Transformation in Deutschland?

Eine polemische Betrachtung

Diskussionsbeitrag gehalten auf der Redaktionstagung der "Widersprüche" zum Thema "Transformation in Deutschland" am 8./9. Januar 1993.

Unmittelbar im Gefolge der "Wende", der "friedlichen Revolution", des "Zusammenbruchs" im Osten Deutschlands erlebte der Begriff "Transformation" in den Versuchen, die gesellschaftlichen Vorgänge wissenschaftlich oder feuilletonistisch zu erfassen und weiterzudenken, Hochkonjunktur. Transformationstheorien und Transformationstheoretisches bestimmten den Diskurs in vielen wissenschaftlichen und politischen Zeitschriften und Publikation, namentlich im Osten Deutschlands. Transformationstheorien und -analysen brachten es in der Nachwendezeit sogar zur wissenschaftspolitischen Etablierung in verschiedenen, staatlich geförderten Forschungsprogrammen zur Analyse des kulturellen, politischen und sozialen Wandels in den "neuen" Bundesländern. Allerdings zeichnet sich heute, Anfang 1993, diesbezüglich bereits eine deutliche Abnahme des "offiziellen" öffentlichen Interesses und damit der Fördermittel ab.

Augenfällig ist dabei, daß dies nicht nur eine Domäne vor allem ostdeutscher Wissenschaftler wurde, sondern daß das Thema in aller Regel auch "Transformation in Ostdeutschland" war und ist. "Transformationen in Deutschland"? Wieso eigentlich, - finden denn in Westdeutschland auch gesellschaftliche Transformationsprozesse statt? - Nicht Vereinigung, sondern "Beitritt" heißt doch die geschichtliche Inszenierung. Der Anschluß der DDR-Gesellschaft an das gesellschaftliche System der BRD bzw. deren Ausdehnung auf Ostdeutschland ist ihr Inhalt. Also wäre nur von einer Transformation in Ostdeutschland als Angleichung oder Anpassung zu sprechen?

1. Transformation in Ostdeutschland?

Anschluß ohne wenn und aber, das bedeutet die Expansion des bundesdeutschen Systems auf das Beitrittsgebiet, auf die (ostdeutschen) Länder, in denen das Grundgesetz und die bundesdeutsche politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Verfaßtheit vor dem 3.10.90 nicht galten. Dieser Vorgang wurde/wird politisch und geistig durch zweierlei Bedingungen bestimmt. Zum einen durch die Implosion des politischen Systems des "Realsozialismus" in der DDR (und in ganz Osteuropa), die nicht nur dessen konservative und restaurative Kräfte paralysierte, sondern auch allen Versuchen sozialreformerischer Reorganisation die gesellschaftliche Legitimation entzog. Zum anderen wird dieser Anschluß durch eine politische und geistige Bestimmtheit geprägt, die ursächlich in der "konservativen Wende" in der bundesrepublikanischen Gesellschaft wurzelt. Und diese Wende lag lange vor 1989. Sie bekam durch die "Wende" im Osten ihre "zweite Luft" und eine unübersehbar restaurative Dynamik.

So zerstoben rasch alle Transformations-Seifenblasen, die 89/90 hüben und drüben durch die Luft flogen, - hier von Reform-SEDlern und Bürgerbewegten und dort von "West-Linken" verschiedenster Prägung geblasen und jongliert. Die Transformation mittels der Vereinigung sollte "Positives" beider Systeme zusammenführen (Welch merkwürdig undialektische Vorstellung?!). Anschluß an die "Moderne", an die Zivilgesellschaft und Hochtechnologie für den Osten einerseits, und Übernahme bestimmter sozialer und solidarischer Komponenten sowie ein zweiter Nach68er-Demokratisierungsschub für den Westen und das vereinte Deutschland andererseits: so oder so ähnlich lauteten die Vorstellungen, die meist mehr fromme Wünsche oder ein verzweifeltes Gegen-den-Wind-Spucken waren als politikmächtige Gegenentwürfe gegen den mainstream.

Die Realität des gesellschaftlichen Umbruchs im Osten Deutschlands bekam, - für wen eigentlich wirklich überraschend - ein anderes, ein häßliches Gesicht. Die Industrie, ungeschützt dem Druck des Welt(West)marktes ausgesetzt, brach zusammen. Eine Massenarbeitslosigkeit folgte, die regional diejenige der Weltwirtschaftskrise vor 60 Jahren weit übertrifft. Aber die Deindustrialisierung des Ostens bildet nur ein Moment des Zerfalls und der Zerstörung aller wirtschaftlichen, sozialen, politischen und geistig-kulturellen Strukturen. Sie wurden/werden durch neue, altbewährte ersetzt. Dieser gewaltige Strudel gesellschaftlicher Um- und Abbrüche riß auch alle Neuansätze der "Wende", auf die die Linken im Osten wie im Westen irrational große Hoffnungen gesetzt hatten, gleich mit weg.

2. Kolonialisation und Kolonialherren?

Die Starrheit und Selbstherrlichkeit, mit der das westdeutsche System von seinen Protagonisten auf die ostdeutsche Gesellschaft aufgedrückt wurde und wird, erzeugten Widerspruch und ansatzweise Widerstand und provozierten Begriffe wie Kolonisation und Kolonialherrenmentalität in der politischen Debatte. "Deutsch Nordost" titelte die Redaktion einer Zeitschrift eine Sammlung von Abhandlungen über Transformations- oder Anpassungsprobleme in Ostdeutschland. Trotz sicherlich augenfälliger Analogien halte ich diese Begrifflichkeit analytisch für unbrauchbar. Es sind ideologische Kampfbegriffe, und als solche mögen sie auch nützlich und akzeptabel sein, da sie Haltungen und Vorgänge inkriminieren, die tatsächlich mehr als kritikwürdig sind. Was soll das aber für ein Kolonialismus sein? Natürliche Ressourcen sind in der Ex-DDR nicht zu holen. Die Abwanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte ist nicht das Ergebnis einer Kolonialisierungsstrategie, sonder vielmehr Nebeneffekt der Deindustrialisierung. Und als Absatzmarkt und "verlängerte Werkbank" ist der Osten Deutschlands letztlich von nur geringer und temporärer Bedeutung. Auch die innere "Landnahme" ist, genau betrachtet, lediglich "gewöhnlicher" Kapitalismus, - nur zu staatlich abgesicherten Vorzugsbedingungen.

Macht der Anschluß den Osten nicht vielmehr zum genuinen Teil eines imperialistischen "Mutterlandes" und so zum Teilhaber an weltweiter neokolonialistischer Ausbeutung? Und was meistens den Kolonialherren-Vorwurf provoziert, die Übernahme aller Schlüsselstellungen in der Verwaltung, Kultur und Wissenschaft durch die West-Administration, verläuft doch eher untypisch. Traditionelle Kolonialpolitik hat die Oberschichten der angeeigneten Gebiete zur Stabilisierung seiner Kolonialmacht zu integrieren gewußt. Der Elitenaustausch und die Desintegration der staatstragenden Schichten der DDR erinnert dagegen eher an Eroberung und Unterwerfung.

3. Die verwehrte Integration

Die Desintegration der Masse der vormals staatstragenden Schichten ist ein signifikanter Vorgang in der ostdeutschen "Transformation". Rein "herrschaftstechnisch" gesehen, scheinen die Regierenden mit Blindheit geschlagen zu sein, weil sie das Integrationsgebot einer stabilen Herrschaft, das selbst die preußisch-junkerlichen Herrschaften des wilhelminischen Deutschlands letztlich noch begriffen hatten, scheinbar ohne ersichtlichen Grund mißachten. Sie grenzen ohne Not hunderttausende zur Staatsloyalität (v)erzogene Staatsbürger im Osten sozial und auch geistig-kulturell aus und machen sie damit zu "outsidern" wider Willen. Die Masse dieser Staatsbürger war und ist auch heute noch integrationsbereit und willig, sich in das neue System einzupassen. Die Integrationserwartung und Anpassungsbereitschaft war groß. Wollten sie nicht fast alle erklärterweise die Deutsche Einheit "mitgestalten", inklusive der politischen Ost-Linken in PDS und Bürgerbewegung?

Die sich als Reaktion auf die widerfahrende Ausgrenzung bildenden Interessenverbände und Schutzgemeinschaften der Angestellten der vormals staatstragenden Bürokratie (Lehrer, Wissenschaftler, Mitarbeiter aus dem Ministerialapparat, aus Justiz, Armee und auch Staatssicherheit) fordern bis heute doch nichts anderes als eine Aufnahme in den neuen "gesellschaftlichen Grundkonsens" und eine soziale Anerkennung ihres Wirkens für ein Staatswesen, das international anerkannt gewesen sei und in dem sich ihre Tätigkeit kaum von der ihrer westdeutschen Kollegen unterschieden habe. Dabei wird die Bereitschaft zur Loyalität gegenüber dem neuen Staatswesen stets völlig glaubwürdig beteuert und die so verfehlte Deutsche Einheit beklagt.

In dieser Klage unterscheiden sie sich kaum von den sozialreformerischen Protagonisten der Transformationslehre aus Wissenschaft und Politik, die bis in die jüngste Zeit gegen das radikale Abwickeln von Strukturen und Personen eine Transformation im Osten beschworen, die zwar im Sinne der "Modernisierung" entwicklungshemmende Strukturen zerstöre, aber zugleich die "Selbstentfaltungskräfte" der ostdeutschen Gesellschaft fördere. Die Transformation des Ostens in die Moderne könne sich doch nicht, so warnen sie, als Fremdbestimmung vollziehen, sondern nur als selbstbestimmte Neuordnung.

Dieses politische und wissenschaftliche Transformationskonzept war aber nicht nur meist bodenlos, sondern auch zwiespältig. Bodenlos war es von Beginn an, sofern es sich an Adressaten wendete, die Herrschenden und Regierenden in der BRD, die völlig taub für diese Botschaft waren, weil sie anderes im Sinne hatten mit der deutschen Vereinigung als eine nachholende Modernisierung im Osten. Und zwiespältig war es, insofern es das Angebot von reformistischen DDR-staatsstragenden Schichten enthält, als ostdeutsche "Selbstentfaltungskräfte" der Modernisierung zu wirken.

Dafür, daß die herrschenden Kräfte der BRD dieses Angebot nicht annahmen, gibt es nachvollziehbare Gründe:

1. Der Grad an Herausforderung und Negation der bürgerlichen Gesellschaft, den die antikapitalistische DDR darstellte, fordert deren restlose Liquidierung. Alles was bliebe, wäre im Keime Zweifel am bestehenden System, das sich gerade im Lichte des Zusammenbruchs seines Widerparts geschichtlich wie systematisch allumfassend sanktioniert wähnt und, vielleicht auch mit Blick auf die unsichere Zukunft, die vermeintliche Totalität des eigenen Triumphes realpolitisch zu zementieren trachtet. Trotz allem Schwadronieren von 55 Jahren Diktatur im Osten Deutschlands ist die heute zu tilgende Verschiedenartigkeit in wesentlichen gesellschaftlichen Strukturen weit größer als nach dem Zusammenbruch von 1945. Die bundesdeutsche Gesellschaft konnte sich aus der faschistischen transformieren wie diese sich aus der Weimarer Republik transformiert hatte. Die DDR-Gesellschaft war aber in wesentlichen sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen von ganz anderer Art. Insofern ist es vielleicht geschmacklos, aber nicht unlogisch, daß Generäle, Richter, Beamte des NS-Regimes als Stützen "der Gesellschaft" ihre hohen Pensionen bekamen und bekommen, während dies den ehemaligen DDR-Eliten meist versagt wird.

Die tiefempfundene Andersartigkeit verstellt zugleich den Blick für die Gemeinsamkeit von politischer Bürokratie und Herrschaft. Deshalb müssen einfach die Ostdeutschen in vergleichbarer Position, trotz der "oberflächlichen" Ähnlichkeit, ganz anders sein wie ihre westdeutschen Kollegen. Dies realistischer Weise zu relativieren, würde den politisch gewollten Negations- und Eliminierungsprozeß in Frage stellen. Deshalb wird in Fortschreibung der Logik des Kalten Krieges behauptet, wer nicht mit uns war, ist gegen uns. Deshalb werden "Staatsnähe" und "-loyalität" ironischerweise zum existenzgefährdenden Makel.

2. Die konservativen Kräfte der BRD haben mit dem Gewaltritt zur Deutschen Einheit, fern jeder geschichtlichen Ambition, ganz triviale Politik des Machterhalts betrieben und die politisch liberalen und sozial reformerischen Kräfte in die Defensive gedrängt, ja in die Flucht geschlagen. Sie suchen den Niedergang des Ostens, in einen "totalen Sieg" zu verwandeln. Dazu beschwören sie den Antikommunismus und die Totalitarismusdoktrin, die Feindbilder des Kalten Krieges wieder herauf und zwingen ihre liberalen und sozial reformerischen Gegner zur Verleugnung von 25 Jahren Demokratisierung in der BRD. In dieser ideologischen Gesamtsituation ist die Ausgrenzung hunderttausender Ostdeutscher nur Manövriermasse der Machtsicherung, nicht gegen kryptokommunistische Systemgegner, die ominösen alten Seilschaften, sondern gegen den Konkurrenten um die Pfründe der gesellschaftlichen Machtpositionen.

3. Und letztlich hat die Ausgrenzung und Abwicklung der DDR-Herrschaftselite und der staatstragenden Schichten auch ganz normale, triviale Konkurrenzgründe. Im politischen, staatsbürokratischen aber auch wissenschaftlichen Bereich geht es alltäglich um sozialen Aufstieg und die Vorteile öffentlicher Ämter, Posten und Bezüge. Zusammenbruch und Anschluß des Ostens boten die überraschende Chance zur Entspannung der Konkurrenzsituation im Westen, zum Abbau eines bis dato unauflösbaren Karrierestaus. Es ist, für einen "Ossi" zumindest, erstaunlich, welche Wege ein "Wessi" für ein existenzabsichernden Lehrstuhl bereit ist zu gehen, oder für eine Beamtenstellung im gehobenen Dienst.

Und durch den totalen Charakter des Umbruchs gewinnt dieser Vorgang auch eine gewisse Legitimität. Wie sollte sich die ostdeutsche Bürokratie anders der westdeutschen Gesetze und Spielregeln über Nacht versichern? Wer von nun an etwas erreichen wollte, brauchte zumindest vorübergehend Westfachleute: ob er nun Forschungsmittel beantragen oder Bankkredite bekommen wollte, eine Steuererklärung abfaßte oder Bauanträge stellte bzw. bearbeitete.

Aber eines muß man auch unbedingt festhalten, daß dies alles nicht so verhältnismäßig reibungslos funktionieren würde, wenn nicht natürlich auch die Ostdeutschen versuchten, die Eliminierung der alten Elite zum sozialen Aufstieg zu nutzen. Die Durchlässigkeit und Instabilität der sozialen Strukturen und Schichtungen sind Ausdruck des revolutionären bzw. nachrevolutionären Charakters der gesellschaftlichen Situation. Wann sonst können Leute aus der unteren Mittelschicht binnen Wochen in die Spitze der Gesellschaft aufsteigen?

4. Revolutionärer Systemwechsel?!

Ideologische Begriffe wie "Kolonialpolitik" oder auch "Siegermentalität" zielen auf eine moralische Verurteilung der Anschluß-Praxis und unterstellen im Grund genommen "absichtsvoll böse" Politik als Quelle der bedrückenden Vorgänge. Sie verstellen die Sicht auf die Tatsache, daß hier ein gesellschaftlicher Systemwechsel stattfindet, der normalerweise von Krisen und Ruin, Tod und Vernichtung begleitet ist. An diesen Maßstäben gemessen ist der Umgang mit der gestürzten Herrschaft und ihren Unterstützern und Trägern doch ganz zivilisiert: Vertreibung aus dem öffentlichen Dienst, politisch und ideologisch selektives Rentenrecht, willkürliches Außerkraftsetzten des juristischen Rückwirkungsverbotes, Selektieren der Parteigänger des alten Regimes aus Lehre, Wissenschaft und Volksbildung, und in Ausnahmefällen nur Eigentumsentzug und politische Prozesse. Daß es dabei Absurditäten, soziale Härten und vielerlei menschliche Tragödien gibt, ändert nichts an der Tatsache, daß diese gesamtgesellschaftliche Umwälzung (Revolution), im geschichtlichen Maßstab betrachtet, geradezu komfortabel verläuft. Sicher, nach den Kategorien des "Rechtsstaates" und der Demokratie sind viele Vorgänge im Grunde unerträglich, für eine Revolution aber mehr als "zivil".

Es ist schon eine historisch-politische Absurdität, daß diejenigen, welche Unrecht und Ungerechtigkeit der Abwicklung im Osten anprangern, zugleich von "KonterRevolution" sprechen, während die jenigen, welche diesen sozialen und politischen Umsturz vorantreiben und legitimieren, dies im Namen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit tun, und sich ständig durch deren Normen ein geschränkt fühlen bei der Realisierung in ihrer "Mission".

An dieser Stelle sollten wir die Frage durchdenken, inwiefern nicht die "evolutionäre Umwandlung" die eigentliche Form von Transformation ist, und die gegenwärtige Umwälzung in Ostdeutschland als revolutionärer Systemwechsel vom Wesen her nicht unter den Transformationsbegriffe zu fassen ist. Beinhaltet dieser doch, daß die alte Form in eine neue gewandelt wird. Wogegen in den hier in Rede stehenden gesellschaftlichen Prozessen die alte Form völlig zerschlagen wird, um an ihre Stelle eine andere zu setzen.

a) Symptom: Fremdheit

Ein revolutionärer Wechsel des gesellschaftlichen Systems reduziert sich eben auch nicht darauf, daß man einfach die "Machthaber" in den Ruhestand oder ins Gefängnis schickt und die systemtragenden Schichten sozial degradiert. Er beinhaltet vielmehr eine fundamentale Umwälzung aller gesellschaftlichen Verhältnisse und Beziehungen. Bedeutet dies schon im "Normalfall" soziale und kulturelle Verunsicherungen, so kommt im Falle des Anschlusses der DDR noch der Fakt hinzu, daß quasi über Nacht ein entfaltetes, funktionierendes gesellschaftliches System einem sehr andersartig formierten Gemeinwesen übergestülpt wird. Die natürlich erleichternd wirkenden Umstände gemeinsamer Wurzeln und einer über all die Jahrzehnte fortdauernden kulturellen Nähe werden vollständig dadurch aufgehoben, daß die herrschende Politik und Meinung die gewachsene Differenz und Andersartigkeit im öffentlichen Bewußtsein ignoriert oder bagatellisiert. Dies mußte das Gefühl der Fremdheit, auch wo der Anschluß gewollt war, enorm verstärken.

Der Alltag wurde Millionen Menschen von heut auf morgen fremd. In der Kaufhalle gab es nicht mehr die vertrauten Waren; an den Zeitungskiosken hingen andere Zeitungen; das Geld war anderes geworden; die Formulare auf den Behörden waren andere, viel umfangreicher und oft völlig unverständlich. Die erlernten Fähigkeiten zur Meisterung des Alltags verloren über Nacht an Wert. Man war irgendwie plötzlich Fremder im eigenen Land. Entfremdung und Verdruß sind heute deshalb in Ostdeutschland nicht sozialpsychologisches Attribut allein der abgewickelten Herrschaftsschicht von gestern, sondern weit verbreitet.

Agile und Anpassungsfähige konnten sich rascher sozial assimilieren und sich noch als Wendegewinner etablieren, und zwar relativ unabhängig von ihrer Stellung im alten System. Die "Seilschaften"-Phobie von Ost-Bürgerbewegten und West-Politikern war meist unbegründet und zu oft ein berechnend eingesetztes Instrument der Legitimierung von andere Ziele verfolgender Abwicklungspolitik, oder mitunter nur triviales Mittel der Umsetzung individueller Karriereambitionen. Sie hatte aber unverkennbar auch einen rationalen Kern. Natürlich werden geübte Karrieristen und Anpasser von gestern auch im neuen System oftmals schneller wieder auf die Füße kommen als andere, sofern man sie nur läßt. Und gerade deshalb ist es aber auch absurd, wenn immer wieder ehemalige DDR-Oppositionelle das neue System zur politisch-moralischen Abrechnung mit Macht- und Herrschaftspolitik des alten und deren Repräsentanten anrufen. Das führt sie selbst zwangsläufig in die Instrumentalisierung durch Herrschafts- und Machtinteressen.

b) Irrlicht: Demokratisierung

Für die Mehrheit der sich für eine "Wende" in der DDR politisch und sozial engagierenden Menschen war der wesentliche Defekt des realsozialistischen Systems nicht so sehr die wirtschaftliche Ineffizienz als vielmehr der Mangel an Demokratie. Demokratisierung war einigendes Ziel und treibendes Motiv der auf Veränderung drängenden Bewegung. Doch abgesehen vom kurzen Zwischenspiel in den euphorischen Wendemonaten wurde dieses Ziel bald von der Tagesordnung abgesetzt. Das gesellschaftliche System des ostdeutschen "Realsozialismus" wurde nicht demokratisiert, sondern abgeschafft, durch ein anderes ersetzt. Ob das alte System überhaupt demokratisierbar war, sei dahingestellt. Das neue System nimmt zwar für sich in Anspruch, demokratischer zu sein, aber nicht als Demokratisierung der alten Verhältnisse, sondern als alternative Neusetzung.

Wo dieser Unterschied übersehen wird, gerät die Debatte in eine eigentümliche Schieflage und verkrampft zur Unverständlichkeit. Wer das Scheitern der Demokratisierung nicht wahrnimmt und die neuen Verhältnisse an den alten Zielvorstellungen mißt, der muß entäuscht oder gar verbittert reagieren. "Ist ja alles wie früher", ist ein heute weit verbreiteter resignativer Seufzer, obwohl alles ganz anders ist. Die Demokratisierung sollte eine Entmachtung der bürokratischen Apparate über das Leben der Gesellschaft bringen und damit mehr Selbstbestimmung und Individualität. Die Wende brachte aber andere Herrschaftsverhältnisse und nicht die erhoffte Demokratisierung. Das sie den alten ähnlich sind, manchmal zum Verwechseln ähnlich, heißt doch nur, daß auch sie Herrschaftsverhältnisse sind. Und es hantiert mit völlig verfehlten Maßstäben, wer sich beklagt, daß es nicht nur so ist "wie früher", sondern daß es mitunter auch noch die gleichen Leute sind "wie früher". Die demokratische Revolution ist versandet, gescheitert. Ihre Maßstäbe sind nicht nur untauglich für die Betrachtung der heutigen Verhältnisse, sondern sogar gefährlich, weil sie zwangsläufig den kulturgeschichtlichen Wert dieser realexistierenden parteienparlamentarischen Demokratie der BRD verkennen lassen.

Wer andererseits immer noch meint, es sei Demokratisierung auf die Tagesordnung gerufen, der kommt wie manch Bürgerbewegter auch in eine andere Falle. Er versucht, Strukturen der alten Macht zu zerschlagen und Personen der alten Macht aus mehr oder weniger einflußreichen gesellschaftlichen Positionen im Sinne einer demokratischen Erneuerung zu entfernen, und leistet dabei nur Hilfsdienste bei der Etablierung neuer Machtstrukturen und neuer Statthalter von Macht. Was selbst auch nicht sonderlich problematisch wäre, wenn nicht die neuen Strukturen und Personen durch diesen Vorgang eine moralische und politische Legitimation erhielten, die ihnen nicht zukommt und die antiemanzipatorisch wirkt. So konnte/kann sich unter dem Banner der "Demokratisierung" auch stockkonservatives, ja reaktionäres Denken und Tun im Osten Deutschlands etablieren.

Jeder, dem es um die Demokratisierung ernst ist, muß sowohl dieser Falle ausweichen als auch zum Maßstab seines Wertens und politischen Handelns den genuinen Entwicklungszusammenhang des westdeutschen politischen Systems machen - und nicht die Demokratisierungsillusionen der Wende. Letzteres verhilft zu einer gelassenen Würdigung der gewonnen oder geschenkten demokratischen Freiheitsrechte und offenbart deren ernsthafte Gefährdung, die nicht durch die "Wende" und deutsche Einheit verursacht, wohl aber verschärft worden ist.

5. Transformation in Westdeutschland?

Es heißt eine triviale Binsenweisheit auszusprechen, wenn man verkündet, daß die Entwicklungen im Osten natürlich Rückwirkungen auf den Westen Deutschlands, damit auf ganz Deutschland haben werden. Alles hängt halt letztlich zusammen. Doch die "Rückwirkungsfurcht", die heute immer mehr Westdeutsche beschleicht ist anderer, konkreterer Natur: Wenn das, was da jetzt im Osten abläuft, Schule machte, so warnt mit Bangen der Gewerkschaftsfunktionär angesichts der Aushöhlung des Tarifvertragssystems, der Mietervertreter angesichts des Mieten- und Grundstückshasards oder der engagierte Demokrat angesichts von Regelanfrage bei Geheimdiensten, Gesinnungsschnüffelei, Berufsverboten, der Suspendierung der "Unschuldsvermutung", pauschaler Gruppenschuldzuweisungen und der Umkehr der Beweislast oder auch angesichts politisch motivierter Eingriffe ins Renten- und Sozialrecht.

Sicher gebärden sich der Kapitalismus und seine politische Herrschaft im Osten gemessen an den westdeutschen Erfahrungen der letzten Jahrzehnte nicht zuletzt so überraschend "unzivilisiert", weil die ihn begrenzenden politischen Gegenkräfte sich nicht mit der gleichen urwüchsigen Raschheit etablieren konnten. Und sicherlich wird manch besondere Überspitzung dieser Tage eine Erscheinung des Übergangs bleiben. Dennoch, die Befürchtungen sind nicht unbegründet, aber sie haben eine Orientierungsschwäche. Es ist nicht die ostdeutsche Realität, die vor allem aufschrecken sollte, sondern die "westdeutsche" Praxis im Osten Deutschlands. Denn wir haben es hier nicht mit kolonialistischen Entgleisungen zu tun, und auch nicht mit trunkener Siegerlaune. Vielmehr können wir hier, wie bereits gesagt, die unbegrenzte Entfaltung und allgemeine Verschärfung der politischen und ideologischen Trendwende beobachten, die bereits seit Ende der 70er Jahre in der BRD mehr oder weniger kontinuierlich voranschreitet. Der Zusammenbruch der DDR und des Realsozialismus haben dieser Entwicklung durch die Schwächung und Zerstreuung ihrer Widersacher "lediglich" einen hegemonialen Schub verliehen und zugleich die restaurativ-reaktionäre Tendenz in ihr verstärkt.

Es ist doch nur ein scheinbarer Widersinn, daß mit dem Zusammenbruch der DDR und des Ostblocks die Ideologie des kalten Krieges und des dumpfen Antikommunismus eine schon verloren geglaubte Definitionsmacht in Deutschland zurückgewinnt und immer unverhohlener die Revision von 20 bis 25 Jahre sozialstaatlicher, demokratisch-liberaler Entwicklung in der Bundesrepublik einfordert. Der demokratisch sozialstaatliche Reformansatz wird in innen- wie außenpolitischer Hinsicht erfolgreich diskreditiert und die Idee und Praxis des Sozialstaates als kryptosozialistisch demontiert. Die demokratischen Reformen des politischen Gefüges, die Demokratisierung von Wissenschaft, Bildung und Kultur werden als gescheitert erklärt und grundsätzlich in Frage gestellt und die Friedens- und Entspannungspolitik als unzulässiges Zugeständnis an den Kommunismus, als partielle Anerkennung und Stabilisierung von "Unrechtsregimen" ins Zwielicht gerückt.

Allerdings sollte man nicht übersehen, daß hier zwischen ideologischer und realgeschichtlicher Bewegung eine absonderliche Lücke klafft. Der Beobachter kann es eigentlich nur noch unter "Ironie der Geschichte" abbuchen, daß unter der politischen Regierung und Verantwortung der konservativen Entstaatlichungs-, Deregulierungs- und Marktwirtschaftsstrategen der (west) deutsche Staat in einem nie dagewesenen Ausmaß zum unmittelbaren Regulator und gar Träger volkswirtschaftlicher und sozialer Reproduktionsprozesse geworden ist. Zum normalen Subventionismus, Protektionismus im Rahmen der EG sind völlig neue Qualitäten mit dem Anschluß gekommen: Treuhand, ABM-Programm, zentralstaatlicher Milliardentransfer gegen Ost.

Die Frage nach "Transformationen in Deutschland" sollte unter diesem Blickwinkel neu gestellt werden und dabei sich nicht auf den Zusammenbruch des Osten und die Wiedervereinigung fixieren. Der Zusammenbruch des Realsozialismus markiert einen welthistorischen Epochenumbruch, der den vermeintlichen "Sieger" ebenso betrifft und mit in den Veränderungsgang reißt. Die hegemoniale Konjunktur von Neokonservatismus und Restaurationstendenzen in Deutschland ist eine anachronistische Reaktion auf die grundlegende System- und Wertekrise und den heraufziehenden Epochenumbruch am Ende des 20. Jahrhunderts. Das "Ende der Geschichte" entpuppt sich als aberwitzige Festungsideologie der westlich-kapitalistischen Metropolen.

6. Beredtes Verstummen der Linken

Der demokratische Aufbruch im Osten belebte die Linke in Ost- und Westdeutschland unübersehbar. Dessen Abbruch stieß sie in eine noch tiefere Identitätskrise. Schon die linken "Transformationstheorien" jener ersten Monate und erst recht die "linken" Gestaltungskonzepte einer demokratischen Deutschen Einheit bargen, mehr oder weniger bewußt, den Rückzug (die Flucht) vor dem mainstream in sich. Dem folgte ein verbreitetes beredtes Schweigen, das bei einigen nach einem Wimpernschlag nur sich ins lauthalse "mea culpa" verwandelte, in die "Emanzipation von der Utopie". Auch dieser Vorgang entbehrt nicht der ironischen Pointe: Die Ineinssetzung von sozialrevolutionärer Theorie und "realsozialistischer" Praxis hatten große Teile der Linken im Westen, aber auch im Osten, der offiziellen Parteidogmatik des "Realsozialismus" als Anmaßung stets bestritten. Nun, nach deren schmählichem Untergang, wird sie von den Bekehrten unterschiedlichster Couleur auf einmal aufgegriffen und fortgeführt.

Das eigentliche Trauma, das der Zusammenbruch des oft scharf bekämpften "Realsozialismus" auslöste, ist für die "undogmatische" und "kritische" Linke des Westens die damit verbundene Demonstration einer scheinbaren Allmacht ihrer politischen und gesellschaftlichen Widersacher, die bis dato von Mauer und Ostblock weltweit begrenzt schien und vor der Hand auch war.

Die sozialistische Linke wird in Politik und Theorie nur Ernsthaftigkeit und Handlungsfähigkeit zurückgewinnen, sofern es ihr gelingt, diesen Epochenumbruch zu begreifen und mittels neuer Begriffe Strategien zu formulieren. Doch bedeutet das unüberhörbare Verstummen der Linken und Sozialisten zu selten selbstkritische Besinnung, sondern zu oft Abgesang oder manchmal auch trotzig stumpfes "Jetzt-erst-Recht".

Sozialisten und andere Linke täten gut daran, in ihrer Auseinandersetzung mit den Umbruchprozessen in Deutschland und Europa den welthistorischen Blick wiederzugewinnen. Was nicht heißt, die konkreten politischen Auseinandersetzungen zu ignorieren und sich mit schadenfrohen oder zynischen Weltuntergangsszenarien die Wunden zu lecken, in der Gewissheit des unweigerlichen Niedergangs der heute so schmerzhaft arroganten "Sieger". Den weltgeschichtlichen Blick gewinnen, heißt vielmehr, sich auf keinen Fall in die Gräben des Kalten Krieges zurückdrängen zu lassen. Denn die werden heute nicht nur auf einer Seite wieder gebuddelt. Die "Siegermentalität" ist dabei, eine komplementäre "Verlierermentalität" zu erzeugen. Dagegen gilt es m.E., den Untergang des Realsozialismus als eine welthistorische Niederlage des Sozialismus zu begreifen, deren belehrende und befreiende Elemente es zu gewinnen gilt. Sie ermöglichen den Ausbruch aus einer Sackgasse, in die der Sozialismus mit dem Scheitern der europäischen Revolution nach dem ersten Weltkrieg geraten war.