Wo liegen die Inseln der Seligen?
Abstract
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts dominieren die Negativ-Utopien. Die Hoffnungen, die noch zur Zeit der Aufklärung in Utopien zum Ausdruck kamen, scheinen angesichts der katastrophalen Erfahrungen mit den misslungenen, weil in den Totalitarismus abgekippten geschichtlichen Großversuchen zur Realisierung staatlich orientierter Utopien zu Drohungen mutiert zu sein. Anlässlich eines Streifzuges durch historisch vorliegende Utopien lässt sich feststellen, dass Utopien zwar einerseits im Zeitverlauf immer näher um die Geschichte oszilliert sind, dass aber andererseits die technokratische Realisierung utopischer Vorstellungen immer zu deren Verschwinden geführt hat. Bedeutet das das Ende der Utopie? Der vorliegende Beitrag spricht eher von der Metamorphose denn vom Verschwinden der Utopie und macht einen konzeptuellen Vorschlag, der dem paradoxen Charakter der Utopie Rechnung zu tragen sucht.
Es gibt keine letzte Revolution, die Anzahl der Revolutionen ist unendlich. Jewgenij Samjatin
Das ausgehende 20. Jahrhundert nahm - so scheint es - Abschied von der Utopie. Nicht nur der herrschenden politischen Kultur und dem Volksmund gelten die Utopisten als irreale Fantasten. Diese selbst haben ihrem Genre abgeschworen. Die großen Utopien unserer Zeit zeigen nach H.G. Wells' optimistischen Prognosen allesamt die Nachtseite des utopischen Lichts, wenngleich es als Folie der Enttäuschung durch sie schimmert. Jewgenij Samjatin (Wir), Aldous Huxley (Schöne neue Welt) und George Orwell (1984) schildern trostlose Zustände, in denen ein allmächtiger Staat entindividualisierte Massen zu ihrem vorgeblichen eigenen Vorteil unter auswegloser Kuratel hält. Was für ein Absturz! Galt doch der wohleingerichtete Staat seit Plato über die Renaissance , Aufklärungs- und Industrie-Utopien als Garant menschlichen Glücks. Aus Edward Bellamys berühmtem Fürsorgestaat wurde Samjatins berüchtigter Großer Wohltäter, der seine Bürger unnachsichtig knechtet. Die Hoffnung mutierte zur Drohung.
Der Sozialismus, der noch in dem Jahrzehnt nach der Russischen Revolution eine beispiellose Flut utopischer Ideen und Experimente hervorgebracht hatte, degenerierte zum Stalinismus, in dessen bürokratisch-drakonischem Griff sich jene Morgenröte gründlich blamierte und mit dem realsozialistischen Trümmerhaufen auf die Müllhalde der Geschichte zu wandern scheint.
Der Kapitalismus hat die Utopie in anderer, nicht minder wirksamer Weise erstickt. In seiner faschistischen Form hat er mit Auschwitz die absolute Dehumanisierung hervorgebracht, also auch die utopische Hoffnung zerrissen. Danach konnte Altes nur noch einfach besser werden, wenn denn die Zustände des gewöhnlichen und nun weltweit siegreichen Kapitalismus so zu sehen wären.
Mann kann sie so sehen. Hans Magnus Enzensberger schreibt in der FAZ vom 19. Mai 1990 vom Abschied von den fatalsten Momenten des utopischen Denkens: im projektiven Größenwahn der Anspruch auf Totalität, Endgültigkeit und Neuheit. Nach ihm hat dieser Verlust erst die Einlösung utopischer Verheißungen ermöglicht: das Absterben des Staates, den Internationalismus und die Gleichheit. Ob er damit richtig liegt oder nicht vielmehr ebenfalls ironisch überzieht, soll hier gar nicht untersucht werden. Entscheidend ist der Hinweis auf die Dialektik ihrer Realisierung, welcher die Utopie nicht minder unterlag als dem factum brutum stalinistischer oder faschistischer Repression. Gleich wie in der Gegenläufigkeit der Geschichte zur Utopie lag ihr Verhängnis in deren Gleichläufigkeit mit ihr bzw. einer bestimmten historisch-politischen Form derselben, die man sich (übrigens fälschlicherweise, wie noch zu zeigen sein wird) ‚klassisch' zu nennen angewöhnt hat. Die Prämissen der Staatsutopien von der Antike bis zu den Frühsozialisten des 19. Jahrhunderts hießen (auf der Basis von Gemeinbesitz, den auch die libertären Utopien voraussetzen) prästabilierte und autoritär befestigte Harmonie, statisch und perfekt sich reproduzierende Sozialstruktur und politische Ordnung, Verschwinden des Ich im Wir, des Unterschieds in der Gleichheit, aber eben auch materielles Wohlergehen. Indem die Geschichte des Jahrhunderts solches in ebenso konsequenter wie verzerrt-abscheulicher Form hervorbrachte, vernichtet sich die innere Wünschbarkeit der Utopie durch das vollständige Gelingen ihrer Prämissen (Hans Jonas). Was von ihr den Höllensturz in die Barbarei überlebte, verging in Reichtum und Stumpfsinn einer sich als ewig gerierenden Waren- und Konsumkultur des postfaschistischen Kapitalismus, der - auf Kosten des größten Teils der Welt - die utopische Verheißung in kleine Münze umsetzt.
Wer sich in Geschichte begibt, kann in ihr umkommen. Gerade die Verschwisterung einer bestimmten Form der Utopie mit ihr ab einer bestimmten Zeit (nämlich der Aufklärung) hat die Leuchtkraft ihres Paradigmas, die gewusste Wahrheit der Vergangenheit zu sein, schier verlöschen lassen. Die Dialektik der Erinnerung hat so anscheinend keinen Haltepunkt nach vorn mehr. Die wunscherfüllte, rationale Konstruktion einer humanen Gesellschaft, die alte Utopie ist historisch überlebt (Arnhelm Neusüss).
Damit ist freilich nicht jeder utopische Wunschüberschuss dahin, wohl aber die staatsförmige Großutopie. Das ungeheure utopische Vorkommen in der Welt (Ernst Bloch) wird andere Wege suchen. Wir werden sie weder in den kargen Spätblüten der Tradition literarischer Modellutopien (etwa Ernst Callenbachs Ökotopia oder Werner Neumanns Revonnah, die sich beide der Alternativbewegung der siebziger Jahre verdanken) noch auf den Inseln praktizierter religiös-kommunistischer Utopie (wie etwa die Hutterer in Nordamerika) finden.
Der innere Zwiespalt der Utopie
Der spätestens mit den Negativ-Utopien dieses Jahrhunderts aufgekommene und durch seine Diktaturen reichlich genährte Tyranneiverdacht gegen die Utopie des öffentlichen im Namen des privaten Glücks (Michael Winter) trifft die Achillesferse der klassischen Staatsutopien. Ihre insgeheim oder offen immer schon gesetzte Konkordanz von Privat- und Allgemeininteresse ließ sich nur um den Preis der dekretierten Konfliktarmut aufrecht erhalten. In und neben dem Glücksversprechen lauert die Repression. Noch in den Wohnmaschinen Le Corbusiers haust der Abglanz der fourierschen phalanstère. Der für die Utopie typische Überhang an Idealität ließ sie weithin auf die Realisierung des Modells und nicht auf die Veränderung der Realität setzen. Ihre intellektuellen Wortführer verstanden sich als Vollstrecker der Geschichte und lagerten sie und die vorfindliche Klassengesellschaft doch aus. So finden wir praktisch kaum Hinweise auf Art und Träger der Umwälzung zum utopischen Gemeinwesen hin, welchem Dilemma die Raum-Utopiker durch Flucht auf die abgeschiedene Insel der Seligen zu entgehen suchen.
Wie sie in ihren Modellen den Widerspruch von Individuum und Gesellschaft in postulierter totaler Identität aufzuheben vermeinten, so legten sie die Geschichte, in denen sie die Kräfte der Verwirklichung des Ideals nicht sahen (und sehen konnten), still. Das macht die tragische Leblosigkeit vieler Utopien aus. Im Dauerlicht der perfektionierten Welt erlischt der utopische Impuls.
Aber selbst noch in dieser Aporie und ihrer möglichen Auflösung blieben sie an die Geschichte gebunden. Wäre in den materiell-ökonomisch beschränkten und sich einfach reproduzierenden Gesellschaften, in denen sie vor der Neuzeit entstanden, eine utopische Wohlfahrt für alle überhaupt möglich gewesen? Historisch am Horizont stand allenfalls die kommunistische Bauernrepublik, deren Bild aus der Erinnerung an die vorklassengesellschaftliche Goldene Zeit aufgeladen war und in dieser Form noch den religiös-sozialrevolutionären Bauernbewegungen des Spätmittelalters als Fanal diente. In früheren Gesellschaftszuständen, deren Leid und Ungerechtigkeit der utopische Wunschüberschuss sich gerade verdankte, konnte er sich nur in philosophischer Antizipation als Glück der wenigen Auserwählten oder als Rückkehr zu glücklichen Urzuständen hervorbringen und bewahren. Dieser historischen Kluft entkamen Staats- und Volksutopie allein durch Überhöhen oder Unterlaufen der geschichtlichen Schwelle, vor der sie standen: die eine, indem sie eine Rationalität und Produktivität abstrakt vorauswarf, deren Zeit noch nicht gekommen war, die andere, indem sie der populären Fantasie des Schlaraffenlandes nachhing. Doch selbst in dieser supra- bzw. subhistorischen Form bewahrten sie die Markenzeichen des Utopischen auf, Kritik der bestehenden Gesellschaft und ihr Gegenbild zu sein, insofern auch immer die historischen Kämpfe um mehr Glück, Freiheit und Wohlergehen befeuernd. Die Utopie überspringt die Zeit (Max Horkheimer).
Als idealer Abdruck der Geschichte, der sie zu überflügeln trachtet, unterliegen die Utopien gleichwohl ihrem Bann. Daraus wäre auch ein Maßstab der Kritik zu beziehen, wie ihn Karl Marx und Friedrich Engels in ihrer Philippika gegen die utopischen Sozialisten entwickelten. Wenn die Geschichte uns immer nur vor Aufgaben stellt, deren Lösungspotenzen sie bereitstellt, heißt dies andersherum, dieser gewahr zu werden und als realutopische Tendenz zu formulieren. Damit wären die Utopien vom Kopf auf die Füße gestellt, würden vom ideell-fiktionalen Nirgendwo zum historisch-möglichen Irgendwo. Es ist kein Zufall, dass die Zeiten geschichtlicher Umbrüche, in denen die Gesellschaft in die Unsicherheit stürmischer Entwicklung geworfen wird, Blütezeiten der Utopie sind. Ihre klassischen neueren Entwürfe kommen aus den Entstehungsperioden der bürgerlichen Gesellschaft in der Renaissance, Aufklärung und Industrialisierung. In ihrem Verlauf haben sich die utopischen Ansprüche der Fantasie gesättigt mit historischer Realität (Herbert Marcuse).
Die Utopie wird vom Engel der Geschichte zu ihrer idealen Schwester, sich damit aber auch nolens volens enger an sie bindend. Das brachte und bringt neue Probleme mit sich, an denen die Gattung heute noch laboriert.
Sturz in die Zeit
Am Anfang war nicht nur das Feuer, sondern bereits sehr bald auch die Erinnerung an dasselbe, an eine eigentums- und konfliktlose naturnahe und unentfremdete Urgesellschaft, in der das Ich unentfaltet im Schoß der Gruppe und der Welt ruhte. Diese Vision mag sich historisch auf die Periode von der jüngeren Altsteinzeit bis zur ausgehenden Jungsteinzeit (d.h. etwa 30.000 bis 3.000 v.Chr.) beziehen, die Züge jenes Urbildes bot, ohne sich darin zu erschöpfen. Mit dem entscheidenden klassengesellschaftlichen Bruch wird das zur Traumzeit, wie sich in den vorderasiatischen Paradiesmythen widerspiegelt.
Weil die raue historische Zeit den Menschen in Mühsal und Wirrsal versetzte, begann er sich sehnend in einen verklärten Urzustand rückzuversetzen, in eben die Goldene Zeit, die gerade eben entschwundene und bei den Barbaren noch anzutreffende bzw. vermutete. Von Hesiod (Werke und Tage) bis Vergil (4. Ekloge) beeinflusste die vergangene archaische gentilgenossenschaftliche Demokratie das antike Streben nach einem besseren Leben. In der geschichtsfernen Wiederherstellung des verlorenen urtümlichen Glücks bestand das Ziel dieser ersten Utopie. Der Mythos vom Goldenen Zeitalter bestritt sie nicht allein. Außerdem bemächtigten sich die griechische Philosophie seit Plato, die attische Komödie (Aristophanes) und der hellenistische Reiseroman (Jambulos, Euhemerus) des utopischen Themas, das den gesellschaftlich-geschichtlichen Umbruch ausdrückte und sich in seinen Grenzen formulierte. Die Wahrheit der Zukunft war noch in der Vergangenheit zu suchen und aufzufinden, Objekt philosophischer Konstruktion oder märchenhafter Fantasie.
Das lag bereits anders in der jüdisch-christlichen Messias-Prophetie, deren hervorragendster Vertreter Isaias war. In ihr koppelt sich die soteriologische Vision mit scharfer Zeit- und Sozialkritik, bilden sich die Ansätze jener triadischen Geschichtsspekulation von ursprünglicher Unschuld über den Fall in die Sünde des Eigennutzes bis zur erneuerten (später auch: erweiterten) Restitution des Urzustandes; all dies sollte für utopische Tradition außerordentlich folgenreich und prägend werden. Die Insel der Seligen wurde vom rückwärtigen Sehnsuchtsbild zum zentralen Topos der Heilsgeschichte, der sich in den chiliastischen Bewegungen des Mittelalters im Bild eines neuen Jerusalem, des Gottesreichs auf Erden verdichtete. Von Joachim di Fiore bis zu den neuenglischen Puritanern sollte die spirituelle und reale Geschichte im Zeichen der Wiederkehr des Heils für die Gerechten stehen. Im radikalen Flügel der Hussiten- und Bauernrevolution erlebte diese apokalyptisch-eschatologische Utopie ihren Höhe- und zugleich Endpunkt.
Jede Epoche formt ihren eigenen historisch-politischen Utopietyp. Geschichte, die mit der Renaissance, ihren Konquistadoren, Kondottieri und merchant adventurers als mach- oder mindestens beeinflussbar galt, wird nun zum Tanzboden der Zukunft. Ihr bisher an Mythos, Heilsplan oder Märchen gehefteter Fortschritt wird anthropozentriert und säkularisiert. Vor der Folie mehr oder minder scharfer Kritik zeitgenössischer Zustände, wiederum von einem historischen Grabenbruch - hier von dem zwischen feudalistischer und bürgerlicher Gesellschaft - hervorgerufen, tritt von Morus über Campanella und Bacon bis hin zum deutschen Schnabel, dem patriarchalisch-pietistischen, die klassische Raumutopie auf den Plan, welche der Gattung ihren Namen und Nimbus gab. Der gewaltige Aufschwung von Produktion, Naturwissenschaft und Technik des 18. Jahrhunderts trug jene Urhügel der Utopie den Zeitachsen gesellschaftlicher perfectibilité in Richtung fortschreitender Naturunterwerfung und Rationalität auf. Ikarus stürzte in die Geschichte.
Schon vorher hatten die beiden sich gelegentlich miteinander eingelassen, in reformerischer (Friedensutopien der römischen Kaiserzeit; Harringtons Oceana) oder revolutionärer (millenarische Ketzerbewegungen) Absicht. Aber erst mit den französischen naturrechtlich-kommunistischen Utopien der Aufklärung, Louis Sébastien Merciers Paris L'An 2440 zumal, landeten sie am Gestade der Geschichte. Der Fortschritt war nun nicht fern und jenseits von ihnen verwirklicht und musste auf sie herabgeholt werden; wenn man nur folgte, war Utopia geradezu zeitlich-kinetisch im Werden. L'age d'or qu'une aveugle tradition a placé dans le passé, est devant nous (das Goldene Zeitalter, das eine blinde Tradition in der Vergangenheit gesucht hat, liegt erst vor uns, Saint-Simon).
In der französischen Revolution, die sie vorbereiten half, amalgamierte sich die Utopie in Gestalt von Babeufs Verschwörung der Gleichen mit der geschichtlichen Bewegung - zu früh und verfehlt, wie sich herausstellen sollte. Diese Aufladung band sie an die Geschichte, an ihre Höhe- und Tiefpunkte. Nicht zufällig traten in dieser Periode zum ersten Mal Unbehagen an der Utopie (ausgerechnet bei Jean-Jaques Rousseaus Nouvelle Héloise von 1764), ja sogar Abscheu vor ihren revolutionären Implikationen (so etwa bei Edmund Burkes Betrachtungen über die Französische Revolution von 1790) auf. Ikarus auf dem Prüfstand.
Im anbrechenden Zeitalter der Industrie schließlich, im 19. Jahrhundert, waren die Utopien nur mehr - üppige - Seitentriebe der auch von ihnen vorausgesetzten neuen industriellen Organisation der Arbeit. Der Renaissance-Utopie galt der Staat als Kunstwerk, nun wurde es die Produktion; in beiden Fällen lagen ihre Entwürfe nicht etwa im Abseits der Geschichte, sondern bildeten die Vorhut auf ihrer Heerstraße. Im 19. Jahrhundert unterschieden sie sich nur noch in der Stellungnahme zum fait accompli der Industrie, die sie ablehnten, verherrlichten oder revolutionär überwinden wo