Zwei Thesen zur Zukunft des Gefängnisses - und acht über die Zukunft der sozialen Kontrolle

Zwei Prognosen über die Einsperrung

In einem bemerkenswerten Essay über "Das elektronische Halsband" sagte Gilles Deleuze (1990) das baldige Ende des Gefängnisses voraus. Die Zeit der großen "Einschließungsmilieus", wie sie für die von Foucault beschriebene "Disziplinargesellschaft" typisch gewesen seien, neige sich ihrem Ende zu. Die Logik der alten Institutionen sei überholt, deshalb würden auch die von ihr getragenen Prägeapparaturen wie z.B. die Familie und die Fabrik, die Krankenhäuser und die Schulen, die Irrenanstalten und die Kasernen, vor allem aber die Gefängnisse als die Internierungsfelder par excellence, über kurz oder lang am Ende sein: "Es geht nur noch darum, ihre Agonie zu verwalten und die Leute so lange zu beschäftigen, bis neue Kräfte, die bereits an die Tür klopfen, eingerichtet sind. Die Kontrollgesellschaften sind dabei, die Disziplinargesellschaften zu ersetzen" (Deleuze 1990: 6).

Wenig später prognostizierte Nils Christie (1993) das Gegenteil. Nicht etwa ein Absterben, sondern ein gigantisches Wachstum der Gefängnisse sei angesagt. Der Untertitel seines Buches gab die drohende Perspektive an: "Towards GULAGs, Western Style?". Nicht unabwendbare Auflösung und Untergang, sondern exponentielles Wachstum und krebsartige Ausbreitung über die gesamte westliche Welt werden der von Deleuze bereits totgesagten totalen Institution prophezeit. Die Zukunft des Gefängnisses und der Internierungslager, so Christie, habe noch nicht einmal begonnen. Die exorbitanten Inhaftierungsraten in den USA und die Unfähigkeit oder Unwilligkeit der westlichen Welt, diese an sich unglaubliche Entwicklung zu skandalisieren, bestätigen Christie so sehr in seinen Befürchtungen, daß er das Fragezeichen hinter dem Untertitel in der zweiten Auflage (1994) entfernte. Seiner Meinung nach muß ein Wunder geschehen, wenn die Rückkehr der großen Internierungsmaschinen, der Lager und Gefangenen-Farmen verhindert werden soll.

Wie kommen die beiden Autoren zu ihren entgegengesetzten Prognosen, und welche wird sich als richtig erweisen? Was den ersten Teil dieser Frage angeht, so deduziert Deleuze das Ende der Gefängnisse aus der technischen Revolution im elektronischen Zeitalter, während Christie die Entwicklung der Gefangenenzahlen zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen macht, also induktiv vorgeht und dabei weniger auf die Technik als auf die Ökonomie blickt, die sich in Gestalt der Privatisierung vieler einst hoheitlicher Sicherheitsaufgaben neue Kapitalverwertungschancen ausrechnet. Deleuze verläßt sich (mit Michel Foucault) darauf, daß der Strafvollzug sich den allgemeinsten gesamtgesellschaftlichen Transformationen nie auf Dauer entziehen kann, während Christie anhand empirischer Daten nachweist, daß eine konkrete sektorale Veränderung wie die seit einigen Jahren vor allem in den USA zu beobachtende Privatisierung von "Sicherheitsarbeit" (Nogala 1995) zu ungeahnten Konsequenzen führen kann. Während sich Deleuze auf eine epochale Veränderung der Kontrollmedien verläßt, durch die räumliche Festsetzungen überflüssig gemacht werden, liegt die Pointe der Christie'schen These im spezifischen Charakter der 'Kriminalität' als einer nicht erschöpfbaren und beliebig regenerierbaren Ressource, wodurch der neu entstehende Industrie-Zweig der Verbrechensbekämpfung zu einem ganz besonderen kapitalistischen Eldorado wird. Denn während die Nachfrage nach Kühlschränken oder Autos irgendwann an Grenzen stößt, ist die Nachfrage nach Verbrechensbekämpfung eine Funktion der Größe 'Kriminalität'. Je mehr Kriminalität, desto mehr (private) Waren und Dienstleistungen kann die Sicherheitsindustrie absetzen: von Türschlössern und Kfz-Wegfahrsperren bis zu Versicherungspolicen, privaten Wachdiensten und privat gebauten und/oder betriebenen Haftanstalten. Kriminalität aber ist, wie man seit der bahnbrechenden Arbeit von Fritz Sack über "Neue Perspektiven in der Kriminologie" (1968) weiß, ein im wesentlichen ideelles, um nicht zu sagen ideologisches Gut. 'Kriminell' ist ja nicht schon der physische Vorgang (z.B. eine Handtasche wegzunehmen, einen Menschen zu erschießen, eine stimulierende Substanz zu kaufen oder zu verkaufen), sondern 'Kriminalität' wird aus jedem dieser Vorgänge erst durch einen so komplexen Prozeß der Normgenese und Attribution, daß die 'Menge' von 'Kriminalität' in einer Gesellschaft letztlich nicht durch die später als kriminell etikettierten Akteure, sondern im wesentlichen durch die Definitionsinstanzen - also die Polizei, die Staatsanwaltschaften, die Gerichte und Gefängnisse - selbst gesteuert wird. Fritz Sack hat diesen locus of control über die Kriminalitätsmenge als einer der ersten erkannt und bekanntlich auf folgende Thesen gebracht:

"1. Die Verteilungsmechanismen der negativen Eigenschaft 'Kriminalität' sind ebenso ein Produkt gesellschaftlicher Auseinandersetzungen wie diejenigen, die die Verteilung der positiven Güter in einer Gesellschaft regeln. 2. Die Verteilung des negativen Gutes Kriminalität geschieht auf die gleiche Art und Weise wie die der positiven Güter. Zu ihrer Analyse eignen sich die in der Soziologie allgemein bewährten Konzepte wie Status, Rolle, Rekrutierungsmuster, Karriere, Zuweisungskriterien etc. 3. Die Kriminalität, ganz generell: Abweichendes Verhalten ist als ein Prozeß zu begreifen, bei dem sich die beteiligten Partner, der sich abweichend Verhaltende auf der einen Seite und diejenigen, die dieses Verhalten als solches definieren, auf der anderen Seite, gegenüberstehen. 4. In diesem Sinne ist abweichendes Verhalten das, was andere als abweichend definieren. Es ist keine Eigenschaft oder ein Merkmal, das dem Verhalten als solchem zukommt, sondern das an das jeweilige Verhalten herangetragen wird" (Sack 1968: 470).

Kriminalität ist also eine von den Definitionsinstanzen gesteuerte Menge "ideeller Ungüter" (Merk 1988) in einer Gesellschaft.

Unter den Bedingungen der Privatisierung einst hoheitlicher Sicherheitsarbeit kommt dieser Tatsache eine neue und fatale Bedeutung zu. Denn nun haben private Unternehmer, die allemal unter dem Zwang zur Expansion stehen, die Möglichkeit, sich die für ihr Angebot an Waren und Dienstleistungen notwendige Nachfrage selbst zu schaffen. Und während die Nachfrage nach anderen Waren und Dienstleistungen immer irgendwann gesättigt ist, läßt sich die Nachfrage nach immer mehr Sicherheit durch den Einfluß, den man auf das Bedrohungsszenario 'Kriminalität' besitzt, beliebig reproduzieren, in ihren Schwerpunkten verlagern und in ihren Grenzen ausdehnen. Kriminalitätsentwicklung, Kriminalitätsfurcht und Nachfrage nach Sicherheit - bis hin zum Bau zusätzlicher Gefängnisse - all das liegt in den Händen hochaggregierter und hochinteressierter ökonomischer Akteure mit unbegrenztem Appetit. Und weil die Kriminalitätsmenge natürlich dort am disponibelsten ist, wo Aspekte abweichender Lebensstile kriminalisiert werden - wie etwa der Genuß bestimmter psychoaktiver Substanzen - lassen sich die Wachstumsraten der registrierten 'Kriminalität' schon durch bloße Vermehrung der mit diesen Delikten befaßten Ermittler jederzeit vorausplanen und beliebig steigern. Und so ist denn auch die Explosion der Gefangenenzahlen in den USA zu großen Teilen auf einen stetig wachsenden Anteil von 'Rauschgifttätern' zurückzuführen.

Doch damit ist die Frage, welche der beiden Prognosen die höhere Wahrscheinlichkeit für sich verbuchen kann, noch lange nicht beantwortet. Um auch nur in die Nähe einer Beantwortung zu kommen, wäre es notwendig, einen Schritt zurückzutreten und uns der breiteren, über das Gefängnis hinausgehenden Entwicklungstendenzen sozialer Kontrolle zu vergewissern. Dabei stoßen wir auf folgende Phänomene.

Acht Tendenzen

Erste Tendenz: Waren als Steuerungsmedien.

Noch heute wird, wenn die soziale Kontrolle gegenüber der Jugend, politischer Dissidenz oder abweichenden Lebensstilen versagt, von vielen Beobachtern auf den Wert- und Normverlust hingewiesen, und tatsächlich lassen sich gute Gründe dafür anführen, daß sich die westlichen Gesellschaften bis heute nicht ganz von dem Verlust an aktiver sozialer Kontrolle erholt haben, den der Einflußverlust der katholischen Kirche nach über einem Jahrtausend ihrer Herrschaft bedeutete. Andererseits darf man aber auch nicht übersehen, daß es aufgrund der Säkularisierungs- und Rationalisierungsprozesse seit der Reformation zu einer Fundamentaldisziplinierung der Bevölkerung gekommen ist, mit der die entstandenen Lücken in der Produktion konformen Verhaltens weitgehend geschlossen, wenn nicht sogar überkompensiert werden konnten. Und viele der neuesten Entwicklungstendenzen sprechen jedenfalls dafür, daß die Warenform inzwischen eine Kraft und Verbreitung erreicht hat. die in ihrer konformitätsproduzierenden Wirkung derjenigen der katholischen Kirche in ihren besten Jahrhunderten in nichts nachsteht.

Was die Sozialisation angeht, so besteht sie heute nicht mehr aus Brechung und Dressur, sondern aus der sehr viel geschickteren, in gewisser Weise übrigens auch respekt- und kunstvolleren Gestaltung der Motivation durch das werbende Spiel mit Identitäts- und Lebensstils-Symbolen, mit Chancen auf Genuß, Gewinn und Ekstase. Dabei hat längst die Warenform eine zentrale Bedeutung gewonnen. Einst auf Teile der Erdoberfläche, auf Baumwollballen und laufende Meter Linnen beschränkt, so hat sie sich inzwischen durch die vor- und nichtkapitalistischen Grundlagen und Nischen der Gesellschaft hindurchgefressen. Inzwischen werden auch Kenntnisse, Gefühle und Hoffnungen bis zur Marktgängigkeit reifiziert und über den Geldwert untereinander äquivalent. Diese Kommodifizierung des Immateriellen, als deren frühreifer Vorläufer in genealogischer Hinsicht nicht zuletzt der präreformatorische Ablaßzettel zu würdigen wäre, hat an Dynamik erneut zugelegt und ist mittlerweile bis in die Zentralbereiche der aktiven und reaktiven sozialen Kontrolle vorgerückt.

Herbert Marcuse hatte die daraus sich ergebenden "neuen Techniken der sozialen Kontrolle" als einer der ersten wahrgenommen und mit bleibender Gültigkeit analysiert (Marcuse 1964). Der allerjüngste Schub, den die Kommodifizierung des Immateriellen gegenwärtig schon wieder erlebt, läßt sich auf zwei widersprüchliche, aber letztlich ineinandergreifende Bedingungen zurückführen. Da ist erstens die dem Kapitalismus eigene Notwendigkeit, bei Strafe des Untergangs immer neue Waren anzubieten und Märkte zu erschließen - eine Tendenz, die, wenn sie bei Kühltruhen und Mikrowellenherden ihre natürliche Grenze fände, schon längst zur Ablösung des "Spätkapitalismus" durch eine neue Formation geführt hätte. Zweitens resultiert er aus den Widerständen und Kompensationen, zu denen die erste Entwicklung führt. Denn in dem Maße, in dem die dominierende Wirklichkeit sich entzaubert, muß die Freizeit 'romantisch', d.h. mit Werten und Erfahrungen aufgeladen werden, die aus der Alltagswelt vertrieben wurden. Je kälter die Büro-Atmosphäre, desto exotischer muß das Sauna-Erlebnis, je blasser die alltäglichen Begegnungen ausfallen, desto stärker muß zumindest die Bräunung aus dem Studio sein. Je cooler der Habitus am Tage, desto sinnlicher und extremer der illegale Drogengenuß in der Nacht, und je belangloser die Gefühle ansonsten, desto aufregender der Endorphin-Rausch beim Bungee-Springen oder Free-Climbing. Daß diese "Neue Romantik", wie Colin Campbell (1987) sie nennt, zwar ebenso wie die alte eine Reaktion auf die Kühle der technischen Zivilisation im bürgerlichen Zeitalter darstellt, im Gegensatz zur alten aber ihren Frieden mit der Warenform gemacht hat, indem sie nämlich klaglos die in die Warenform überführten Erfahrungs- und Gefühlsangebote annimmt, vom Zen-Kurs bis zum Abenteuer-Urlaub im Amazonas-Becken, verleiht ihr diese ungeheuere Stärke. Denn an diesem Punkt treffen sich Haupttendenz und Reaktion und fließen zusammen zu einer einzigen, wiederum warenförmigen Strömung. Die durch den Kapitalismus ausgelöste und ständig verschärfte Sinnkrise, welche die Menschen nach authentischen und vor allem starken Selbst-Erfahrungen dürsten läßt, wird mit eben den neuen Waren besänftigt, die er schon aus Gründen der Kapitalverwertung sowieso herstellen muß. Neue Waren, die ihrerseits mit der Symbolik der vermißten 'Freiheit' (Marlboro), des 'Abenteuers' (Camel), orgiastischer Lust ("Bungee-Springen", "Ekstasy") und damit schließlich immer auch von 'Sinn' ("Transzendentale Meditation") aufgeladen sind. Und so ist denn die Kommodifizierung, wie einst die Religion, sowohl Ausdruck des psychischen Elends und der Entfremdung als auch, wie Marx sagen würde, der Protestation dagegen. War also einst die Religion das "Opium des Volks" in dieser doppelten Hinsicht, so sind es heute kommodifizierte Immaterialia, darunter nicht zuletzt tatsächlich Drogen, die die neue "Opiatisierung der sozialen Kontrolle" (Henner Hess) bewirken und vielen Einzeltendenzen der sozialen Kontrolle ihren Stempel aufdrücken.

Zweite Tendenz: Die Kommodifizierung von Sicherheit.

Dem Zug zur allgemeinen Kommodifizierung immaterieller Güter unterliegt nicht zuletzt die 'Sicherheit' als ewiges Hauptversprechen der Instanzen sozialer Kontrolle und als Inbegriff dessen, was den "Ordnungswert der Ordnung" als Basislegitimation von Herrschaft (Heinrich Popitz) ausmacht. Vom Ursprung der Herrschaft bis in unsere Tage war es die vornehmste Aufgabe der Feudalherren, Landesfürsten und schließlich der demokratischen Regierungen, die zentrale Aufgabe jeder staatlichen Gewalt, den Vasallen, Untertanen oder Staatsbürgern Schutz zu bieten vor inneren und äußeren Feinden. Das war, wie gesagt, überhaupt die entscheidende Legitimation für Abgaben- und Steuererhebung, für die Konzentration der Waffengewalt beim Herrn und schließlich für das Gewaltmonopol des Staates. Eine genuin politische, ganz und gar "hoheitliche" Aufgabe. Natürlich ist die Vermarktung von Sicherheitswaren (von Keuschheitsgürteln über Türschlösser bis zur eisernen Rolläden) nichts ganz Neues, und ebenso gab es von Privaten angebotene käufliche Sicherheitsleistungen (vom Feld- und Leibwächter bis zu Wach- und Schließgesellschaften) auch schon früher, aber das Ausmaß, in dem die Garantie von Ordnung und Sicherheit heute vom hoheitlichen Bereich auf den kapitalistischen Markt verlagert wird, kennzeichnet eine Wende. In den USA, wo das 'private policing' durch Sicherheitsdienste vor nicht langer Zeit noch ein Randphänomen gegenüber den aus öffentlichen Mitteln besoldeten Polizeibeamten war, dominieren die 'Privaten' inzwischen längst im Verhältnis von nahezu 3:1 (vgl. Nogala 1995). Der Staat zieht sich aus diesem Bereich mehr und mehr zurück. Wer nicht zumindest gewisse Vorsorgeleistungen auf dem Markt erwirbt und damit die staatliche Schutzaufgabe erleichtert, wird bald überhaupt keinen staatlichen Schutz mehr reklamieren dürfen: So wird wohl die Polizei beim Diebstahl von Autos ohne Wegfahrsperre bald nicht mehr aktiv werden (wie man jetzt schon beim Diebstahl unverschlossen aufbewahrten Eigentums keinen Versicherungsschutz mehr genießt). Ihr Extrem könnte diese Entwicklung erreichen, wenn auch die Landesverteidigung privat auf organisierte Waffenverbände übertragen würde. (Würde oder eben in unverhältnismäßig großem Ausmaß übertragen würde, muß man sagen, denn - nichts wirklich Neues unter der Sonne - Söldnerheere gab es früher schon, und auf einem Markt für Söldner samt eigenem Wirtschaftsblatt mit Annoncenteil, "Soldier of Fortune", bedient sich die Dritte Welt seit langem).

Dritte Tendenz: Vom innen- zum außengeleiteten Menschen.

Die komplexer werdenden Lebensbedingungen der Moderne unterwarfen den Menschen im Vergleich zum Mittelalter zunächst einem erheblichen "Zwang zum Selbstzwang" (Norbert Elias), aus dem ein verstärkt "innengeleitetes", also durch Internalisierung äußerer Zwänge und eine festere Integration der gegen- und auseinanderstrebenden Bestandteile des "psychischen Apparats" (Sigmund Freud) Individuum resultierte. Auch über die weiteren Schritte von der Innen- zur Außenlenkung des Individuums scheint interessanterweise unter den verschiedenen theoretischen Richtungen der Sozial- und Humanwissenschaften einigermaßen Einigkeit zu bestehen. War der innengeleitete Mensch nach einem Bild von David Riesman in seiner Handlungsorientierung durch eine Art eingebauten Kreiselkompaß langfristig und berechenbar an frühzeitig internalisierten Werten und Normen orientiert ("protestantische Ethik"), so ist der außengeleitete Mensch eher einem Wesen vergleichbar, das an seinem Kopf riesige hochsensible Antennen angebracht hat, um sich den in der jeweiligen Situation empfangenen Signalen entsprechend mal so, mal so zu orientierten. Erich Fromm spricht in diesem Zusammenhang vom "Marketing-Charakter", und Erving Goffman und Cohen Taylor meinen im Grunde nichts anderes, wenn sie den Menschen der Gegenwart als ein innenlebenloses Wesen beschreiben, das ausnahmslos "Theater spielt" (Goffman) bzw. als "Fassadenarbeiter" seine eigene Außendarstellung poliert. Der sogenannte "Neue Sozialisationstypus", dem etwa Christopher Lasch und Thomas Ziehe einen auffälligen Narzißmus (zugleich allerdings auch eine geringe Verführbarkeit durch totalitäre Ideologien) bescheinigen, ist diesem außengeleiteten Sozialcharakter gegenüber kein aliud, sondern nur eine besondere Ausprägung. Er ist nur eine von mehreren Varianten postmoderner Charaktere, bei denen die Mobilitäts- und Flexibilitätsanforderungen der gesellschaftlichen Umwelt in das Individuum hineinverlegt werden. In dem Maße nämlich, in dem die soziale Differenzierung voranschreitet, transformiert sie Gesellschaft in ein bloß noch collageartiges Nebeneinander multipler Subsysteme mit voneinander abweichenden Wert- und Normstrukturen. Unter diesen Bedingungen wird das rigide Festhalten an Prinzipien, das für den innengeleiteten Charakter der Moderne (und für die Funktionsfähigkeit bürgerlichen Wirtschaftens) charakteristisch war, zum Problem. Gefordert ist stattdessen die Fähigkeit, flexible Übergänge zwischen verschiedenen Sinnsystemen, Rationalitäten, Lebenskonstellationen und Erwartungen zu bewerkstelligen. Persönlichkeit wird weniger in der Durchsetzung des als wahr und richtig Internalisierten als in der klugen Moderation und Modulation unterschiedlicher Ansprüche unter Beweis gestellt. Lindenberg und Schmidt-Semisch sprechen, auf Deleuzes Thesen aufbauend, von einer immer zwingender und zudem aufwendiger werdenden "Modulationsfähigkeit" des Individuums: In dem Maße, in dem sich die Rollen, die eine Person einnehmen können muß, vervielfältigen und dabei immer rascher ändern und sich zugleich immer deutlicher voneinander unterscheiden, müssen Identität und Biographie immer selbstbewußter hergestellt und gleichsam im Fluß gehalten werden. Es kommt zu einem "Entsprechungsverhältnis von individuellem Modulationswunsch und übergreifendem Modulationserfordernis" (Lindenberg/ Schmidt-Semisch 1995: 6) - und hoffentlich auch zu einer diesem Verhältnis entsprechenden Modulationsfähigkeit. Denn diejenigen, welche die Identitätsarbeit unter den veränderten Verhältnissen nicht mehr bewältigen, werden womöglich Erscheinungen zeigen, wie man sie heute schon zunehmend als "fragmentierte" oder "multiple" Persönlichkeiten, als psychische "Grenzgänger" mit einem "Borderline-Syndrom" oder psychotisch reagierende "Dividuen" (Deleuze) diagnostiziert.

Vierte Tendenz: Von der Kontrolle der Individuen zur Kontrolle der Situationen.

War die Disziplinargesellschaft auf die Herstellung des zuverlässigen Individuums konzentriert, so ist die Kontrollgesellschaft eher an der Vermeidung bzw. Regulierung prekärer Situationen interessiert. Zwar ist die Einrichtung flächendeckender elektronischer Kontroll- und Zuteilungssysteme für Sozialleistungen, für Arbeit, Einwanderung, Gesundheitsleistungen, harte Drogen, Personentransporte und Abfallbeseitigung unausweichlich auf die Registrierung personenbezogener Daten angewiesen, doch die Personen hinter diesen Daten sind weitaus weniger von Interesse als die Kapital-, Waren- und Dienstleistungsströme und die Verhinderung überkomplexer oder störender Situationen: "Das Prinzip ist Kontrolle bei Gleichgültigkeit gegenüber der kontrollierten Person, Überwachung ohne Überwacher" (Kuhlmann 1993:1342). Soziale Kontrolle funktioniert vor allem präventiv, veräußerlicht und maschinisiert:

"Die resultierenden Stile der Kontrolle beinhalten (1) ein zunehmendes Gewicht von Überwachung und Beobachtung und (2) das Anwachsen eines Systems der Willfährigkeit. Standards für Konformität werden geschaffen - Sicherheitssysteme auf Flughäfen, Urintests bei Angestellten zur Prüfung des Drogengebrauchs, Überwachung in Aufzügen in Gebäuden - ganz gleich, ob eine deviante Aktion stattgefunden hat oder nicht" (Cohen 1993: 220).

Die Loyalität oder Nicht-Loyalität des Bürgers interessiert nicht mehr so sehr wie im Obrigkeitsstaat des 19. Jahrhunderts, denn auf innere Zustimmung sind die computerisierten Ressourcen-Management-Systeme der Zukunft nicht mehr angewiesen.

Fünfte Tendenz: Schwerpunktverlagerung von normativen zu kognitiven Kontroll-Mechanismen.

"In der Kontrollgesellschaft", so Michael Lindenberg und Henning Schmidt-Semisch (1995: 2), "begegnet der Staat dem Niedergang einer universalen Moral mit einer Entmoralisierung der Kontrolle". Konflikt-Management steht höher im Kurs als theatralische Bestrafung. Zwar nehmen Lebensstil-Kontrollen (bezüglich des Rauchens, Essens, Trinkens, safer sex etc.) zu, doch nicht mittels der altertümlichen Holzhammer-Methoden des Strafrechts. An die Stelle der hochpunitiven Einheitssanktion der Gefängnisstrafe tritt eine breite Palette spezialisierter Regulationen ("Verkehrserziehung", "Soziales Training" usw.), die am einen Ende moralisch hoch aufgeladen ("Frauen verändern Vergewaltiger"), am anderen Ende aber praktisch non-normativ sind (Frauen absolvieren Kurse, um vergewaltigungs-geneigte Situationen zu vermeiden; vgl. Cohen 1993: 221). Wo die Sanktionierung gegenüber der Regulierung in den Hintergrund tritt, kommt es zu Transformationen, vielleicht auch zu Verlusten an Normativität. Vielleicht nähert man sich hier dem Kern des von Deleuze behaupteten Übergangs von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft. Der neue Leviathan will schon lange nicht mehr den Körper, aber auch schon nicht mehr die Seele des Verurteilten, sondern nur noch das Wissen für den jederzeitigen Zugriff. Sein Hunger gilt der Information mehr als der Unterwerfung.

Womöglich befinden wir uns also in einem Prozeß der Ablösung normativer durch kognitive Kontroll-Mechanismen. Zumindest gibt es die verbreitete Vermutung, daß der durch eine jahrhundertelange abendländische "Einprägungsarbeit" (Bourdieu) ständig reproduzierte "Primat normativer Mechanismen" (Religion, Recht und Politik) heute im Verschwinden begriffen sei und künftig wohl durch einen anderen Herrschaftscode ersetzt werde. Daß man aus den gegenwärtig bereits sichtbaren Phänomenen die Tendenz "einer Verlagerung des evolutionären Primats von normativen auf kognitive Mechanismen" herauslesen könnte, meinte vor einiger Zeit bereits Niklas Luhmann (1972 II: 340). Normativ aufgeladene Kontrollsysteme würden demnach als Steuerungsmedien an Bedeutung verlieren. Diese These gewinnt eine gewisse Plausibilität für die westlichen Gesellschaften, in denen der Jenseitsglaube wohl immer noch weiter abnimmt, das Recht seiner Aura beraubt ist und die Politik sich zunehmend ihrer Handlungsunfähigkeit bewußt wird. Auch scheint sich der gegenwärtige Normativitätsverlust in einen sehr viel längeren historischen Weg einzupassen, der von der archaischen Erfolgshaftung über die neuzeitliche Dominanz von Schuld- und Strafkonstruktionen seit dem 19. Jahrhundert wieder zurück zum eher entsubjektivierten Denken in Begriffen von Zuständigkeit und Haftung führt. Während die frühen Staaten (im Gegensatz zu vorstaatlichen Gesellschaften) die Subjektivierung der Zurechnung auf die Spitze trieben (z.B. Hexenverfolgung, aber auch Gerichtsverfahren gegen Hunde und Katzen incl. Schuldsprüche und Hinrichtungen), ist seither eine Tendenz zur Relativierung des subjektiven Verschuldens festzustellen. Immer stärker wird die Frage nach der 'Schuld des Täters' zum bloßen Hintergrundmythos eines in dieser Hinsicht längst agnostisch gewordenen Konflikt-Managements.

Sechste Tendenz: Von der reaktiven zur proaktiven Kontrolle.

Das klassische Freiheitsideal des Rechtsstaats ließ dem Bürger Raum für alle möglichen Handlungen und legte dem Staat Zurückhaltung auf, bis eine Straftat geschehen war. Vorher konnte und mußte allenfalls polizeirechtlich die 'Sicherheit' geschützt und die Ordnung erhalten werden. Erst für die getane Tat wurde gestraft. Diese Strafe war dann allerdings hart, markant und öffentlich. Im Laufe der Zeit hat sich die Auffassung von der Funktion des Staates, des Rechts und vor allem des Strafrechts gewandelt. Zuerst wurde der Versuch einer Straftat ebenfalls zur Straftat erklärt, dann wurde aus dem Strafrecht überhaupt ein Instrument zur Gefahrenabwehr, so daß es nur logisch war, Vorbereitungshandlungen und konkrete, später auch abstrakte und immer abstraktere Gefährdungen in strafrechtliche Tatbestände umzumünzen. Heute ist diese Wende von der Reaktion zur Prävention im Strafrecht vollzogen, und nicht nur dort. Überhaupt ist das Strafrecht nicht die Quelle der Entwicklung, sondern nur ein Bereich unter vielen, an denen sie sich aufzeigen läßt. Heute werden Städte, Einkaufszentren und Schulgebäude, einzelne Mietshäuser und ganze Straßenzüge bereits auf dem Reißbrett so geplant, daß individuellen und kollektiven Eindringlingen von vornherein die Zwecklosigkeit ihres Tuns signalisiert wird. In der Gesundheitspolitik rangiert die Prävention vor der Reaktion: von AIDS bis zur Zahnfleischmassage, von der Ernährungsberatung über die Früherkennung von Schwangerschafts- und Mißbildungsrisiken bis zur Krebs-Vorsorgeuntersuchung. Der kriminalpolitische Diskurs würde auf nahezu Null schrumpfen ohne die zahllosen Beiträge zu Drogen- und Suchtprävention, Delinquenzprophylaxe, Techno-Prävention etc. Daß das Strafrecht angesichts dieser Wende zur Prävention nicht etwa abstirbt oder zumindest, da Inbegriff reaktiven Staatshandelns, enorm an Bedeutung verliert, sondern auf allen möglichen und unmöglichen Wegen sich selbst in ein präventives Instrument par excellence verwandeln zu können glaubt, ist ebenso ein Beweis für die Stärke dieser Gesamttendenz wie auch ein Indiz für die Substanzlosigkeit der in Deutschland so hingebungsvoll gepflegten Strafrechtsdogmatik.

In mancher Hinsicht wirkt das neue Interventionsrecht milder und irgendwie harmloser als das frühere Strafrecht. Es scheint einen Weg zu gehen, der von "Strafe als Mißbilligung" zur "Mißbilligung als Strafe" bzw. von "Strafe mit Präventionszweck" zur "Prävention als/statt Strafe" führt. Die Sanktionen, die gegenwärtig an Popularität gewinnen, wollen nicht quälen, sondern regulieren. Insofern werden sie subtiler, legerer, ätherischer. "Verwarnungen mit Strafvorbehalt" und andere "alternative Sanktionen" drehen den Spieß des Strafrechts nahezu um. Es sind nicht mehr wirkliche Strafen, die Mißbilligung ausdrücken sollen, sondern es sind symbolische Mißbilligungen, die mehr und mehr an die Stelle der Strafe treten (vgl. Neumann/ Schroth 1980). Im Bereich der formellen Kontrolle findet also eine Abkehr von totalen Institutionen, von Freiheitsentzug und von der Übelszufügung als Selbstzweck statt. Immer mehr geht es darum, die formelle Kontrolle zum Scharnier der Rückführung des Delinquenten in eine spezialisierte Sozialisation zu machen. Das heißt aber auch, daß die Grenzen zwischen formellen und informellen Reaktionen auf Abweichung, ja sogar die zwischen aktiven und reaktiven Formen sozialer Kontrolle immer fließender werden (Grenzöffnung). Wie Stan Cohen (1993: 220) sagt: "Soziale Kontrolle entwickelt sich von dem bislang üblichen reaktiven Modus - indem sie nur aktiviert wird, wenn Regeln verletzt wurden - in den proaktiven: Antizipation, Vorhersage, Kalkulation im voraus".

Siebte Tendenz: Von der konzentrierten zur gestreuten Kontrolle.

Dies gilt auch für die letzte unbestreitbare Grundtendenz, die sich im Wirtschaftsleben ebenso zeigt wie in der Daseinsvorsorge, im Erziehungsbereich und im Strafrecht. "Der Kapitalismus des 19. Jahrhunderts", schreibt Deleuze (1990: 8f.),

"war an Konzentration orientiert, sowohl was die Produktion als auch das Eigentum angeht. Deshalb richtete er die Fabrik als geschlossene Umwelt ein, wobei der Kapitalist Eigentümer der Produktionsmittel, aber möglicherweise auch Eigentümer anderer, in Analogie zur Fabrik gebildeter Umwelten war (der Familienwohnung des Arbeiters, der Schule). In der heutigen Situation ist der Kapitalismus jedoch ... auf feinste Verteilung angelegt (dispersiv)".

Dispersiv ist aber auch die Kontrolle, die der Auflösung der traditionellen Klassenverbände in den Schulen und der zunehmenden Ersetzung der 'großen' konzentrierten Abschlußprüfungen in den Hochschulen folgt, wo ineinander verschachtelte Leistungskurse, Spezialisierungen und Zwischenprüfungen die dauernde Fein-Kontrolle an die Stelle geschlossener lnitiationsriten setzt. Gründlich analysiert wurde auch schon die Verlagerung der Kontrolle von den großen Anstalten (z.B. für psychisch Kranke) auf den gesamten Lebenszusammenhang, in den sie nach den gemeinde- und sozialpsychiatrischen Reformen und der Schließung großer Anstalten entlassen wurden. Nicht anders ist es im Bereich der allgemeinen Präventiv- und Sozialmedizin. Diese Tendenz ist offenbar so stark, daß sie auch vor den Bereichen nicht haltmachen kann, die ihr aus prinzipiellen rechtsstaatlichen Erwägungen 'eigentlich' verschlossen bleiben müßten. Dies gilt insbesondere für die Methoden der Verbrechensverfolgung - also den Bereich, in dem sich nach klassischer Auffassung am klarsten der Rechtsstaat vom totalitären 'Sicherheitsstaat' unterscheiden läßt. Eingeführt wurden in kürzester Zeit zum Beispiel verdeckte Ermittler, Rasterfahndung, Vermehrung der Telefonüberwachung, langfristige Observation durch Hören, Sehen und Aufzeichnen. "Damit", so der als nüchterner Analytiker bekannte Strafrechtslehrer Winfried Hassemer,

"hat man unser Strafprozeßrecht revolutioniert. Bislang hatte das Ermittlungsverfahren nämlich - bis auf marginale Ausnahmen - zwei bürgerfreundliche Eigenschaften: Konzentration und Offenheit. Es konzentrierte sich auf den Beschuldigten und achtete damit den Tatverdacht als Eingriffsschwelle, und es hatte ein offenes Visier: Durchsuchung, Beschlagnahme, Untersuchungshaft oder Blutprobe geschehen im Angesicht des Betroffenen, er kann sich deshalb darauf einstellen und sich notfalls dagegen wehren".

Die neuen Ermittlungsmethoden hingegen sind sämtlich heimlich. Und:

"Sie streuen breit, schon aufgrund ihrer Technologie, denn Telefonpartner (oder wer der Zielperson sonst noch begegnet) haften ja zwangsläufig mit. Der Gesetzgeber hat ein übriges getan und den natürlichen Weitwinkel der polizeilichen Beobachtung seinerseits noch einmal auf sog. Kontaktpersonen erweitert. So geraten nicht nur Unschuldige, sondern gänzlich Unbeteiligte ins systematisierte Wissen der Ermittlungsbehörden... Mit Offenheit und Konzentration der Ermittlungsmethoden ist es vorbei" (Hassemer 1994: 2).

Die neuen Methoden passen im Grunde besser auf die Geheimdienste als auf die Polizei. Und da sich jene nach dem Wegfall des herkömmlichen Feindes im Osten eh wieder nach einer langfristigen Aufgabe sehnen, drängen starke Kräfte auf die Nutzung ihrer Methoden und Erfahrungen:

"Heimliche, breit streuende Informationseingriffe - das zeichnet diese Methoden aus, und darauf passen fugenlos die 'Staubsauger' der Nachrichtendienste, welche aus über dreißig Kilometer Höhe riesige Flächen überwachen können und doch an dieser Fülle von Informationen nicht ersticken, weil sie automatisch konzentrationsfähig sind: auf Stimmen oder auf Stichwörter. Eine Verbindung des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens mit nachrichtendienstlicher Ausforschungsmethodologie paßt wie der Deckel auf den Topf, seit die Methoden des Ermittlungsverfahrens radikal verändert worden sind" (Hassemer 1994: 9).

Bundesbürgern ist die Tragweite solcher Veränderungen aus schwer zu ermittelnden Gründen nicht immer klar. Vielleicht vor allen Dingen deshalb, weil wir die Freiheit, die zu verlieren wir im Begriffe stehen, nie selbst erkämpft, sondern nur mehr oder weniger gegen unseren Willen von der Geschichte zugeschanzt bekommen hatten.

Achte Tendenz: Von der offenen zur verdeckten Kontrolle.

Die Orte, an denen - wie in den riesigen Einkaufszentren (malls) Nordamerikas, in den großen Vergnügungsparks vom Stile Disneyland/ Disney World und in den reichen Vororten der globalen Metropolen - die Kommodifizierung von Sozialisation, Legitimation und Sicherheit heute schon am weitesten fortgeschritten ist, gelten vielen Soziologen als Laboratorien für die soziale Kontrolle in der Welt der Zukunft (vgl. Shearing/ Stenning 1987, Lindenberg/ Schmidt-Semisch 1995, Nogala 1995). Deren Hauptmerkmal ist Unaufdringlichkeit bis zur Unsichtbarkeit. Das meiste wird im vorweg geregelt: durch Raumplanung, Architektur und Techno-Prävention werden unerwünschte Personen ebenso ferngehalten wie unerwünschte Ereignisse. Wo auf diese Weise ein künstliches Paradies entsteht, ist die Wahrscheinlichkeit von Mißhelligkeiten auf ein Minimum reduziert. Die größten Einkaufszentren sind überdachte kleine Konsum-Städtchen, in denen tadellose Sauberkeit herrscht, und wo es außer emsigem Einkaufen keine legitime Verhaltensweise mehr gibt. Ausruhen? Nur bei Verzehr. Stundenlang auf einer Parkbank sitzen? Ausgeschlossen. Da würden dann doch die zwar unaufdringlichen, aber doch omnipräsenten privaten Sicherheitsdienste einschreiten. In unangebrachter Kleidung herumlungern? Das wäre wohl ein Sakrileg. Aber solche Leute kommen gar nicht erst.

In den Vergnügungsparks ist es ähnlich. Hier handelt es sich bei der Ware, die feilgeboten wird, und deren Aneignungsversuch die Besucherströme durch das Universum lenkt, bereits nicht mehr um traditionelle Konsumgüter, sondern um die Elemente der oben erwähnten neuen Romantik, um die Ware 'Aufregung' und 'Abenteuer', um 'Exotik' und 'Erfahrung', immer schon gekoppelt mit ein bißchen positivem Geschichtsbild ('politisch-historische Identität') und einem unaufdringlichen Modell für das harmonische Zusammenleben überhaupt, das nach dem Muster der amerikanischen Ideal-Familie gestrickt ist ('Harmonie', 'Sicherheit'). Die Lenkung der Besuchermassen erfolgt durch Landschaftsarchitektur, durch Bedürfnis-Manipulation und durch freundliche, meist in Micky-Maus-Verkleidungen daherkommende Helfer, die keine Befehle aussprechen, sondern immer nur auf den bestehenden Konsens - daß sich alle risikolos vergnügen wollen - hinzuweisen haben, um unerwünschte Verhaltensweisen zu vermeiden bzw. sofort informell zu korrigieren:

"Control strategies are embedded in both environmental features and structural relations. In both cases control structures and activities have other functions which are highlighted so that the control function is overshadowed. Nonetheless, control is pervasive. For example, virtually every pool, fountain, and flower garden serves both as an aesthetic object and to direct visitors away from, or towards, particular locations. Similarly, every Disney Productions employee, while visibly and primarily engaged in other functions, is also engaged in the maintenance of order. ... [O]rder maintenance is established as a voluntary activity which allows coercion to be reduced to a minimum. Thus, adult visitors willingly submit to a variety of devices that increase the flow of consumers through Disney World, such as being corralled on the monorail platform, so as to ensure the safety of their children. Furthermore, while doing so they gratefully acknowledge the concern Disney Productions has for their family, thereby legitimating its authority, not only in the particular situation in question, but in others as well" (Shearing/ Stenning 1987: 319 f.).

Dieselben Prinzipien dieser artifiziellen Paradiese, in denen soziale Kontrolle schon von vornherein eingebaut ist und nicht erst mühsam von Fall zu Fall gegen den Willen des Individuums ausgeübt werden muß, sondern allenfalls gelegentlich einmal durch Hinweis auf bestehende Konsense und Zweckmäßigkeiten aktualisiert wird, gilt auch für die Welt der wohlhabenden Vororte. Alles, was möglicherweise stören könnte, findet dort von vornherein keinen Zugang: private Sicherheitsdienste lassen ihn, sie oder es nicht hinein. So bleibt der Rasen gepflegt, der Haushalt sicher. Das Glück der Reichen ist perfekt, auch wenn es mit einer gewissen Bunker-Mentalität verteidigt werden muß (vgl. Davis 1990).

Die immer krasseren innerstaatlichen Ungleichheiten und die immer größeren globalen Ströme von Wirtschafts-, Bürgerkriegs- und Unterdrückungsflüchtlingen werden für eine wunderbare Vermehrung der Inseln der Glückseligen sorgen, die sich freilich für den Notfall immer "armed response" (Davis) vorbehalten. Es fällt schwer, sich die Notwendigkeit eines Gefängnisses innerhalb dieser Wohlstandsinseln vorzustellen. Denn für Gleiche hat man andere Sanktionsmöglichkeiten. Passender schon ist die perfektionierte Video-Überwachung, für die wirklichen Sünder der Haus- oder Vorort-Arrest, dessen Einhaltung mit dem "electronic monitoring" garantiert wird. Kein Zweifel: die neuen Formen der sozialen Kontrolle werden vielerorts die alten Techniken obsolet werden lassen.

Konsequenzen für die Einsperrung

Nach allem sieht es also so aus, als habe die Einsperrung in der Tat aus vielerlei Gründen ausgedient, als werde folglich nicht die GULAG-Vision von Nils Christie, sondern die "fortschreitende und feinverteilte Herausbildung einer neuen Herrschaftsform" unter Verwendung von elektronischen Überwachungsmitteln, wie Gilles Deleuze sie skizziert hatte, die Oberhand behalten. Das Menschenbild und der Sozialcharakter, zu dem das Gefängnis einen historisch nachweisbaren und, unbestreitbar, noch heute einen wahlverwandtschaftlichen Bezug aufweist, ist längst von einem anderen Menschenbild und einem anderen Sozialcharakter abgelöst; die Verhaltenslenkung erfolgt nicht mehr über die Prägung des dekontextualisierten Individuums, sondern über die Manipulation aktueller Bindungen und Bedürfnisse und über situative, weit gestreute und heimliche, aber jederzeit zum Zugriff fähige Kontrollen. Der Zugriff führt dann aber, wenn er angesichts der Präponderanz der strukturellen und technischen Präventionen überhaupt noch erfolgen muß, kaum bis zur Inhaftierung.

Doch woher dann die Widerspenstigkeit der Gefängnisse gegenüber der wohlbegründeten Prognose ihres baldigen Absterbens? Ihre von Nils Christie so eindringlich beschriebene Expansion ist Ausdruck einer teils schwachen und vorübergehenden, teils aber auch kritischen Gegentendenz, die sehr wohl dominant werden kann. Vorübergehend ist all das, was mit dem 'Nachholbedarf' dieses speziellen Sektors zusammenhängt, d.h. mit der Öffnung eines Marktes, wo früher nur Herrschaft war. Sicherheitsbedürfnisse und Kriminalitätsraten waren immer schon Gegenstand von Manipulationen. Doch waren die Agenten der Manipulation bislang auf Inhaber von bzw. Aspiranten auf politische Herrschaft beschränkt. In dem Maße, in dem Sicherheit, Strafverfolgung und Strafvollstreckung den Marktimperativen unterworfen werden, erfolgt die Ressourcen-Exploitation nach anderen, das Kriminalitäts-Potential mit ganz anderer Gründlichkeit ausquetschenden Methoden. Die Öffnung der Grenzen des bislang hoheitlichen Areals provoziert zunächst einmal - wie die Öffnung eines ehemals nach sozialistischen Prinzipien wirtschaftenden Gebietes für die Marktwirtschaft - eine heiße Phase, die nach der Abschöpfung von Extraprofiten bald abzukühlen pflegt. Hinzu kommt der Zwang zur Produkt-Innovation. Unmittelbar nach der Öffnung des Strafvollzugs für Private wird zunächst einmal die Ware 'Gefängnis' so profitabel wie möglich vermarktet. Doch neue Produkte der 'Sicherheit' werden gefragt sein, und Wettbewerber, die effektive nicht-kustodiale Alternativen anbieten, werden in Zukunft dafür sorgen, daß der Sektor der sozialen Kontrolle seine Strukturgleichheit mit den allgemein gewandelten Verhältnissen wiederfindet. Insofern werden dieselben Kräfte, die gegenwärtig das Gefängnissystem expandieren lassen, in naher Zukunft allein aufgrund des Zwanges zur Produktinnovation alternative Sanktionen anbieten, die dem neuen Modus der sozialen Beziehungen und Kontrollen entsprechen.

Es spricht nichts dagegen, die innovativen Sanktionsmethoden als Ausdruck des Zivilisationsprozesses anzusehen. Dieser aber pflegte immer schon seine erheblichen Kosten ganz 'unzivilisiert' zu externalisieren, indem er Kolonien ausplünderte und ganze Völker unterdrückte oder vernichtete. Und man sollte, wenn man die neuesten Fortschritte der Kontrolltechnologie analysiert, die Tatsache nicht vergessen, daß es auf der Welt eine große Mehrheit der Menschen ist, die, wie Deleuze (1990: 9) sagt, "für die Verschuldung zu arm und für die Einschließung zu zahlreich sind". Es ist offenbar, daß die gegenwärtige Expansion des Gefängniswesens mittelbar auch auf der globalen Migration und der Re-Barbarisierung der internationalen Beziehungen beruht. Nicht zuletzt sind es ja die verarmten Asylbewerber, Osteuropäer, Wirtschafts- und Bürgerkriegsflüchtlinge, die jetzt schon bis zur Aus- und Überlastung der Kapazitäten in die Gefängnisse gequetscht werden, die sich außerhalb der zu Festungen ausgebauten Inseln alteuropäischen Wohlstands schon jetzt nicht mehr mit der Hoffnung auf westliche Konsumgüter ruhigstellen lassen. In dem Maße, in dem sie die Rolle eines globalen "Vierten Standes" einnehmen, dürften die Inhaber privilegierterer Positionen sehr viel ältere Kontroll-Modi reaktivieren. "Auflösung der Innenwelten" ist da wohl nicht mehr die richtige Metapher. Eher schon kann man von einer Sprengung der Gefängnisse durch das exponentielle Wachstum der zu verhaftenden Massen sprechen. Wenn die Gefängnisse den Innendruck nicht mehr aushalten, werden andere Auffangmöglichkeiten (z.B. Internierungslager) gesucht und gefunden werden. Die Antwort liegt also eher im 'Und' als im 'Oder', wenn von Christie und Deleuze die Rede ist. Während vielerorts die Entwicklung auf das Vergnügungspark-Modell mit seiner geschickten Architektur, seiner Politik des Konsenses und der Bedürfnis-Lenkung samt der Neuen Romantik des kommodifizierten Exzesses hinausläuft, spricht die historische Erfahrung dafür. daß die Methoden selektiver Brutalität noch keineswegs ausgedient haben. Insofern ist weder die Geschichte an ihrem Ende angelangt noch der Zivilisationsprozeß. Daß man sich Art und Ausmaß der künftigen Grausamkeiten, die zeitgleich mit den kühnsten technologischen Innovationen bei der In-Group-Kontrolle gegenüber den Out-Groups stattfinden können, heute nicht vorzustellen vermag, belegt nur einmal mehr, wie merkwürdig limitiert unser Antizipationsvermögen doch in den Fällen ist, wo wir uns nicht selbst zu den vermuteten Opfern zählen.

Literatur

Campbell, C. 1987: The Romantic Ethic and the Spirit of Modern Consumerism. Oxford

Christie, N. 1993: Crime Control As Industry. Towards GULAGs, Western Style? London

Cohen, St. 1993: Soziale Kontrolle und die Politik der Rekonstruktion. In: Frehsee, D.; Löschper, G.; Schumann, K.F. (Hg.): Strafrecht, soziale Kontrolle, soziale Disziplinierung. Opladen, S.209-237

Davis, M. 1990: City of Quartz. Excavating the Future in Los Angeles. London, New York

Deleuze, G. 1990: Das elektronische Halsband. Innenansicht der kontrollierten Gesellschaft. In: Neue Rundschau, Heft 4, S.5-10

Hassemer, W. 1994: Ohne Titel. Unveröff. Vortragsmanuskript, Beethovenhalle Bonn, 8.4.1994 Hess, H. 1983: Probleme der sozialen Kontrolle. In: Festschrift für Heinz Leferenz. Heidelberg, S.3-24

Kuhlmann, J. 1993: Bürger auf Karten. Totalerfassung durch sozialökologische Rationierungssysteme. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 11, S.1333-1346

Lindenberg, M.; Schmidt-Semisch, H. 1995: Sanktionsverzicht statt Herrschaftsverlust: Vom Übergang in die Kontrollgesellschaft. In: Kriminologisches Journal 27, S.2-17

Luhmann, N. 1972: Rechtssoziologie. 2 Bde. Reinbek Marcuse, H. 1964/1967: Der eindimensionale Mensch. Neuwied

Merk, G. 1988: Konfliktstau durch Ungüter. In: Klose, A.; Köck, H.F.; Schambeck, H. (Hg.): Frieden und Gesellschaftsordnung. Festschrift für Rudolf Weiler zum 60. Geburtstag. Berlin, S.197-211

Nogala, D. 1995: Was ist eigentlich so "privat" an der "Privatisierung sozialer Kontrolle"? Anmerkungen zu Erscheinungen, Indikatoren und Politökonomie der zivilen Sicherheitsindustrie. Unveröff. Manuskript. Hamburg

Sack, F. 1968: Neue Perspektiven in der Kriminologie. In: Sack, F.; König, R. (Hg.): Kriminalsoziologie. Frankfurt/Main, S.431-475

Shearing, C.D.; Stenning, P.C. 1987: Say "Cheese!": The Disney Order That Is Not So Mickey Mouse. In: Shearing/ Stenning (eds.): Private Policing. Newbury Park, S.317-324