
Jenseits von Status und Expertise
Schwerpunkt
Der folgende Text ist als Vortrag am 28. Sozialpädagogik-Tag des Fachbereichs Erziehungswissenschaft der Universität Tübingen am 27. November 2004 gehalten worden. Mit Bezug auf die aktuelle diagnostische Diskussion (vgl. WIDERSPRÜCHE Heft 88, 2003) werden fünf Spannungsfelder des Regierens und des Nicht-So-Regiert-Werdens entfaltet: Klassifizieren oder Betrachten, Verstehen oder Verständigen, Erklären oder Klarheit gewinnen, Steuern oder Entfalten, Macht oder Herrschaft. Mit Bezug auf den in der Bundesrepublik eher unbekannten französischen Sozialwissenschaftler Jullien und den sehr viel bekannteren Foucault wird eine paradigmatische Unterscheidung zwischen Macht und Herrschaft in der Nachfolge von Hannah Arendt entfaltet. Wen darüber hinaus interessiert, wie eine in diesem Rahmen praktizierte Soziale Arbeit möglich ist, lese die Untersuchung Erfolgreich sozialräumlich handeln, die Michael Langhanky zusammen mit Cornelia Frieß, Marcus Hußmann und Timm Kunstreich als Bericht über die Evaluation der Hamburger Kinder- und Familiehilfezentren durchgeführt hat (Bielefeld 2004).
Seit Beginn der Neuzeit hat sich das Sicherheitsdenken vom Schutz gegen unmittelbar drohende Gefahren durch äußere Gewalten (Naturkatastrophen, Feuersbrunst etc.) zunächst auf den gefährlichen Menschen und schließlich auf das Gefährliche im Menschen verlagert. Während es den gesellschaftskritischen sozialen Bewegungen immer um eine Prävention der Verhältnisse ging, dominierte in der professionellen Sozialen Arbeit seit ihren Anfängen im späten neunzehnten Jahrhundert eine Prävention des Verhaltens von Individuen, in der Form diverser Strategien der Normalisierung. Gegenwärtig ist Prävention in Theorie und Praxis in allen Bereichen der Sozialen Arbeit zum Zentrum des Selbstverständnisses geworden. Mit einigem Recht kann heute von Prävention als einen kulturellen Fokus der Sozialen Arbeit gesprochen werden. Die normative Aufladung der Prävention, ihre Bedeutung als ordnungspolitische Strategie der Anpassung und Kontrolle wird kaum gesehen. Dominant ist die scheinbare Evidenz des Slogans Vorbeugen ist besser als Heilen.
Um verschüttete Voraussetzungen der spezifischen Rationalität fachlicher Diskurse um eine Professionalität Sozialer Arbeit sichtbar zu machen und einen kritischen Bezugspunkt der Theoriebildung zu gewinnen, wird vorgeschlagen, Soziale Arbeit als Arbeit am Sozialen zu fassen. In kritischer Auseinandersetzung mit aktuellen Theorien sozialen Kapitals wird zunächst eine Bestimmung des Sozialen vorgenommen. Von dort ausgehend werden grundlegende Widersprüche analysiert, in die Soziale Arbeit in unserer Gesellschaft eingespannt ist, und es werden konzeptionelle Vorschläge unterbreitet, wie mit diesem im Rahmen eines Arbeitsprinzips Partizipation umgegangen werden kann.
In dem Beitrag wird die These begründet, dass reflektierte Subjektivität ein sowohl missachteter als auch missbrauchter Aspekt in den gegenwärtigen Wandlungsprozessen professioneller Sozialer Arbeit darstellt. Zwar stellt Subjektivität und deren Reflexion in den Methoden Sozialer Arbeit schon immer einen grundlegenden Bestandteil dar (Supervision, etc.) und ist obendrein auch keine unbekannte Größe in den gängigen Professionalisierungstheorien. Aber das Konzept der reflektierten Subjektivität ist im Zusammenhang der Dimensionen von subjektivierendem Arbeitshandeln und implizitem Wissen noch immer nicht in den sozialarbeiterischen Handlungstheorien systematisch konzeptionalisiert worden. Zudem wird reflektierte Subjektivität in den aktuellen Objektivierungsparadigmen des New Professionalism konterkariert, in dem diese Paradigmen im Rahmen der Ökonomisierung des Sozialen den Prozess eines intendierten Selbstzwangs zur technologischen Selbstobjektivierung fordern. Insofern gilt es, das Konzept der reflektierten Subjektivität gerade auf diesen beiden Ebenen neu zu reflektieren und als ein zentrales Programm einer professionellen Kultur Sozialer Arbeit zu formulieren.
Nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 herrschte in vielen Wohngebieten der amerikanischen Großstädte Arbeitslosigkeit, Hunger und Verzweiflung. In dieser Situation entwickelte Saul D. Alinsky die Praxis des community organizing. Damit beeinflusste er die Entwicklung der Sozialen Arbeit in den USA und der Gemeinwesenarbeit in Deutschland. Bevor Alinsky sich mit einem Institut zum Aufbau von Bürgerorganisationen selbständig machte, studierte er Soziologie und Kriminologie in Chicago. Die vorliegende Fallstudie beschreibt Alinskys Professionalisierung und seine theoretischen und praktischen Standards, die er in der Ausbildung von Community Organizers und in der Organisationsentwicklung angewandt hat. Dabei werden die Details einer Arbeitsweise deutlich, die bisher in der deutschen Debatte um Professionalisierung von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern noch nicht hinreichend beachtet worden ist.
Das Feld der Sozialarbeit und der Diskursraum, in dem über sozialarbeiterische Professionalität geschrieben und gesprochen wird, sind anfällig für Ungenauigkeiten, für Verdrängung, für pathetische Bekenntnisse und opportunistische Heilserwartungen. Es ist also ein ganz normales Feld, in dem wir uns bewegen. Ich versuche in der Folge die polemische Analyse einiger Aspekte dieses Feldes.
Nachfolgender Artikel ist kein wissenschaftlicher Bericht. Er beschreibt am Beispiel eines Projektes - dem Übersetzungsdienst in Hamburg-Schnelsen - den Versuch, im Stadtteil vorhandenen Potentialen Geltung zu verschaffen und gleichzeitig Zugänge und gesellschaftliche Teilhabe für Migrantinnen und Migranten zu ermöglichen oder zumindest zu verbessern. Mit dem Projekt soll dem gesellschaftlichen Zustand der Ausgrenzung von Migranten und Flüchtlingen auch in sprachlicher Hinsicht begegnet und ihnen zu einer stärkeren Artikulation ihrer Bedürfnisse und Interessen verholfen werden.
Forum
Vortrag auf der Festveranstaltung des Instituts für Sozialpädagogik der Technischen Universität Berlin anlässlich des 65. Geburtstages und der Verabschiedung von Prof. Dr. Manfred Kappeler, am 11. Februar 2005, in Berlin.
Rezensionen
Editorial
"Professionalität in der Sozialen Arbeit" überschreibt Maja Heiner ihre interessante empirische Untersuchung über "theoretische Konzepte, Modelle und empirische Perspektiven in der alltäglichen Arbeit von sozialpädagogischen Fachkräften" (2004). Zu Beginn ihrer Untersuchung gibt sie einen informativen Überblick über die bisherige Diskussion zum Thema Profession und Professionalität. Dabei arbeitet sie zwei Zugänge heraus: den berufsstrukturellen, den sie vor allem auf Oevermann bezieht, und den handlungs- oder wirkungsorientierten Ansatz, für den Fritz Schütze steht. Nach dem auf Parsons zurückgehenden Kriterienkatalog einer "richtigen Profession" (Autonomie, hoher wissenschaftlicher Status, eigenständige Kontrolle der beruflichen Ethik) kann die Soziale Arbeit nie über den Status einer Semi-Profession hinauswachsen. Anders in den handlungs- bzw. wirkungsorientierten Ansätzen: Hier liegt der Schwerpunkt auf der Frage, wie Professionalität durch die Akteure selbst hervorgebracht wird. Mit diesem Zugang wird also nicht der ökonomische, ideologische oder wissenschaftliche Status einer Berufsgruppe in den Mittelpunkt gestellt, sondern die Kompetenz zur wissenschaftlichen "Expertise" wird zum zentralen Bezugspunkt und damit die Standards, die eine Expertise als praktizierte Professionalität ausmachen. Ein derartig handlungstheoretisch ausgerichtetes Rahmenmodell professionellen Selbstverständnisses und Handelns stellt nach Heiner als Aufgabe der Sozialen Arbeit die "Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft" (42) in den Mittelpunkt, die das Ziel hat, die "Autonomie der Lebenspraxis" (ebd.) zu stützen und zu stärken, wobei zwei Typen von Aufgabe zu bewältigen sind: die Optimierung der Lebensweise und die Optimierung der Lebensbedingungen. Die dazu erforderliche methodische Herangehensweise ist "(a) ressourcenorientiert, (b) mehrdimensional, (c) mehrperspektivisch, (d) vernetzend, (e) alltagsorientiert, (f) umweltbezogen und (g) partizipativ" (42). Auf der Basis von 20 ausführlichen Interviews arbeitet Maja Heiner den "Entwurf eines Modells beruflichen Handelns auf empirischer Basis" (155) heraus und belegt diesen als empirischen gehaltvollen Weg zum Professionsverständnis.
Auch wenn damit die Profession immer noch auf dem Weg zu einer "eigentlichen" ist (schon eine der ersten Arbeiten zu diesem Thema: "Sozialarbeit als Beruf", 1971 herausgegeben von Hans-Uwe Otto und Kurt Utermann, fragte im Untertitel: "Auf dem Weg zur Professionalisierung?"), so ist Hans Thiersch zuzustimmen, der im Vorwort zu Heiners Untersuchung die dort entwickelten "Professionsstandards ... wichtig und weiterführend für die Diskussion in der Sozialen Arbeit" hält (10). Mit der Betonung der Handlungsmöglichkeiten und Bewältigungsstrategien im Kontext professionellen Handelns liegt allerdings - so Thiersch abschließend - auch die Aufforderung, die gesellschaftlichen Kontexte, d.h. Widersprüche, Herrschaftsstrukturen und Machtverteilung in die Professionsdiskussion wieder stärker einzubeziehen, insgesamt also den Anschluss an eine kritische Gesellschaftstheorie zu finden. Diese Kritik lässt sich mit Antonio Gramsci zuspitzen:
"Gibt es ein einheitliches Kriterium, um gleichermaßen die verschiedenen und spezifischen Tätigkeiten Sozialer Arbeit zu erfassen und sie gleichzeitig und wesentlich von den Tätigkeiten der anderen gesellschaftlichen Gruppierungen abzugrenzen? Der verbreiteste methodische Fehler scheint mir zu sein, daß dieses Unterschiedsmerkmal in der Spezifik der Tätigkeiten Sozialer Arbeit gesucht wird und nicht im ganzen System der Beziehungen, in dem sie, und damit die Gruppen, die sie repräsentieren, als Teil des Gesamtkomplexes der gesellschaftlichen Beziehungen ihren Platz finden ... Alle Menschen sind SozialarbeiterInnen oder SozialpädagogInnen, könnte man sagen: Aber nicht alle Menschen haben in der Gesellschaft die Funktion von Professionellen der Sozialen Arbeit" (GRAMSCI 1967, S. 408/409 - Textvariante von der Redaktion, im Original steht "Intellektuelle" statt "Soziale Arbeit" u.ä.).
Was hier mit Gramsci angemahnt wird, ist eine dritte Gruppe von Arbeiten, die sich gesellschaftskritisch und zugleich kulturanalytisch verstehen lassen. In ihnen wird das Feld professionellen Handelns als einen Raum kultureller Praxen und deren Interpretation verstanden, in dem historisch unterschiedliche Typen sich sowohl entsprechend ihrer jeweiligen Entstehungsbedingungen aufeinander beziehen als auch im Konflikt zueinander stehen (vgl. z. B. die Professionstypologie in Kunstreich 1975). Der Sinn dieser Praktiken kann nur aus dem Kontext heraus verstanden werden und nicht mit extern angelegten normativen Maßstäben, wie Stephan Wolff in der weiterhin aktuellen Untersuchung zur gesellschaftlichen Produktion von Fürsorglichkeit (1984) herausarbeitet. Und nicht zuletzt steht Thomas Klatetzki für ein derartiges kulturanalytisches Verständnis, wenn er den Aspekt der Gleichwertigkeit unterschiedlicher Wissensdomänen in einer Gesellschaft hervorhebt - also von "Klient" und "Professionellem" - , deren unterschiedliche Deutungsmacht allerdings hegemonial verteilt ist (1993).
Dieser "dritte Ansatz" soll - durchaus mit Bezug oder in Verschränkung mit den anderen beiden - in diesem Heft verfolgt werden. Dabei hat uns ein Verständnis von Kultur als "Landkarte der Bedeutung" inspiriert, wie es John Clarke ebenfalls in Anschluss an Gramsci formuliert:
"Diese 'Landkarten der Bedeutung' trägt man nicht einfach im Kopf mit sich herum: sie sind in den Formen der gesellschaftlichen Organisation und Beziehungen objektiviert, durch die das Individuum zu einem 'gesellschaftlichen Individuum' wird. Kultur ist die Art, wie die sozialen Beziehungen einer Gruppe strukturiert und geformt sind; aber sie ist auch die Art, wie diese Formen erfahren, verstanden und interpretiert werden" (CLARKE u. a. 1979, S. 41).
Zu den Beiträgen im Einzelnen
Die ersten beiden Beiträge markieren zwei zentrale "Vermessungspunkte", die den aktuellen "Landkarten der Bedeutung" sozialpädagogischer Profession ihr charakteristisches Aussehen geben. Michael Langhanky führt die in Heft 88 begonnene Diskussion über Neo-Diagnostik fort und stellt die damit verbundenen Praktiken in fünf Spannungsfelder des Regierens und des Nicht-So-Regiert-Werdens. Mit Bezug auf Michel Foucault und Hannah Arendt arbeitet er die Unterschiede zwischen Macht und Herrschaft heraus und fragt nach den Möglichkeiten einer "mächtigen" Profession jenseits herrschaftlicher Diagnostik.
Beginnt Michael Langhanky seine Überlegungen im professionellen Alltag, so verortet Manfred Kappeler diesen in seinen historischen Dimensionen. Der Weg vom "Sozialstaat" zum "Präventionsstaat" ist nicht nur mit unendlichem Leid und einer Unzahl von Toten gepflastert, sondern auch immer wieder von Versuchen mittels rationaler Herrschaftstechniken Gesellschaft zu "konstruieren". Manfred Kappeler zeichnet die unterschiedlichen, sich überlagernden Wellen von Präventionsentwürfen nach und arbeitet die zentrale Bedeutung des "gefährlichen" Individuums für die Soziale Arbeit heraus. Nachdem die "gefährlichen Klassen" zur Raison gebracht wurden, ist so gut wie kein Feld der Sozialen Arbeit unbeteiligt, wenn es darum geht, in Präventionskampagnen als Moralunternehmer die eigenen Claims zu sichern - die großen Wohlfahrtsverbände publizieren auf der einen Seite Armutsberichte und beschäftigen auf der anderen Seite demnächst Hunderttausende zu "Hartz IV - Bedingungen".
Michael May - quasi wie ein Landvermesser sowohl "Diagnostik" als auch "Prävention" im Blick habend - konturiert eine andere "Landkarte der Bedeutung": Er fragt nach dem Verhältnis von toter zu lebendiger Arbeit, vom Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen in der Hervorbringung des Sozialen. Mit diesem "alternativ-hegemonialen" Vorschlag führt Michael May die in den WIDERSPRÜCHEN wiederholt diskutierte Frage nach einer solidarischen Professionalität weiter und konturiert sie als Ferment gesellschaftlicher Befreiung.
Dass Reflexion und Subjektivität zentrale Bezugspunkte in der professionellen Selbstdeutung und in den kulturellen Landkarten der Profession sind, ist so unbestritten, dass eine kritische Auseinandersetzung mit der Verwendung der beiden Begriffe auf der Tagesordnung steht. Jan Kruse nimmt sich dieser Aufgabe unter zwei Aspekten an. Zum einen untersucht er die Missachtung reflektierter Subjektivität, zum anderen deren Missbrauch. Die Konsequenz einer reflektierten Subjektivität als Programm einer professionellen Kultur Sozialer Arbeit deutet Jan Kruse an - Peter Szynka nimmt diesen Faden in exemplarischer Weise auf, in dem er nach dem Verständnis von Professionalität bei Saul D. Alinsky fragt und bei diesem radikalen Demokraten interessante Kriterien für "gute Arbeit" im Community Organizing findet. Dieser historisch-biographische Zugang macht zum einen deutlich, in welcher Tradition kritische Soziale Arbeit steht. Dass dieser Ansatz sich - auf der anderen Seite - deutlich gegen institutionelle Selbstreferenz und Individualisierung als Ausdruck von Spezialisierung wendet, dafür nimmt Peter Pantucik die Kritik des vorherrschenden Professionalismus noch einmal auf und macht deutlich, dass Kritisches über Profession nur gesagt werden kann, wenn die Kritik sich mit einer Kritik der vorfindbaren Institutionalisierung Sozialer Arbeit verbindet.
Da es auch hier Alternativen in der Praxis gibt, zeigt Werner Brayer in dem abschließenden Bericht über das Projekt der "Quartiers-DolmetscherInnen". Dass mehrsprachig kompetente Menschen zu besonderer "Expertise" (siehe oben Maja Heiner) befähigt sind, gerade wenn sie in ihrem alltagsweltlichen Kontext eingebunden bleiben, unterstreicht noch einmal Gramscis These, dass wir alle "Dolmetscher" sind, aber eben längst nicht alle die Funktion von Dolmetschern in dieser Gesellschaft inne haben.
Die Redaktion
Literatur
Clarke, J. u. a., Jugendkultur als Widerstand. Milieus, Rituale, Provokationen, Frankfurt/M. 1979
Gramsci, A., Philosophie der Praxis, Frankfurt/M. 1967; Gefängnishefte, Band 1-10, Hamburg 1991 ff.
Heiner, M., Professionalität in der Sozialen Arbeit. Theoretische Konzepte, Modelle und empirische Perspektiven, Stuttgart 2004
Klatetzki, T., Wissen, was man tut. Professionalität als organisationskulturelles System, Bielefeld 1993
Kunstreich, T., Der institutionalisierte Konflikt, Offenbach 1975
Wolff, S., Produktion von Fürsorglichkeit, Bielefeld 1981