue Kommunikationskultur
Dieser curriculare Paradigmenwechsel im Studium der Erziehungswissenschaft, der 1970 mit der Einführung des Diplomstudiengangs in Erziehungswissenschaft mit dem Studienschwerpunkt Sozialpädagogik auch formal legitimiert worden war, indem das Diplomstudium vom Lehramtsstudium getrennt wurde, wäre allein zwar wichtig, aber nicht bewegend gewesen. Man kann auch die Aneignung relevanter Texte durch einen Seminarstil verhindern, dessen implizite Didaktik viele Studierende zur kognitiven wie emotionalen Distanzierung zwingt. Aber im Hinblick auf einen notwendigen methodischen Paradigmenwechsel kamen mir meine jahrelangen Erfahrungen in der außerschulischen Jugend- und Erwachsenenbildung und meine jüngsten nordamerikanischen Erlebnisse zustatten. Denn die universitäre Didaktik der sechziger Jahre in den USA bezog sich immer noch auf die reform- und erlebnispädagogischen Ansätze und Routinen eines Dewey und Kilpatrick und ihrer Projektmethode, ihres Fallstudiums und ihres (in Maßen) experimentell-forschenden Lernens. Meine Mitarbeiter und späteren Professoren-Kollegen Gunther Soukup und Hellmut Lessing kamen beide aus der sozialistischen bzw. gewerkschaftlichen Jugendarbeit. Wir unterschieden uns in der Art und Weise, wie wir Seminare und Übungen organisierten, von der damals an den meisten geistes- und sozialwissenschaftlichen Fakultäten geübten Lehrpraxis. Wir hatten eine deutliche Hochachtung vor funktionalen, d.h. tätigkeitsgenerierten Lehr- und Lernprozessen, die zu Unrecht als Neuerscheinung nationalsozialistischer Erlebnispädagogik etikettiert worden sind und noch heute an vielen Universitäten mißtrauisch beäugt werden. Diese unsere didaktische Grundposition traf sich - und das betrachte ich noch heute als einen Glücksfall - mit den zunächst geduldigen, später immer ungeduldiger werdenden Suchbewegungen unserer Studierenden nach einer Gemeinsamkeit von Lehrenden und Lernenden bei der Erforschung dessen, was berufsqualifizierend und lustvoll gleichermaßen sein könnte. In diesem Zusammenhang spielten für uns damals Bertolt Brecht und seine spezielle Didaktik eine große Rolle. BB als Didaktiker hieß auch eine Vorlesung, die Christine Holzkamp und Gunther Soukup mit mir zusammen mehrfach und unter ungewöhnlichem Zuspruch abgehalten haben. Dabei ging es uns einmal um die gemeinsame dritte Sache, die Brecht in der Bearbeitung des Gorki-Textes über die Pelagea Wlassowa als generationenübergreifendes Bindeglied eingeführt hat. Immerfort hört man, wie schnell/Die Mütter die Söhne verlieren, aber ich/Behielt meinen Sohn. Wie behielt ich ihn? Durch/Die dritte Sache./Er und ich waren zwei, aber die dritte/Gemeinsame Sache, gemeinsam betrieben, war es, die/Uns einte.
Christine Holzkamp stellte das Gedicht Brechts über die Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Wege des Laotse in die Emigration in den Mittelpunkt ihres didaktischen Ansatzes. Beim Überschreiten der Grenze fragt der Zöllner den weisen Laotse nach zollpflichtigen Waren. Nein, sagt der ihn begleitende Knabe. Er hat nur gelehrt. Hat er was rausgekriegt? fragt der Zöllner. Und die Antwort: Daß das weiche Wasser in Bewegung/mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt./Du verstehst, das Harte unterliegt, macht den Zöllner neugierig. Wie das zu verstehen sei, das möchte er wissen. Er bietet dem Alten und dem Knaben für die nächsten Tage ein Obdach, damit sie ihre Erkenntnis aufschreiben können. Nach sieben Tagen händigen die beiden dem Zöllner einundachtzig Sprüche aus und bedanken sich für die Gastfreundschaft. Brecht: Aber rühmen wir nicht nur den Weisen/Dessen Name auf dem Buche prangt!/Denn man muß dem Weisen seine Weisheit erst entreißen./Darum sei der Zöllner auch bedankt:/Er hat sie ihm abverlangt.
Gunther Soukup und Christine Holzkamp haben ihre Erfahrungen als Lehrende und Lernende in dieser Zeit in einem Sammelband niedergelegt, den sie mir zum 60. Geburtstag geschenkt haben (Soukup/Koch 1988: 75ff. und 96ff.). (
Eine neue Praxis in der Stadt wirkt auf die Ausbildung zurück
Dies alles wären vom Brennglas der Erinnerung überglänzte Studiengeschichten, anders geartet vielleicht als die Studiengeschichten unserer Großväter, die sich zu Zeiten des Krassen Fuchs in Marburg und Heidelberg auf dem Pauckboden die Gesichter blutig hieben. Anders vielleicht, aber vielleicht auch nicht so grundsätzlich unterschieden. Wenn es da nicht den einen großen Unterschied gegeben hätte.
Wir - und damit meine ich Studierende, Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer, wissenschaftliche MitarbeiterInnen und Hochschulverwaltung gleichermaßen - haben damals den Versuch gemacht, eine berufsqualifizierende Hochschulausbildung für SozialpädagogInnen und SozialarbeiterInnen zu organisieren, die berufsbefähigend und identitätsstiftend sein sollte - und nicht als identitätsförderndes extracurriculares Schmankerl dem eigentlichen Studium schulterklopfend zur Seite gestellt.
Unser Konzept für ein solches tätigkeitsgeneriertes Studium stand und fiel mit zwei Voraussetzungen, die nicht von der Hochschule selber abhingen: Wir waren abhängig von Studierenden, die in ihrer Mehrheit ein solches Studium wollten, von ihm profitieren konnten und durch vorherlaufende eigene Tätigkeiten darauf vorbereitet waren. Und wir waren abhängig von der Infrastruktur einer Stadt, die von neuen sozialpädagogischen und sozialarbeiterisch relevanten Projekten - ich darf übertreiben? - wimmelte. Berlin war Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre voll von Projekten der Vorschulerziehung, der Kindergarten- und Hortarbeit, der offenen Jugendarbeit in Jugendclubs und Freizeitheimen, in Jugendgruppen und Jugendverbänden, der sozialpädagogischen Arbeit in Wohngemeinschaften und in Familien mit Lebens- und Erziehungskrisen, voll von vorsichtigen Versuchen, die Psychiatrie zu öffnen und auf eine neue Weise mit neuen Zielgruppen und mit neuen Partnern internationale Begegnungen jenseits der bisher geförderten Westorientierung zu erproben. Alle diese Versuche wurden von einem breiten Spektrum junger Leute, die freiwillige Helfer zu nennen ich mich sträube, aktiv vorangetrieben und weiterentwickelt und von einer Jugend- und Sozialverwaltung mit mehr oder weniger Bauchschmerzen getragen, unterstützt, geduldet oder laufen gelassen. Es ist heute noch leicht, über die Bedenklichkeiten der damaligen Stadtbürokratie zu spotten. Sie hatte personelle Schwächen und stru