Vom deutschen Verein zum Dritten Sektor

Deutschland: Land der Vereine! Aus einem alten Klischee wird eine neue Idee: All diese vereinsmäßig organisierten Gesellungsformen haben einen inneren inhaltlichen Strang, etwas Gemeinsames und eine besondere Bedeutung für die Zukunft der modernen Gesellschaft. Das ist, zumindest in Deutschland, neu. Es bedurfte der Anregung aus den USA, um die deutsche Sozialwissenschaft auf den Dritten Sektor aufmerksam zu machen. Zwar wurde hier zu Lande dieses uneinheitliche Gemenge im Bereich der Verbandssoziologie schon lange beforscht. Eine integrierte Literatur- und Forschungsdokumentation über sozialwissenschaftliche Vereinsforschung im deutschsprachigen Raum weist z.B. insgesamt 625 thematisch relevante Eintragungen dazu aus (vgl. Artus 1993). Neben den typisch deutschen Vereinen gehören Stiftungen, Verbände und Genossenschaften dazu und auch Jugend , Lehrlings- oder Studentengruppen, kirchliche und politische Gruppierungen sowie das breite Spektrum der Selbsthilfe- und Eltern-Kind-Gruppen oder der Lebensreformbewegung. Aber anders als in den USA wurde das Interesse an den dann so benannten Nonprofit-Organisationen (NPO) in Deutschland erst Anfang der Neunziger wach. Noch 1994 konstatierte Rudolf Bauer auf einer entsprechenden Tagung in der Schweiz: Wie kann man über eine Forschung berichten, für deren Gegenstand es erst seit relativ kurzer Zeit einen Begriff gibt? (Bauer 1995: 59) Es gab und gibt noch keine deutsche NPO-Theorie. Auch vergleichbare anerkannte Forschungsbereiche wie in den USA gibt es hier bisher nicht. Dort ist das Forschungsfeld hochinstitutionalisiert und öffentlich gefördert. So arbeiten die International Society Third Sector Research (ISTR) oder die Organisation Independent Sector (IS) seit Jahrzehnten. Es gibt Fachzeitschriften, wie z.B. Nonprofit and Voluntary Sector Quarterly oder Leadership and Management, und Universitäten wie Johns Hopkins oder Yale veranstalten internationale Kongresse und Tagungen (z.B. im Juli 2000 in Dublin über den Dritten Sektor: What's it and what's it for?). Vor diesem US-amerikanischen Hintergrund ist es verständlich, wenn Jeremy Rifkin (1997) dem Nonprofit-Bereich sehr hohe Bedeutung bei der Entwicklung der Nacharbeitsgesellschaft beimisst. Nicht zuletzt die lange Debatte um Liberalismus und Kommunitarismus (zusammenfassend vgl. Honneth 1994) basiert auf dem breiten bürgerschaftlichen, freiwilligen Engagement, das zur Tradition der nordamerikanischen Gesellschaft gehört. Die Rezeption dieser Diskussion in Deutschland Mitte der Neunziger schließt Micha Brumlik (1994) mit der Frage ab, die jetzt in der neueren Forschung aufgegriffen wurde: Wo bleibt die Empirie zu all der Theorie? Oder: Lasst uns untersuchen, was sich in Deutschland real an Formen und Ausprägungen dieses Dritten Sektors, ob nun mit kommunitaristischer oder zivilgesellschaftlicher Qualität, finden lässt.

Und noch ein zweiter Strang führt zu der neueren Debatte um den Dritten Sektor: Entwickelt sich hier ein Potential des nicht staatlich organisierten Ausgleichs für entfallende Arbeitsplätze und fehlende Gemeinschaftsbindung? Der Dritte Sektor wird inzwischen im Zusammenhang mit der Diskussion um die Nacharbeitsgesellschaft sehr euphorisch bewertet und als Hoffnungsträger für neue nichthegemoniale Vergesellschaftungsformen jenseits von Kapitalverwertungslogik und Geschlechterhierarchie gesehen (vgl. Beck 1997, 1999; Dettling 1995; Giddens 1997). Aber auch kritische Anmerkungen werden laut:

Vor dem Hintergrund steigender Arbeitslosigkeit erfährt derzeit das Beschäftigungspotential dieses Sektors besondere Bedeutung. Doch sind die Organisationen zwischen Staat und Markt in der Bundesrepublik auch in der Lage, die in sie gesetzten Erwartungen zu erfüllen? Können sie gleichzeitig neue Arbeitsplätze schaffen sowie am Umbau der traditionellen Arbeitsgesellschaft mitwirken? Oder dient der Dritte Sektor insofern als Lückenbüßer, als in Zeiten leerer öffentlicher Kassen mit einem Appell an Solidarität und bürgerschaftliches Engagement lediglich der Abbau des Sozial- und Wohlfahrtsstaates kaschiert werden soll? (Priller et al. 1999: 12)

Die Erfindung des Dritten Sektors in Deutschland

Job-Maschine Dritter Sektor - so überschrieb im Sommer 1999 das Hamburger Abendblatt einen Artikel, in dem die Segnungen dieses noch unbekannten Phänomens auf der Basis der gerade veröffentlichten zweiten Studie zum Dritten Sektor in Deutschland hervorgehoben wurden. Inzwischen gibt es eine Internet-Homepage www.Dritter-sektor.de der Humboldt Universität Berlin, und bei amazon.de finden sich mehr als dreißig Titel unter dem Schlagwort Dritter Sektor. Ist der Dritte Sektor eine Erfindung, eine bloße Sammelkategorie, dem nun, mehr oder weniger konstruiert, Leben eingehaucht wird, um eine Perspektive für die Gesellschaft nach Deregulierung und Umbau des Sozialstaates aufbauen zu können? Die Vorlagen aus den USA werden im politischen Bereich gerne angenommen und, meist ohne den geringsten Verweis auf die völlig differente Sozialstaatlichkeit der USA, als Beispiel für die mögliche Entwicklung in Deutschland vorgeführt.

Andererseits ist das Interesse an diesem stark wachsenden Bereich in Deutschland und Europa verständlich. In den letzten dreißig Jahren sind so viele neue Vereine, Verbände, Stiftungen, gemeinnützige Organisationen und private Einrichtungen im Sozial-, Gesundheits-, Kultur- und Freizeitbereich entstanden, dass sich die Frage nach der inneren Beschaffenheit dieser Organisationen und der Qualität ihrer Arbeit schon wegen ihrer beachtlichen Zahl den Sozialwissenschaften aufdrängt. In Deutschland hat sich die Anzahl der Vereine in diesem Zeitraum verdreifacht und in den anderen europäischen Ländern lassen sich ähnliche Tendenzen beobachten. Auch in vielen Entwicklungsländern wächst der Dritte Sektor mit großer Geschwindigkeit. Ob nun als Nongovernmental Organization (NGO) bezeichnet und mit Beobachterstatus bei der UNO ausgestattet, wie z.B. Greenpeace oder Amnesty International, oder einfach als Nonprofit Organization (NPO) in Form eines kleinen gemeinnützigen Vereins im Bereich Kultur oder Sport - das Spektrum in Deutschland (und weltweit) ist beachtlich. Während noch vor acht Jahren kaum jemand von einem Dritten Sektor sprach, ist er nun quasi erfunden, schon allgegenwärtig und wird nolens volens in die Schröder/Blair-Debatte um den Dritten Weg einbezogen.

Die vorliegenden Forschungen und Auseinandersetzungen bearbeiten zwei Felder. Zum einen wird die Empirie entwickelt, um überhaupt einigermaßen zureichend definieren zu können, was dem Dritten Sektor zuzurechnen ist (und was nicht). Zum anderen wird die politische Theorie um die Bedeutung dieses Sektors vorangetrieben.

Verschiedene Ansätze: Dritter Sektor und Drittes System

Angelehnt an den amerikanischen Third Sector wurde ab 1990, ausgehend vom Johns Hopkins Institute for Policy Studies in Baltimore, die international angelegte umfangreiche Erforschung dieses Dritten Sektors in Angriff genommen. Innerhalb dieses Projekts wurde auf der Basis einer von der UNO entwickelten Systematik (International Classification of Nonprofit Organizations - ICNPO) eine Definition erarbeitet, nach der Organisationen dann zum Nonprofit-Sektor zu rechnen sind, wenn sie

  • formell strukturiert sind, einen institutionellen Aufbau haben und in der Öffentlichkeit auftreten;
  • organisatorisch vom Staat unabhängig sind;
  • eigenständig verwaltet werden, also selbst die Kontrolle über ihre Geschäfte ausüben;
  • nicht gewinnorientiert sind, also keine Gewinne an Mitglieder oder Eigner ausschütten; sowie
  • zu einem gewissen Grad von freiwilligen Beiträgen und Spenden getragen werden und keine Zwangsverbände, d.h. freiwillig sind.

Demgegenüber hat eine europäische ForscherInnengruppe (Interdisziplinäre Forschungsgruppe Lokale Ökonomie, TU Berlin) inhaltlich fast entgegengesetzte Definitionen vorgelegt, die sich auf die Praxis der Projekte und Initiativen im, wie es dort bezeichnet wird, Dritten System beziehen und eine deutlichere politische Pointierung zulassen. Dieser Ansatz ist allerdings nicht annähernd so gründlich empirisch erforscht. Die Einschätzung gründet sich eher auf die Kenntnisse der europäischen Entwicklung in den Bereichen sozialer Unternehmen, Genossenschaftsbewegungen, alternativer Betriebe und gemeinwesenbezogener Unternehmen.

Nach Birkhölzer (vgl. Beitrag in diesem Heft) ist die Definition des Dritten Sektors (Johns-Hopkins-Projekt) unvollständig und irreführend, weil damit zum einen das Missverständnis der Volkswirtschaftslehre einhergeht (3. Sektor = tertiärer = Dienstleistungssektor) und zum anderen nicht die Frage was, sondern wie produziert wird, das entscheidende Abgrenzungskriterium sein sollte. Betriebe des Dritten Systems entstehen demnach primär aus der Schattenwirtschaft, der Selbsthilfe, der Familienarbeit, der Nachbarschaftshilfe und der illegalen Ökonomie heraus und versuchen diejenigen Blindstellen zu bedienen, die weder von profitorientierten Unternehmen noch von staatlichen Stellen abgedeckt werden. Betriebe des Dritten Systems entwickeln sich aus konkreten Mangelerscheinungen kapitalistischer Produktionsweise und, ein ganz wichtiger Punkt, sie sind in der Regel als selbstorganisierte Bürgergruppen der Betroffenen nicht individualistisch, sondern kollektiv verantwortlich für gesellschaftliche Entwicklung. Diese Betriebe arbeiten notwendigerweise profitorientiert, da sie sich am Markt - wenn auch in Nischen - behaupten müssen und nicht von staatlichen Zuwendungen abhängig sind. Entscheidendes Kriterium für Zugehörigkeit zum Dritten System ist die Verwendung der Überschüsse als kollektive Aneignung. Die italienischen Genossenschaften gehören genauso dazu wie die französischen mutualités und auch deutsche Genossenschaften und Betriebe, die in ihrer Satzung die gemeinnützige Verwendung ihrer Überschüsse verankert haben.

Das so bezeichnete Dritte System ist also eine andere, kollektiv organisierte Form der Erwerbsarbeit. Anders arbeiten - anders leben, hieß das in den Achtzigern. Der Entwurf des Dritten Systems knüpft eindeutig an die Alternativbewegung dieser Zeit an und erweitert sich um die noch oder wieder funktionierenden Bestände der Genossenschaftsbewegung, der Selbsthilfegruppen, der Wissenschaftsinstitute, der Gemeinwesen- und Nachbarschaftsökonomie. Es ist verständlich, dass sich das so definierte Dritte System deutlich von den oben skizzierten Beschreibungen des Johns-Hopkins-Forschungsansatzes des Dritten Sektors abhebt.

Die erste große internationale Studie

Zwar gab und gibt es politische und sozialwissenschaftliche Theorien über und sogar Managementlehren für den Dritten Sektor, aber keine aussagefähige Empirie. Deshalb wurde Anfang der Neunziger mit dem Johns Hopkins Comparative Nonprofit Sector Project ein Forschungsvorhaben initiiert, das diesem Mangel abhelfen sollte. Koordiniert vom Johns Hopkins Institute for Policy Studies, wurden in der ersten Phase von 1990 -1995 Daten in acht Industrieländern (Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Schweden, Ungarn, USA) und in fünf Entwicklungsländern (Ägypten, Brasilien, Ghana, Indien und Thailand) erhoben. Dieser Ländermix wurde mit der Zielsetzung gewählt, sowohl Unterschiede in der ökonomischen Entwicklung, in den religiösen und kulturellen Traditionen als auch in den staatlichen Rahmenbedingungen bzw. im Verhältnis zwischen NPO-Sektor und Staat zu berücksichtigen. In jedem Land ist ein Projektteam vor Ort tätig, das die Daten nach einem für alle Länder vereinheitlichten Schema sammelt und die Ergebnisse mit dem jeweiligen Beirat auswertet (vgl. Anheier et al. 1998).

Finanziert wurde das Gesamtprojekt von mehr als dreißig Förderern. In Deutschland sind dies unter anderen die Körber Stiftung und der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, in den USA gehören die Ford Foundation und der Rockefeller Brothers Fund dazu, in Europa die Agnelli- und mehrere italienische Bankenstiftungen sowie die Europäische Kommission.

Die Ergebnisse dieses ersten Teils der Studie wurden 1997 veröffentlicht (vgl. Anheier et al. 1998). Inzwischen läuft die zweite Phase des Projektes, das auf der Basis des ersten Teils vertiefende Analysen vornimmt, zusätzliches Material erhebt und weltweit auf insgesamt 22 Länder ausgedehnt wurde. Erste Ergebnisse wurden Ende April 1999 im Wissenschaftszentrum Berlin vorgestellt und im Juni veröffentlicht (vgl. Zimmer et al. 1999).

Ziele und Vorgaben

Im einzelnen verfolgt das Johns-Hopkins-Projekt folgende Ziele:

  • die Größe, das Spektrum, die interne Struktur, die Finanzen und die rechtliche Position des Nonprofit-Sektors in den ausgewählten Ländern zu beschreiben;
  • ein vertieftes Verständnis der Geschichte und der sich entwickelnden Rolle des Sektors in verschiedenen Kulturen und nationalen Kontexten zu erlangen;
  • die Beziehungen zwischen Nonprofit-Sektor und Staat, Erwerbswirtschaft und internationalen Organisationen zu untersuchen;
  • ein empirisches Fundament für einen verbesserten theoretischen Zugang zum Dritten Sektor zu erarbeiten;
  • allgemeine politische Trends und spezielle gesetzgeberische Maßnahmen zu identifizieren, die auf den Nonprofit-Sektor im allgemeinen und länderspezifisch fördernd oder beeinträchtigend wirken;
  • den Sektor stärker im öffentlichen Bewusstsein zu verankern und praxisrelevantes Wissen für gesetzgeberische Maßnahmen, Entscheidungen und weitere politische Rahmenbedingungen zu schaffen (Anheier et al. 1998: 14f.).

Die größte Schwierigkeit liegt nach wie vor in der Festlegung: Welche Organisationen gehören zum Dritten Sektor, welche nicht? Die allgemeine Aussage zwischen Markt und Staat greift zu kurz, weil sich viele Organisationen direkt auf einem Markt (z.B. der sozialen Dienstleistungen) behaupten müssen oder andere Organisationen, wie z.B. die Wohlfahrtsverbände, so sehr von staatlichen Zuwendungen abhängig sind, dass sie, auch ohne formell Staat zu sein, ausnahmslos staatliche Aufgaben wahrnehmen. Die formale internationale Definition ermittelt für Deutschland typischerweise folgende Institutionen, Einrichtungen und Organisationsformen:

  • eingetragene und gemeinnützige Vereine, Geselligkeitsvereine;
  • Stiftungen;
  • Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege; freie Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen;
  • gemeinnützige GmbHs und ähnliche Gesellschaftsformen;
  • Wirtschafts- und Berufsverbände, Gewerkschaften;
  • Verbraucher- und Selbsthilfeorganisationen;
  • Bürgerinitiativen und Umweltschutzgruppen so