Grenzen der politischen Bildung und Sozialisation
Abstract
Die Diskussion der Beteiligung Jugendlicher am politischen Geschehen in der Bundesrepublik Deutschland wird seit Jahren vorwiegend vor dem Hintergrund der Annahme einer historisch gewachsenen Politikverdrossenheit nachwachsender Generationen geführt. Politische Bildungs- und Lernprozesse und damit Möglichkeiten und Grenzen des Kennenlernens von und der Mitwirkung an Prozessen politischen Entscheidens werden dabei nur selten in den Blick genommen. Der Beitrag geht auf der Basis der Ergebnisse des kürzlich abgeschlossenen Forschungsprojektes [em]Jugend und Demokratie in Sachsen-Anhalt[/em] den Chancen Jugendlicher zur Begegnung und Auseinandersetzung mit politischen Themen sowie Strukturen in wesentlichen Lebensumwelten Jugendlicher - der Schule, der Familie und im Freizeitleben - nach und kommt dabei zu dem Ergebnis, dass politische Lernprozesse einer privilegierten Minderheit von Heranwachsenden vorbehalten sind.
Politisches Interesse und politische Beteiligung von Jugendlichen sind, wie die internationale Vergleichsstudie Civic Education der International Association for the Evaluation of Educational Achievement (IEA) jüngst aufdeckte, gemessen am internationalen Durchschnitt politisch interessierter und engagierter Heranwachsender, in der Bundesrepublik Deutschland ausgesprochen selten (vgl. Oesterreich 2001; Torney-Purta et al. 2001). Ein Vergleich der Bedingungen der politischen Bildung und der Beteiligung Jugendlicher am politischen Leben in unterschiedlichen Ländern zeigte auf, dass deutsche Jugendliche ein unterdurchschnittliches politisches Engagement zeigen, weniger an Prozessen der schulischen Mitbestimmung interessiert sind und auch seltener in politisch und sozial engagierten Gruppen außerhalb der Schule mitwirken als Heranwachsende anderswo (vgl. Oesterreich 2001: 21).
Sucht man bei Jugendlichen in Deutschland nach den Ursachen dieses Mangels an Interesse für politische Zusammenhänge und Entscheidungsprozesse, dann stößt man rasch an die Grenzen des Wissens um die politische Meinungs- und Willensbildung im Jugendalter. Politische Bildungs- und Sozialisationsprozesse werden in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit und auch in der erziehungswissenschaftlichen und soziologischen Jugendforschung in erster Linie vor dem Hintergrund abweichender politischer Orientierungen Jugendlicher diskutiert und analysiert (vgl. etwa die Fülle der Literatur zur Entwicklung rechtsextremer und fremdenfeindlicher Orientierungen im Jugendalter). Die Ursachen der schon seit geraumer Zeit immer wieder diagnostizierten Politikferne und -verdrossenheit Heranwachsender in Deutschland wird außerdem eher bei der Jugend selbst und ihren lebensweltlichen und kulturellen Orientierungen gesucht als im politikbezogenen Anregungs- und Bildungspotential ihrer Lebensumwelten. Dabei deutet einiges darauf hin, dass nur wenige Heranwachsende in ihrem Umfeld Anregungen zur Auseinandersetzung mit politischen Inhalten und zu demokratischem Handeln erhalten.
Ich möchte in diesem Beitrag ein Bild zeichnen von der Situation politischer Lernprozesse in den wesentlichen Lebensbereichen von Jugendlichen in Sachsen-Anhalt. Dabei beziehe ich mich auf die Ergebnisse einer kürzlich am Zentrum für Schulforschung und Fragen der Lehrerbildung an der Universität Halle-Wittenberg abgeschlossenen Studie zu politischen Orientierungen und Bedingungen der politischen Bildung und Sozialisation Jugendlicher (vgl. www.erzwiss.uni-halle.de; Krüger et al. 2002). Die vorgestellten empirischen Befunde entstammen einem landesrepräsentativen Jugendsurvey und einer qualitativen Untersuchung zu den Bedingungen der politischen Bildung an Einzelschulen.
Ich berichte hier zusammenfassend aus dieser Untersuchung über Formen der Begegnung Jugendlicher mit Politik und politischer Beteiligung in der Schule, in der Familie, in der Freizeit und in der Gleichaltrigengruppe. Dem explorativen Charakter dieses Vorhabens entsprechend, wird zunächst nicht zwischen sozialisierenden und bildenden Einflussfaktoren unterschieden. Darüber hinaus werden neben Formen der direkten politischen Beteilung in den Lebensumwelten von Jugendlichen auch Kommunikationsprozesse über politische Themen sowie die Übernahme sozialer Verantwortung in ehrenamtlichen Aufgaben und Funktionen als politische Aktivitäten Heranwachsender mit einbezogen.
Wie wird man heutzutage in der Bundesrepublik ein “mündiger Bürger”? Wie lernt man, eigene Interessen zu formulieren und diese politisch zu vertreten? Die politische Sozialisationsforschung geht davon aus, dass jeder Lebensbereich spezifische Entwicklungschancen für das politische Lernen von Kindern und Jugendlichen bereithält. Und inzwischen sind auch für alle wesentlichen Lebensbereiche von Jugendlichen - respektive Familie, Schule, Freizeitinstitutionen, Medien und Gleichaltrigengruppe - Effekte der politische Sozialisation nachgewiesen (vgl. z.B. Hopf/Hopf 1997; Hoffman-Lange 1995; Händle et al. 1999; Möller 2000; Kuhn 2000). Dass bislang kein verschiedene Bedingungskontexte umfassendes Gesamtmodell der Genese politischer Einstellungen und Verhaltensformen gezeichnet werden konnte, ist zum einen der Unterschiedlichkeit der in der politischen Sozialisationsforschung vertretenen Theorietraditionen und Forschungsansätze und zum anderen der Komplexität des Gegenstandsfeldes selbst geschuldet (vgl. Claußen 1993: 532).
In diesem Beitrag sollen Formen der Begegnung 14- bis 18-jähriger Jugendlicher mit Politik im Mittelpunkt stehen, die in grundlegende Strukturen demokratischer Verfahren und Prozesse einführen und damit Voraussetzungen für politisches Interesse und aktive politische Beteiligung schaffen.
1. Politische Orientierungen Jugendlicher in Sachsen-Anhalt
Wie sieht das Verhältnis von Jugend und Politik bzw. Demokratie in Sachsen-Anhalt aus? Dazu einige Eckdaten im Überblick (vgl. ausführlich Reinhardt 2002; Reinhardt/Tillmann 2001, 2002): Das Interesse der sachsen-anhaltischen Jugendlichen für Politik ist außerordentlich gering. Nur jeder neunte Heranwachsende zwischen 14 und 18 Jahren interessiert sich für das aktuelle politische Geschehen. Der Anteil der Interessierten steigt mit dem Alter der Befragten und ist unter Jungen dreimal so hoch wie unter Mädchen. Gering ist auch das Vertrauen der Jugendlichen in die Institutionen der etablierten Politik: Etwa ein Drittel der Jugendlichen äußern Vertrauen in die Institutionen der Legislative wie den Bundestag, zwei Drittel in die Institutionen der Judikative und Exekutive (Polizei, Gerichte, Bundeswehr), und lediglich ein Fünftel vertrauen den politischen Parteien. Bürgerinitiativen und Umweltorganisationen wie Greenpeace bringen etwa die Hälfte der Jugendlichen Vertrauen entgegen. Interpretiert man diese Befunde vor dem Hintergrund der Verwicklung der abgefragten Institutionen in konflikthafte politische Auseinandersetzungen, so ergeben sich positive Vertrauenswerte für die Instanzen der Konfliktschlichtung bzw. für Gruppen, die konkrete einzelne Ziele vertreten, und negative Vertrauenswerte für die öffentlichen Instanzen des politischen Konflikts (vgl. Reinhardt/Tillmann 2001: 11).
Analog zu anderen aktuellen Jugendstudien (vgl. z.B. Gille/Krüger 2000; Fischer 2000) zeigt sich damit auch in unserer Untersuchung ein distanziertes Verhältnis der meisten Heranwachsenden in Sachsen-Anhalt zur Politik und ihren Institutionen. Dies wird zusätzlich belegt durch die Vorstellungen der Jugendlichen von Demokratie: “Dass Auseinandersetzungen dem Allgemeinwohl schaden, trifft auf die Zustimmung von etwa der Hälfte der Befragten. Dass die Opposition nicht die Regierung kritisieren, sondern sie unterstützen solle, befürworten sogar ca. zwei Drittel der Jugendlichen. Und fast drei Viertel der Befragten meinen: “Die Interessen des ganzen Volkes sollten immer über den Interessen des Einzelnen stehen.” Offensichtlich werden Interessengegensätze von den Jugendlichen im Bundesland Sachsen-Anhalt nicht als legitim angesehen, sondern die Interessen werden vereinheitlicht. Das Allgemeinwohl wird als feste, gegebene Größe den Auseinandersetzungen gegenübergestellt und mit der Regierung verknüpft (vgl. Krüger et al. 2001: 123).
Dieses Missverständnis betrifft nicht nur die Prinzipien der demokratischen Ordnung, sondern auch die Institution der Demokratie selbst: Nur etwa 40 Prozent der befragten Jugendlichen meinen, ein demokratischer Staat solle durch von allen gewählte Abgeordnete regiert werden. Fast 60 Prozent der 14- bis 18-Jährigen in Sachsen-Anhalt ordnen diese Aufgabe Experten oder moralischen Führern zu. Dazu passt, dass über ein Drittel der Befragten die wichtigste Funktion von Wahlen darin sehen, das Interesse der Bürger an der Regierung zu steigern, und sie damit als “gigantische PR-Veranstaltung” missinterpretieren (Reinhardt/Tillmann 2001: 10). Unsere Befunde zu den politischen Orientierungen von Jugendlichen in Sachsen-Anhalt deuten darauf hin, dass wesentliche Aspekte des Verständnisses von Demokratie einem erschreckend großen Teil der Heranwachsenden unzugänglich bleiben (vgl. auch Reinhardt 2002).
Auch die jugendkulturellen Orientierungen der sachsen-anhaltischen Jugend, bei denen im Sommer 2000 die kommerziellen Musikstile Techno und Hip-Hop dominieren, deuten auf eine hohe Distanz der Jugendlichen zu Politik hin (vgl. Krüger/Pfaff 2002a). Zwischen 1997 und 2000 hat die Zahl der Befürworter soziokultureller Protestbewegungen (Umwelt-, Friedens- und Frauenbewegung) im Bundesland Sachsen-Anhalt deutlich abgenommen. Das linke politische Spektrum hat damit in der letzten Zeit unter Jugendlichen an Einfluss verloren. Hoch sind dagegen nach wie vor die Identifikationswerte mit der rechtsextremen Protestkultur der Skinheads, der sich etwa sechs Prozent der Befragten selbst hinzurechnen und mit der weitere neun Prozent sympathisieren (vgl. Krüger/Pfaff 2001).
Etwa ein Zehntel der befragten Jugendlichen stuft sich selbst als politisch “rechts” ein. Beunruhigend ist vor allem, dass diese Gruppe einerseits stärker politisiert ist als andere Jugendliche und andererseits ein sehr homogenes Bild politischer Einstellungen und Verhaltensweisen zeigt. Rechte Jugendliche würden zu 60 Prozent eine rechte Partei wählen und zeigen mit Abstand die höchste Ausländerfeindlichkeit sowie Gewaltbereitschaft unter den Befragten. Die zu drei Vierteln aus männlichen Jugendlichen bestehende Gruppe verfügt außerhalb der Schule über die größten Partizipationserfahrungen, distanziert sich aber deutlich von Prozessen der schulischen Partizipation. Ein wesentlicher Teil dieser Jugendlichen bekennt sich zu rechten Jugendkulturen wie Skinheads oder Neonazis und kennt und nutzt die Instrumente der Demokratie bei gleichzeitiger Nichtachtung ihrer Werte (vgl. Reinhardt/Tillmann 2002).
Insgesamt variiert die Bereitschaft der befragten sachsen-anhaltischen Jugendlichen, sich für politische Ziele öffentlich einzusetzen, stark mit der Form der politischen Handlungen. So würden sich über 90 Prozent der Jugendlichen an Unterschriftenaktionen beteiligen, etwa 80 Prozent würden wählen gehen und immerhin 70 Prozent wären bereit, in Gremien mitzuwirken, die sich um die Durchsetzung ihrer Ziele bemühen. Die grundsätzliche Beteiligungsbereitschaft nimmt ab mit dem für die Teilnahme erforderlichen Aufwand und der Illegalität der Handlungen. Die niedrigste Bereitschaft verzeichnen dann aber nicht etwa illegale Protestformen, wie die Teilnahme an einer ungenehmigten Demonstration oder an einer Hausbesetzung, zu der noch etwa ein Viertel der Befragten bereit wären, sondern die Mitarbeit in einer politischen Partei, die sich nur ein Fünftel der Jugendlichen vorstellen könnten (vgl. Reinhardt/Tillmann 2002).
Fast drei Viertel der Lernenden in Sachsen-Anhalt stimmen dem Statement zu, es gebe zu viele Ausländer in Deutschland - dabei liegt der Ausländeranteil im Bundesland mit knapp zwei Prozent deutlich unter dem bundesdeutschen Durchschnitt. Und fast ein Drittel der Jugendlichen bejahte fünf der sechs im Fragebogen abgedruckten ausländerfeindlichen Statements (vgl. Krüger/Pfaff 2002b). Diese Jugendlichen begreifen wir als ausländerfeindlich. Als wesentliche Indikatoren für eine hohe Fremdenfeindlichkeit haben wir, neben den oft beschriebenen soziostrukturellen Faktoren Bildung, Alter und Geschlecht, das Aufwachsen in ländlichen Regionen, eine starke gesellschaftsbezogene Orientierungsunsicherheit, die individuelle Offenheit für Fremdes, aber auch Bedingungen in der Familie, der Gleichaltrigengruppe und der Schule identifiziert. Die Gründe für die außergewöhnlich hohe Ablehnung von Ausländern unter den Jugendlichen in Sachsen-Anhalt dürften also in einem komplexen Gesamtgefüge verschiedener Umwelteinflüsse und individueller Dispositionen zu suchen sein (vgl. Krüger/Pfaff 2002b, c).
2. Politik - (k)ein Thema im Familienkreis
In einschlägigen Studien wurden wiederholt Zusammenhänge zwischen den intergenerativen Gefühlsbindungen und Machtbeziehungen und der Bereitschaft von Jugendlichen, sich politisch zu engagieren, nachgewiesen (vgl. z.B. Schulze 1977; Schmitt 1980; Hopf/Hopf 1996). Direkten Einfluss auf die Bereitschaft Jugendlicher, sich mit Politik auseinander zu setzen und politisch zu engagieren, hat die Thematisierung politischer Inhalte in der familialen Kommunikation in Verbindung mit dem Erleben eines hohen politischen Interesses der Eltern (vgl. Kötters-König 2002b). Aber wie viele Jugendliche erleben zu Hause ein politisch anregungsreiches Familienleben? Etwa ein Fünftel der Jugendlichen meint, beide Elternteile seien politisch interessiert. Dabei gilt einerseits, dass Väter von ihren Töchtern und Söhnen als wesentlich interessierter wahrgenommen werden als Mütter, und andererseits, dass das politische Interesse der Elternteile eng mit deren Ausbildungsstatus zusammenhängt. So sind fast zwei Drittel der Väter mit Hochschulabschluss politisch interessiert, aber nur etwa ein Viertel der Väter mit Berufsausbildung. Dass in erster Linie die Jugendlichen, die ihre Eltern als politisch interessiert wahrnehmen, in der Familie in die Kommunikation über Politik einbezogen werden, liegt auf der Hand. So steht der Zugang zu Politik über die familiale Kommunikation und damit die intergenerative Auseinandersetzung über politische Inhalte vor dem Hintergrund emotionaler Bindungen in erster Linie Kindern von Hochgebildeten offen. Außerdem sind Mädchen hier deutlich benachteiligt: Von ihnen kommt nur eine Minderheit von etwa einem Zehntel regelmäßig mit den Eltern über politische Inhalte ins Gespräch. Dabei bilden Mädchen nach eigenen Angaben seltener als Jungen unabhängig von der Meinung Anderer politische Orientierungen aus, d.h. Eltern, Lehrerinnen und Lehrer, Medien und andere Vermittlungsinstanzen sind ihnen im Bezug auf politische Themen willkommenere Meinungsbildner als gleichaltrigen Jungen (vgl. Kötters-König 2002b).
Doch nicht sozialstrukturelle und geschlechtsspezifische Ungleichheiten sind die beunruhigendsten Ergebnisse beim Thema Jugend, Familie und Politik, sondern die frappierend große Zahl politikabstinenter Familien. Insgesamt über drei Fünftel der von uns befragten Mädchen und Jungen erleben im Familienkreis so gut wie keine kommunikativen Auseinandersetzungen über politische Themen, d.h. bei der überwiegenden Mehrheit der Heranwachsenden spielt Politik mit ihren soziale Prozesse und Strukturen determinierenden Entscheidungen zu Hause kaum eine Rolle (vgl. Kötters-König 2002b). Ergebnisse der Gruppendiskussionen mit Jugendlichen zeigten jedoch, dass diesbezüglich ein enormer Gesprächsbedarf von Seiten der Heranwachsenden besteht, der von Seiten der Eltern, ebenso wie übrigens in der Schule, häufig zurückgewiesen wird (vgl. Schmidt 2002b).
3. Verordnete Politik in der Schule!
Politische Bildung an Schulen hat viele Facetten. Wir haben in unserer Studie den Schwerpunkt auf Prozesse der Schülerpartizipation, auf den Politikunterricht sowie auf den Umgang von Schulen mit rechtsextremen Einstellungstendenzen in der Schülerschaft gelegt - eine Fokussierung, die in Teilen auf die Resultate des qualitativen Teils der Civic Education-Studie (vgl. Händle et al. 1999) zurückgeht bzw. angesichts der Interpretationen der von uns durchgeführten Gruppendiskussionen zur politischen Bildung an der Schule nahe lag, in denen diese drei Themen fast durchweg die bestimmenden Diskussionsschwerpunkte darstellten (vgl. Pfaff et al. 2002).
Die Angaben der Jugendlichen zur Partizipation in der Schule ähneln denen zur außerschulischen Partizipationsbereitschaft. Wären noch über 70 Prozent der Befragten bereit, an Unterschriftenaktionen oder Gesprächen mit dem Schulleiter oder Lehrern teilzunehmen, können sich nur rund ein Drittel der Jugendlichen vorstellen, in der Schülervertretung mitzuarbeiten. Das Gesetz von der abnehmenden Beteiligungsbereitschaft bei zunehmender Ressourcenintensität gilt also auch in der Schule. Wer in der Schule bereit ist, sich für die Durchsetzung seiner Ziele zu engagieren, zeigt auch außerhalb der Schule größere politische Beteiligungsbereitschaft (vgl. Reinhardt/Tillmann 2001: 12).
Insgesamt messen nur etwa ein Drittel der Jugendlichen den Instanzen der Schülervertretung eine große Bedeutung zu, darunter vor allem Jugendliche, die selbst über Erfahrungen mit der Mitarbeit in Schülergremien verfügen. Eine funktionierende Schülervertretung kann - das zeigen die Äußerungen von sich selbst als erfolgreich erlebenden SchülervertreterInnen in den von uns durchgeführten Gruppendiskussionen - ein wesentlicher Beitrag der Schule zum jugendlichen Demokratielernen sein (vgl. Schmidt 2002a; Pfaff et al. 2002). Dabei kommt es nicht nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Durchführung der Wahlen von Schülervertretern an, sondern gerade auch auf die Anerkennung der Gremien im Schulalltag (vgl. Schmidt 2002b). Unsere Fallstudien an zwei Schulen zeigen, dass das in der Schule vorherrschende Rollenverständnis von Angehörigen der Schülervertretung die Bedeutung und Effizienz der Instanzen der Schülerpartizipation wesentlich mitbestimmt. Die ambivalente Selbstwahrnehmung von SchülervertreterInnen als Boten von Lehrenden oder die Beschreibung ihrer Tätigkeit als “Sitzen zwischen den Stühlen” deutet darauf hin, dass es Lehrenden immer noch schwer fällt, ihre Entscheidungskompetenz mit Lernenden zu teilen.
Über den Politikunterricht an den untersuchten Schulen in Sachsen-Anhalt fällen die befragten Jugendlichen sowohl in der quantitativen Befragung als auch in den durchgeführten Gruppendiskussionen ein vorwiegend negatives Urteil. Sozialkundeunterricht ist für sie in erster Linie darbietender, lehrerzentrierter Unterricht, der für Lebensweltbezug, Partizipation und Konfliktorientierung insgesamt wenigen Raum lässt (vgl. Kötters-König 2002a). Jedoch eröffnen gerade im Sozialkundeunterricht durchgeführte Diskussionen “im Rahmen simulierter politischer Realsituationen das Übern kontroversen Debattierens und Argumentierens” für Schüler (Kötters-König 2001: 12). Darüber hinaus trägt ein methodisch vielfältiger Politikunterricht zu einem stärkeren Verständnis demokratischer Prinzipien und steigender politischer Handlungsorientierung bei.
Die Resultate der qualitativen Teilstudie deuten darauf hin, dass Lernende im Sozialkundeunterricht vor allem eines vermissen: die Auseinandersetzung, Besprechung und Transparentmachung tagespolitischer Ereignisse (vgl. Pfaff et al. 2002). Ähnlich wie in der Familie erleben sie sich mit ihren Fragen zum aktuellen politischen Geschehen zurückgewiesen. Gerade die befragten Sekundarschüler fordern in ihren Gruppendiskussionen vom Politikunterricht die Vermittlung von Handlungskompetenzen für die Nutzung von Partizipationschancen. Für die Schüler ist das Fach damit Hoffnungsträger und Frustrationspotential zugleich, wenn sie einerseits an den Unterricht die beschriebenen Erwartungen herantragen, wo doch andererseits im schlechten Fall gerade diesem Unterricht Wissensbestände entstammen, die in der Konfrontation mit der politischen Realität zumindest fraglich erscheinen müssen.
Schulen aller Schulformen in Sachsen-Anhalt sind von Problemen mit gewaltaffinen und ausländerfeindlichen Einstellungen in ihrer Schülerschaft und durch das Hineinwirken rechter Jugendkulturen in die Schule betroffen (vgl. Krüger/Pfaff 2002b). Dabei gibt es im Ausmaß der Belastung frappierende Differenzen zwischen einzelnen Schulen. Eine große Reichweite und Bedeutung von Instanzen der Schülermitbestimmung, ein geringes Vorkommen an autoritären, distanzierten und lehrerzentrierten Verhaltensweisen von Lehrern im Unterricht, ein hohes schulisches Schlichtungspotential im Umgang mit Gewalt sowie die Etablierung einer politischen Streitkultur in Schule und Unterricht kennzeichnen die Schulen, an denen nur wenige Jugendliche ausländerfeindliche und gewaltaffine Einstellungen zeigen. Unsere Fallstudien zweier Schulen zeigen, dass auf der schulkulturellen Ebene Handlungschancen für Schulen vor allem darin bestehen, vorhandene Probleme offen zu thematisieren und durch Außenorientierung sowie die Integration ausländischer Schüler zu bearbeiten. Dagegen scheint eine starke Innenorientierung in Verbindung mit Strategien der Harmonisierung und Konfliktvermeidung die schulischen Akteure blind zu machen für Probleme von Gewaltaffinität und Ausländerfeindlichkeit an der Schule (vgl. Pfaff et al. 2002).
4. Jugendliche Freizeitpolitiker und jugendliche Politikabstinenzler
Politisches Engagement und Auseinandersetzung mit Politik im Jugendalter sind in erster Linie Freizeitbeschäftigungen: Die Mitwirkung in schulischen Partizipationsgremien, das Engagement in sozialen Bewegungen und anderen Institutionen der Gesellschaftskritik, Zeitunglesen sowie die Zugehörigkeit zu und Aktivität in politischen Jugendszenen finden am Nachmittag statt und sind eng an die Mitwirkung in Institutionen und festen sozialen Gruppen gebunden (vgl. Pfaff 2002).
Etwas mehr als die Hälfte der 14- bis 18-Jährigen in Sachsen-Anhalt sind Mitglieder in Vereinen, Verbänden oder Organisationen. Diese Jugendlichen kennen Organisationsstrukturen außerhalb der Schule und erleben dort kollektive Entscheidungsprozesse. Dabei dominiert die Mitgliedschaft in Sport- und Hobbyvereinigungen deutlich gegenüber anderen Organisationsformen. Im engeren Sinne politische Institutionen wie Bürgerinitiativen, Ökoverbände, Gewerkschaften und Parteien belegen die letzten Plätze auf der Rangliste der Freizeitinstitutionen Jugendlicher in Sachsen-Anhalt. Rechte Jugendkulturen haben in der Altersgruppe der 14- bis 18-Jährigen deutlich mehr “Mitglieder” als die Jugendorganisationen der aktuellen Regierungs- und Oppositionsparteien zusammen (vgl. Pfaff 2002).
Von den Vereins- und Organisationsmitgliedern im Freizeitbereich engagiert sich immerhin ein Drittel in Amt und Funktion. Damit gehören jüngere Jugendliche, wie das Freiwilligensurvey des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend aus dem Jahr 1999 befand, zu den engagiertesten Altersgruppen in der Bundesrepublik (vgl. Picot 2001). Dieses Engagement zeigt sich nicht nur in der Quantität der Engagierten im Vergleich zu den nichtengagierten Jugendlichen in Sachsen-Anhalt, sondern auch in der Qualität ihrer Freiwilligenarbeit. Ein nicht unerheblicher Teil der jugendlichen Funktionäre ist nämlich, wie die Ergebnisse unserer Studie zeigen, in der Regel nicht nur in einer Organisation engagiert, sondern arbeitet zumeist intensiv in mehreren Organisationen mit, ist positiv in die Schule integriert (hohe Schulfreude, gute Noten) und verfügt auch dort über Erfahrungen in Mitbestimmungsgremien. Diese Jugendlichen sind es auch, die sich in ihrer Freizeit für das politische Tagesgeschehen interessieren und für die auch in der Gleichaltrigengruppe Politik ein Thema ist (vgl. Pfaff 2002). Doch täuscht die Interpretation jugendlichen Engagements als im Vergleich zu anderen Altersgruppen besonders starkes (vgl. Picot 2001) darüber hinweg, dass die Gruppe jugendlicher Freizeitpolitiker nur eine kleine Minderheit ausmacht, der eine viel größere Gruppe von Heranwachsenden gegenübersteht, die sich weder in der Schule noch in Vereinen, sozialen oder ökologischen Initiativen in eigener politischer Arbeit ausprobieren und ihre Interessen vertreten kann. Für diese, man kann fast sagen, von politischen Bildungsprozessen ausgeschlossenen Jugendlichen führt der Weg in die Politik dann nur noch über Jugendkulturen und -szenen, die, wie in Sachsen-Anhalt die rechten Jugendkulturen, stark polemisierend und nicht selten gewaltbereit für fremdbestimmte politische Interessen eintreten.
5. Politik als Ausdrucksmittel Jugendlicher - sozial erwünscht?
Für die Mehrheit der 14- bis 18-jährigen Jugendlichen in Sachsen-Anhalt ist Politik “Erwachsenensache”, die ihnen weder verständlich gemacht wird noch zum Mitmachen einlädt. Da verwundert es nicht, dass sich bis auf eine kleine Minderheit kaum jemand für Politik interessiert und dass demokratische Prinzipien und Verfahren unverständlich bleiben. In den vorgestellten Ergebnissen der Untersuchung Jugend und Demokratie in Sachsen-Anhalt deutet sich an, dass öffentliche Prozesse der politischen Bildung und Beteiligung Jugendlicher in Sachsen-Anhalt Prozesse der Elitenbildung sind, an denen nur eine kleine Gruppe soziostrukturell bevorteilter und institutionell hoch integrierter Jugendlicher partizipieren kann. Gerade intergenerative Kommunikationsprozesse über politische Themen in der Familie, in der Schule und in Vereinen, Organisationen und Initiativen, aber auch das selbständige Ausprobieren eigener politischer Handlungsformen in Institutionen scheinen einem großen Teil der Heranwachsenden verwehrt zu bleiben. Außerdem deutet einiges darauf hin, dass es sich bei der nachgewiesenen Distanz zu Politik und dem aufgezeigten Unverständnis für grundlegende demokratische Prinzipien bei sachsen-anhaltischen Jugendlichen eben nicht um Anzeichen jugendlicher Ablehnung und intendierter Ausblendung des politischen Geschehens aus der eigenen Lebenswelt handelt, sondern um Symptome des Fehlens von Mitteln und Foren der Auseinandersetzung, von Erklärung politischer Strukturen und Ereignisse sowie nicht zuletzt von jugendspezifischen Beteiligungsformen für Heranwachsende im Bundesland Sachsen-Anhalt.
Wenn die hier dargestellten Ergebnisse in einigen wesentlichen Aspekten (fehlendes Verständnis demokratischer Prinzipien, ungleiche Verteilung von Chancen zur Kommunikation über Politik sowie von Beteiligungsmöglichkeiten) auf andere Regionen in der Bundesrepublik übertragbar sind, worauf einiges hinweist (z.B. die eingangs referierten Ergebnisse des deutschen Teils der Civic Education-Studie), dann leidet unsere Gesellschaft an dem eklatanten Widerspruch, einerseits permanent nach einer stärkeren Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger zu verlangen und die scheinbare Politikverdrossenheit nachwachsender Generationen zu beklagen, andererseits aber Prozesse der politischen Bildung und Partizipation sowie insbesondere die Förderung der Teilnahme strukturell benachteiligter Jugendlicher an diesen Prozessen sträflich zu vernachlässigen. Politische Bildung und Sozialisation in der Bundesrepublik sind in erster Linie politische Bildung und Sozialisation in Institutionen, welche die Integration in etablierte Organisationen voraussetzen und welche unkonventionellen Formen jugendlichen politischen Protests, z.B. in politisch orientierten Jugendszenen, die Anerkennung verweigern bzw. staatliche Sanktionsmacht entgegenstellen.
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